Fantasy & Horror
quid pro quo - Ingo Erbe

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"quid pro quo - Ingo Erbe"
Veröffentlicht am 29. Januar 2019, 138 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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quid pro quo - Ingo Erbe

quid pro quo - Ingo Erbe

Copyright by Ingo Erbe Sachsenring 150, 45279 Essen, Tel.: 0201 8068073

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Eskalade

das Unrecht

rächt sich selbst

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Wasser ist knapp in Evolos, die Bürger, die es sich leisten können, haben Zisternen errichtet, um den Regen aufzufangen. Dieser wird zu Trinkwasser mittels Chemikalien aufbereitet, die

zunächst an Ratten probiert werden. An den Experimenten verkrüppeln und verrecken Abertausende Ratten. Es soll aber auch

vorgekommen sein, was öffentlich bestritten wird, daß die Wirkung solcher reinigenden Mittel oder auch deren Schädlichkeit

an ausgesetzten Kindern und an Bettlern und allen möglichen

Mittellosen, die sich gegen Bezahlung für Tests hergeben, versucht worden

sein.

Evolos ist eigentlich keine Stadt, es ist eher Land mit etlichen

Millionen Einwohnern. Die begüterten Bürger leben in abgegrenzten und streng bewachten Bezirken, denn die Verbrechensrate ist hoch in Evolos, Raub, Brandstiftung, Mord und

Plünderungen sind alltäglich.

Evolos wird nach Süden hin von einem Deich umgeben. Sowohl auf der dem Meer zugewandten als auch auf der Krone

und auf der Binnenseite wuchern an vielen Stellen Pflanzen,

und dies obwohl er mit Steinen aufgeschüttet und die Wasserseite mit

einer Steinverstärkung verkleidet ist. Die Pflanzen

bohren sich regelrecht durch das Steinwerk und nicht allein

durch dessen Fugen. Weil hier nach Dafürhalten unnütz, sind

sie entfernt worden, sie wachsen aber nach, da sind die Steine

abgetragen und ist erkannt worden, daß die Wurzeln tief in den

lehmigen Sand des Deichkörpers reichen. Die Deicherbauer

scheuen sich davor, diese Sektionen abzutragen und finden sich

ab, daß fortan hier Pflanzen wild wachsen. Bei Sturmfluten hat

sich beobachten lassen, daß, so heftig die

Flut auch über den

Wall herfällt und an vielen seiner Stellen große Lücken reißt,

im Bereich des Pflanzenbewuchses der Deich nicht bricht.

Hier lebt und wirkt der Spielwarenhersteller Hagen von Ratzemar, dessen Erzeugnisse von Robotern auf dessen geräumigen

Besitz hergestellt werden. Wieder einmal eilt die Schreckensnachricht durch Evolos, daß eine Flut droht. Trotzdem schließt

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Hagen sich den hastenden mit Habseligkeiten bepackten Massen nicht an. Wozu flüchten, nach der Beruhigung der Elemente

an den heimischen Herd, oder daran, was von ihm übriggeblieben ist, zurückkehren und sich vorbereiten auf das nächste gar

noch heftigere Wüten der Naturgewalten?

Die vermeintlich drohende Flutkatastrophe ausgeschlagen fährt

Hagen zu früher Morgenstunde zum Meer. Düsterere Wolken

segeln im Oktoberhimmel, und weil die sommerlichen Temperaturen sich zu

verabschieden nicht anschicken, liegt eine ausgefallen drückende Schwüle über dem Land. Vom Meer her

dringt das Tosen der hochgehenden Wellen. Ein auf den Wellen

schwimmender weißer Sack fällt Hagen in den Blick. Da hat sicherlich wieder einmal ein Bürger seinen Müll im Meer abgeladen. Nähergekommen stellt sich das Anschwemmende als eine

Pflanze heraus, zunächst fährt Hagen weiter, hält dann aber

wohl eher unbewußt an, steigt aus und klettert den Deich hinunter. Angelangt zeigt sich ihm ein Plastiksack der sich in einer

Pflanze verfangen hat, und auf dem Sack

hockt eine Ratte. Was

ihn auch immer treibt, Hagen watet durchs Wasser und angelt

danach.

Der pure Schreck erfaßt ihn, und der löst sich nur allmählich

auf. Eine kleine Hand, fünf kleine Finger gleiten aus dem Sack.

Hagen biegt vorsichtig die Zweige der Pflanzen zur Seite. Er

will die auf dem Plastiksack sitzende Ratte, die einen Strohhalm in ihrem Mund trägt und eine auffällig weiß gefellte Nase

hat, vertreiben, sieht aber, daß der Strohhalm im Mund des Kindes steckt. Indem Hagen seine Hände nach dem Kind

ausstreckt, richtet die Ratte sich auf, setzt den Strohhalm ab und erweist ihm Drohgebärden. Erst, als eine der Kinderhände in die

seine gleitet, gibt sie ihre Abwehr auf, und zieht den Strohhalm

aus dem Mund des Kindes. Des Säuglings Hände tasten nach

der Ratte hin und schließen sich über deren Rücken. Mit

weißem Staub sind die Augenlider des Mädchens verklebt. Hagen versucht mit einem mit Speichel benetzten Taschentuch das

Mädchen von seinen verklebten Augenlidern zu befreien, es gelingt ihm auch, und zwei mattblaue Augen bieten

sich den sei3


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nen. Vorsichtig hebt er das Kind an, wobei die Pflanze an ihm

haften bleibt. Die nicht von ihm weichende Ratte auf ihm belassend, trägt er es zum Auto, legt es dort auf den Beifahrersitz,

und jetzt erst springt die Ratte von dessen Leib, bleibt aber wie

ein Wachhund in der Nähe, und ebenfalls gleitet die Pflanze zu

Boden. Als einziges, das er richtig zu tun glaubt, wickelt er das

immer noch stumm sich verhaltene Mädchen, so wie es ist, in

wärmende Decken ein, und schickt sich heimzufahren an. Die

Sonne aber steht dergestalt tief und leuchtet und spiegelt sich

im Meer solchermaßen intensiv, so sie ihn blendet, und Hagen

die Straße, trotz Sonnenblenden und getönter Scheiben vor Augen nicht sieht, auch sein Bordcomputer, der an sich durch

dicksten Nebel zu führen imstande ist, weist ihm keinen Weg.

Eine Armada dunkler Wolken segelt über

den Himmel, verfinstert die Sonne, und von einem Augenblick zum anderen ergießt sich ein Regenschauer in selten erlebter Mächtigkeit. Er

hält nicht lang an, trübe färbt sich der Himmel wieder. Hagen

startet den Wagen, der Computer meldet, verschiedene Straßen

seien überschwemmt, und er schlägt einen Umweg vor.

Wie ein spontan Handelnder vor einem brennenden Haus nicht

darüber nachsinnt, auf welche Weise der Brand habe entstehen

können, sondern diesen von Pragmatismus beseelt ohne Pumpen und Schläuche auch Spieleimerchenweise zu

löschen angeht, kommt Hagen seltsamerweise allein in den Sinn, den

Säugling, die Ratte und auch die Pflanze mit in sein Haus zu

nehmen.

Es stellt sich Ungewißheit darüber ein, ob er das Kind zuerst

wasche, oder zuerst füttere. Auch hier und jetzt leuchtet ihm

nicht warnend ein, daß das Kind erkrankt sein könnte, möglichenfalls so gar tödlich und virulent. Falls er sich nun fürs Füttern entschied, welche und womit sollte er ihm Nahrung anbieten? Der Kühlschrank bietet zwar reichlich feinstes Tatar, edelste Käsesorten, süßeste Marmeladen, Yoghurts,

Limonaden,

und einen Salatkopf, Eier und Milch, Obst aller Arten liegt im

Obstkorb, dem Säugling aber ein gut belegtes Brot, oder einen

bunten Obstteller zu reichen, verwirft er dann endgültig, ist

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doch schließlich ein Säug- und kein Beißling. Zunächst also

nichts Treffendes findend, geht er die

Reinigung in der Hoffnung an, ihm fiele der Ernährung wegen schon was ein. Dabei

erfährt er um die Stimme des Kindes, es gibt Geschrei, ein lautes fürwahr, und wildes Gezappel. Indes das Mädchen schreit,

bedenkt ihn die Ratte, so ist ihm, mit vorwurfsvollen Blicken,

und indem er sich einsetzt, erhascht ihn der gute Einfall, in den

Finger eines Gummihandschuhs mit einer Nadel ein Loch zu

stechen, diesen mit warmer Milch zu füllen, und auf diese Weise dem Kind Nahrung zu verabreichen. Er wickelt das Mädchen

in weiche, flauschige Handtücher, und unter seinem unaufhörlichen Gejammer geht Hagen mit der freien Hand daran, einen

Topf auf den Ofen zu stellen, Milch einzugießen und sie zu erwärmen. Um den Handschuh der Sterilisation wegen in heißem

Wasser zu kochen, und ihn anschließend zu durchstechen,

braucht er nun beide Hände und legt den kraftvoll sein Mißfallen äußernden Säugling in einem tiefen Sessel, und die Ratte

verfolgt alle seine Taten. Den gefüllten Handschuh, er schaut

aus wie ein Euter und enthält ungefähr

ein viertel Liter warme

Milch, was weiß er, wieviel ein Kind trinkt, über den Kopf des

Mädchens geschwenkt, bis der durchstochene Finger seine Lippen berührt, wird er zwischen ihnen schmatzend eingesogen.

Und dann trinkt das Mädchen, und die Ratte sieht es mit an. Es

vergeht eine geraume Zeit, bis es den Finger ausstößt, den Hagen dann der Ratte hinhält, und diese leckt begierig daran. Das

Mädchen, eingewickelt in Handtüchern, auf den Arm gehoben,

geht er mit ihm im Zimmer auf und ab, und klopft ihm sanft,

denn völlig unwissend ist er nicht, auf den Rücken, bis dann die

erlösende Antwort, die hinlänglich als >Bäuerchen< bekannt

ist, sich einstellt. Die gemeinsam mit dem Säugling gefundene

Pflanze setzt er in ein mit Erde aus seinem Park gefülltes Faß.

In dem neben der Befriedigung, etwas geleistet zu haben, neigt

Hagen dazu, die erste Hilfe der Ratte zu verdanken, und die Ungewißheit, ob die Ratte nun durch einen Strohhalm dem Säugling Atem, oder vorgekaute, oder verflüssigte Nahrung zugeführt hat, verleitet zu der Legende, die besagt, einst seien über

einen Schulhof zwei Ratten gegangen, die hätten beide je ein

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Ende eines einzigen Strohhalms in den Mündern gehabt. Der

Schuldiener sei herbeigekommen und habe die Ratten erschlagen wollen. Nachdem er die vorangehende mit einem Spaten

erschlagen habe, sei die zweite nicht fortgelaufen. An den weißen Augäpfeln

habe der Schuldiener erkannt, daß diese Ratte

blind gewesen sei, so habe sie die andere, die er erschlagen hatte, über den Schulhof führen wollen. Und zu dem gewinnt dem

Spielwarenhersteller die Pflanze die Vorstellung an ein rettendes Floß oder Boot für ein offenkundig ausgesetztes Kind. Und

bei dem Gedanken des Aussetzens trifft ihn plötzlich die immense Brutalität des vermuteten Geschehens; einem Kind, das

nichts anderes, als gekommen zu sein unternommen, das niemandem etwas angetan habe, ist zu sterben herzlos bestimmt

worden, so ein schönes Mädchen, solch ein vollkommener

Mensch, liegt vor ihm in flauschige Badetücher gewickelt, hat

nicht einmal Kleidung, kein Namen schmückt es, ist nicht geküßt, nicht liebkost, ist fortgeworfen worden.

Trotz eines befriedigenden Ergebnisses, bleibt und berührt ihn

plötzlich die Frage nach der Gesundheit des Säuglings; immerhin hat das Mädchen in den Gewalten der Wetter gelegen und

unbekannt ist, wie lange. Also rüstet Hagen sich, den Fachmann

zu konsultieren, den Strohhalm zu greifen, der einer Ratte als

Maßnahme gedient hat, und weil die Ratte nicht von dem Säugling weicht, packt er beide in eine große mit Handtüchern ausgelegte Tasche. Die vom Meer her mitgebrachte Pflanze setzt er

in einen Blumenkasten und macht sich auf den Weg. Ihm ist

durchaus bewußt, daß er sich der Kindesentführung verdächtigt

macht, was ihn nicht hindert.

In der Auffahrt zur Kinderklinik von Evolos, auf einer Rampe,

sind Arbeiter damit beschäftigt, weiße Säcke auf Lastkraftwagen zu verladen. Daß wohl Wäsche in ihnen sei, vermutet Hagen, indem er langsam an der Rampe vorbeifährt und sich fragt,

was es ihn angehe, es ist wohl die Ratte, die auf dem Bündel

aus Handtüchern, in dem das Mädchen still liegt, plötzlich auf

ihre Hinterbeine sich erhebt und eine drohende Haltung einnimmt. Es gebe keinen Grund zur Furcht, redet Hagen auf sie

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ein. Die Ratte setzt sich wieder, legt sich dann auf das Mädchen, streckt Arme und

Beine von sich, als wollte sie den Säugling umarmen, und sie vermittelt das Bild einer Leibwächterin.

Der Anblick Geschehens ist derart metaphorisch, daß Hagen

den Wagen anhält, zuschaut, seine Hand vorsichtig nach der

Ratte ausstreckt, ihren Rücken streichelt, was sie sich gefallen

läßt und worauf sie ihren langen Schwanz fest um sein Handgelenk schlingt. Er sieht hinüber zu den weiße Säcke verladenden

Männern, sie werfen die Säcke einander zu, und jedesmal, fällt

einer auf die Ladefläche des Lastkraftwagens, zuckt er empfindlich

ineinander.

In der Kinderklinik schlägt ihm ein beißender Geruch von Karbol, entgegen, Unrat schwimmt in den Fluren, und Wasserpfützen füllen den unebenen Boden. Nicht gerade Vertrauen verbreitendes Personal, das mit der ersten und notdürftigen Behandlung von Kinderbanden seine Mühen hat, verkündet seinen

Unmut, es würden täglich Säuglinge hierher gebracht, er solle

ihn in den Flur legen, man kümmere sich darum, sobald jemand

Zeit dafür habe. Es ist wohl unsinnig, jetzt und hier mit der Erwähnung von grundsätzlichen Verpflichtungen etwas

bewegen

zu wollen, hier hilft nur Geld, und nachdem Hagen ein paar

Banknoten vorgewiesen hat, wird er an eine Kapazität des Hauses verwiesen. So schwer sie auch verletzt und blutüberströmt

sind, die Mitglieder der sich hauptsächlich mit Straßenraub und

Mord befassenden Kinderbanden, kräftig genug sind sie, ihm

>Scheißkapitalist< Bierflaschen schwenkend nachzurufen.

Der Arzt, dem er zugewiesen wird, er läuft in Gummistiefeln

umher und flucht des kürzlich niedergegangenen Regens und

seiner Hinterlassenschaften wegen, die wohl durch undichte

Fenster in den Raum gedrungen sind. Als Hagen die Tücher

auseinander schlägt, vernimmt er ein leises Knistern, und kleine

Funken sprühen aus den Tüchern, als hätten sie sich statisch

aufgeladen. Der Arzt untersucht das Mädchen eingehend, worüber es gerade nicht erfreut sich verhält, um die Ratte gibt er

nichts, er hebt den Säugling in die Höhe, tastet Kopf, Körper

und Gliedmaßen ab, mißt die Körpertemperatur, öffnet ihm den

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Mund, leuchtet mit einer Lampe hinein, wie auch in dessen Augen und Ohren, und inspiziert ebenfalls den Unterleib des Mädchens sorgfältig, dann säubert er ihm den Nabel und verschließt

ihn mit Salben und Binden. Er könne nichts Außerordentliches

feststellen, diagnostiziert er, er würde es röntgen, hätte der Regen die elektrischen Anlagen nicht zerstört, also könne er es nur

abtasten. Darüber vergeht nun eine

geraume Zeit, bis der Arzt

verkündet, es sei nichts gebrochen, er solle aber wieder kommen, sobald die Anlage hergerichtet sei, vorausgesetzt, die angekündigte Flut schwemmte nicht alles fort. Hinsichtlich der

Ernährung des Säuglings klärt er auf, daß das reife Neugeborene mit einer hepatischen Glykogenreserve ausgestattet sei, die

eine ausreichende kalorische Versorgung für Stunden gewährleiste. Dann müßte der Stoffwechsel auf Lipolyse und Glukoneogenese umschalten, bis das enterale Nahrungsangebot bedarfsdeckend sei. Da das Gehirn des Neugeborenen seinen

Energiebedarf zum Teil auch durch Verbrennung von Ketokörpern decken könnte, bestünde bei Hypoglykämie nicht dieselbe

Gefahr von Funktionsstörungen oder Hirnschädigungen wie im

späteren Alter. Das ist deutlich, Hagen sehr klar, er hat jedes

Wort nicht verstanden. Der Arzt spricht dann noch von postnatalem Gewichtsverlust und postnataler Gewichtszunahme, von

Dysmaturität, Hypotrophie und von Exsikkationsfieber. Er verfaßt einen Ernährungsplan, der einzuhalten sei, empfiehlt er mit

Nachdruck, Verdünnung der Milch mit

Wasser im Verhältnis

eins zu eins, Zusatz von vier Prozent Kochzucker, zwei Prozent

Maismehl, einskommafünf Prozent Keimöl, fünf bis sechs

Mahlzeiten pro Tag; und Hagen hat pure Milch verwendet, nun

denn, noch ist sie drin im Kind, belebt es, oder rumort in seinen

zarten Eingeweiden, vermutlich ist es gar betrunken des schieren Unverdünnten halber. Ihm werden noch ein paar Ratschläge

erteilt und nahe gelegt, am nächsten Tag wieder zu kommen,

und falls etwas Unerwartetes eintrete, sollte er anrufen, vorausgesetzt, das

Telefon funktioniere. Trotz seiner reichlichen Geldzuwendung ereilt ihn eine kräftige Rechnung. Erleichtert und

leidlich verwirrt fährt er mit seiner auf Lipolyse und Glukoneogenese Umzuschaltenden heim, wundert sich, daß der Arzt ihn

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nicht gefragt hat, ob es sein Kind sei, oder woher er es habe,

falls nicht.

Er tauft es, weil es aus dem Meer stammt, Melusina. Die Melusinan sind mehr Tier als Mensch, sie sind keine Seelen, keine

Wesen, was nicht stimmen kann, denn wären Tiere wirklich

seelenlos, wären sie gar nicht da, und wären die Melusinan, ihres Fischschwanzes wegen seelenlos, hätten sie nicht nach dem

gesucht, von dem sie nicht wissen konnten, was es ist die Liebe. Oder hat Hagen hier etwas in den Sagen überlesen?

Seine Gedanken hierzu, der Wille einzuschreiten, wirken Kind,

Tier und Pflanze auf ihn ein? Übernächtigt, aber nicht müde,

geht Hagen den neuen Tag an. Es mangelt an fundamentaler

Grundausstattung, so trägt er Melusina auf Armen, zu vergleichen mit den Tieren, die ihre Kinder zärtlich mit den Mündern

tragen, oder, so bald diese greifen können, auf Rücken, oder an

Bäuchen hängend, stets bei sich haben. Er legt in einem Geschäft gegen die Einsprüche der Verkäuferin Melusina in die

Kinderwagen und wartet auf ihre Reaktion. In jedem erhebt sie

Geschrei, streckt ihm ihre kleinen Arme

entgegen, womit diese

Kinderwagen als Ersatz für die behutsame Tragfähigkeit seiner

Arme ausscheiden. Ihr Widerspruch legt sich erst dann ein wenig, als Hagen seine Arme in die Kinderwagen sinken läßt, sie

klammert sich aber derart heftig an seine Hände, so daß er glauben muß, er habe sie in einen Pfuhl der Angst gelegt. Nachdem

er Melusina aus mittlerweile etlichen Kinderwagen herausgehoben hat, entdeckt er auf ihren nackten Armen kleine rote Punkte

und erschrickt darüber sehr, wenngleich diese, als sie in seinem

Arm liegt, und kein weiterer Versuch von

ihm unternommen

wird, und die Ratte aus seiner Jackentasche auf ihre Brust geklettert ist, geschwind verblassen. Da in den Geschäften ihr Gefallendes nicht zu finden ist, beschließt Hagen, in seiner Spielwarenfabrik Kinderwagen, Wiegen und alles, woran Melusina

bedarf, von den Robotern herstellen zu lassen. „Wollen Sie nun

einen kaufen?“ fragt die Verkäuferin. Er antwortet abwesend,

weder Ausstattung noch Form dieser Kinderwagen verstünden

sich homogen mit seines Kindes philosophischer Maxime, son9


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dern konträr zu dieser, und zwar im Allgemeinen wie im Besonderen. Das versteht sie nicht, was Hagen nicht versteht, einfacher geht es doch wirklich nicht.

Nun ist zu befürchten, daß sich bei der Beschaffung evolonischer Babykleidung ähnlicher Widerspruch einstellt. Doch gibt

es dafür eine Alternative, nämlich eine Reinigung, die auch eine

kleine Kleiderfertigung betreibt. Hagen

kann die Inhaberin

nicht vergessen. Eine alte Dame mit total zerknittertem Gesicht,

die bei seinem ersten Besuch darauf hinwies, er möge ihre Bügelei nicht nach den Falten in ihrem Gesicht beurteilen. Darüber lachten sie beide seinerzeit. Zu ihr geht er also und findet

dort auch alles Notwendige, das dann von Melusina nicht bemängelt wird.

Die Ratte erhebt sich und nähert sich Hagen langsam, vor seinen Füßen hält sie inne und verrät, an seinem Hosenbein hochkletterten zu wollen, und weil er nicht abweisend reagiert, vollzieht sie dies dann auch, bis hinauf auf seine Schulter. Ratten

genießen kein Ansehen in Evolos. Rattenjäger haben die Aufgabe, einerseits Ratten aus der Natur für die Tierversuchsanstalten

zu beschaffen, andererseits sollen sie die in Kanälen, Kellern,

Ruinen und Armenvierteln lebenden Tiere töten. Die Jäger sind

Meister der Grausamkeit, sie töten die Tiere auf eine Weise, die

den Opfern ein stunden- manchmal tagelanges qualvolles Sterben beschert. Sie schneiden den Tieren die Beine, die Schwänze

ab, verbrennen ihnen die Haut, stechen ihnen die Augen aus,

oder lassen sie in Kesseln, aus denen sie

nicht herauskönnen,

schwimmen, bis sie ertrinken. Niemand erhebt sich dagegen,

nicht einmal die sogenannten Tierschutzvereine. Immerhin hat

dieses Tier angeblich kraft der Pest Viermillionen Menschen

auf dem Gewissen.

Hagen grübelt, vielleicht wird den Tieren ein Makel zugesprochen, damit sie rücksichtslos gequält und getötet werden können, und bei Melusinas Aussetzung verhält sich das nicht anders, und bei ihrer Ratte auch nicht, obgleich sie einem Kind

beigestanden hat, worin nach herkömmlicher Ansicht kein see10


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lisches Handeln vorhanden ist, wie in den Pflanzen auch nicht,

die es verstehen, den Frühling zu spüren, ohne Augen zu sehen,

ihn zum Wachsen zum Anlaß nehmen, und den Herbst zu fühlen, indem sie ihr Leben vollenden, um wieder zu erblühen, im

nächsten Frühling.

Er trennt sich nur allmählich von seinen Betrachtungen, und

gibt sie lediglich auf, weil der Säugling

wacher Augen daliegt,

auf dicken Decken und Kissen auf dem Fußboden. Das Mädchen findet nicht zum Schlaf, wenngleich Geschöpfe seines Alters, er schätzt es auf ein paar Tage, vorzugsweise recht viel

auch tagsüber schlafen.

Die Ratte nennt Hagen dem Bild der vermeintlichen Gemeinschaft gehorchend Materculina1. Die Zeit schreitet gegen

Abend, er ist wohl eingenickt gewesen, Melusina liegt in neu

erworbener Kleidung auf seiner Brust, sie gähnt herzhaft und

spielt mit ihren Händen. Daß er sie auf seiner Brust gebettet hat,

dessen ist er sich nicht sicher, daß sie

sich selbst dorthin begeben hat, ist wohl auszuschließen. Der Spielzeugfabrikant beschließt, sie wohl doch, im letzten Moment seines Wachseins

selbst auf seine Brust gelegt zu haben.

Die Elemente strafen die Meteorologen Lügen, und die Flut

bleibt aus, was den Gedanken anzustellen ermutigt, das Wasser

hätte, weil jemand ein Kind ins Meer geworfen hat, mit Rache

gedroht, und sich nun, weil es gerettet worden ist, dem Resultat

seiner Wut enthalten. Hagen hat es aber in einer Pflanze gefunden, die dem Säugling als Floß gedient hat, sie entfacht alsbald

ein reges Wachstum, so daß sie in einen großen Blumenkübel

umgepflanzt wird. Da es ihm nun zu erfahren darum geht, um

was für eine Pflanze es sich handelt, wird sie fotografiert, das

Foto den Computern eingegeben, und diese suchen nun, finden

heraus, daß es sich um eine Art der Magnolien handelt. Es gibt

um achtzig Arten der Magnolie, zu welcher Kategorie die gefundene Pflanze zählt, finden die Computer keine Übereinstimmung, lediglich läßt sich herausfinden, daß sie einer Magnolia

grandiflora ähnelt.

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Hagen sucht den Arzt abermals auf, die Schäden in der Klinik

sind behoben. Ohne ihm die befürchtete Frage zu stellen, verfaßt er eine Geburtsurkunde, legt das Geburtsdatum um vier

Tage zurück und trägt den Namen Melusina von Ratzemar und

als Eltern Hagen und Materculina von Ratzemar ein. Der Vater

beläßt es dabei, zudem an den Kissen, in die er Melusina zurücklegt, abermals

schwache Funken knistern. Nun ist sie auch

rechtlich sein, und in dieser Freude verabschiedet er sich.

Eines Tages erscheint ein Geistlicher in seinem Haus, er habe

gehört, ein Kind sei geboren, und es gehöre sich, daß ein jedes

Kind dem einzigen Gott, den er verträte, geweiht würde, so erklärt er sein Erscheinen. Was es denn dafür außer Weihrauch,

Gebeten und die Gunst, Kirchensteuer bezahlen zu dürfen, bekäme, fragt Hagen ihn, und der Geistliche erzählt ihm von Gottes himmlischen Reich, in dem alle gleich glücklich ewiges Leben lebten.

Dem hält Hagen entgegen, daß Melusina irdisches

Glück über möglichst lange Zeit zunächst bevorzuge, er möge

wieder kommen, wenn sie Greisin sei, auch so das nichts nutzen würde, weil sie, falls überhaupt, weder jetzt noch später um

einen Platz im Himmelreich sich bemühen würde, um unter diesen irdischen Gleichen zu sein. Sie sei schließlich eine von Ratzemar, und diese hätten, sofern sie eines Himmels bedürften,

ihren eigenen elitären Luxushimmel, und nicht einen, indem

sich Hinz und Kunz herumtrieben. Seine

Formulierung gefällt

ihm, dem Geistlichen nicht, obgleich er sicherlich auch einen

anderen Himmelsplatz als ein Bettler für sich vorgesehen hat.

Der Gottesvertreter nennt ihn einen arroganten Spötter, spricht

von der Gesellschaft, von Sitte und Moral, von Verantwortungen, die ein jener tragen müsse, von Gemeinschaften, die auch

zu dem Wohl seiner Spielwarenfabrik beitrügen. Das stellt eine

Drohung dar, so daß Hagen ihn auffordert, sein Haus zu verlassen.

Tage darauf flattern ihm Annullierungen von Aufträgen ins

Haus, darunter auch für jene Bittbriefe, in denen es um Spielware für evolonische Kinderheime geht, die von Ratzemar seit

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Jahren beliefert, ohne dafür etwas zu berechnen, und nun kündigt die Kirche dieses Entgegenkommen auf. Hagen nimmt es

mit Gleichmut hin, und jene, die sich als seine Geschäftsfreunde ausgeben, aber

womöglich nichts anderes als einen Skandal

heraufbeschwören wollen, um ihre Umsätze auf seine Kosten

steigern zu können, raten ihm, gegen die Annullierungen anzugehen. Er tut es nicht, weil er nicht die geringste Lust dazu verspürt und findet, daß seine Spielware eigentlich zu schade ist,

um an solche Leute verkauft oder verschenkt zu werden; damit

trifft es diese Leute zwar nicht, sondern die Kinder in den Heimen, aber haben bekanntlich immer die Dritten das Nachsehen,

wenn zwei sich streiten. Er verfaßt an alle Rücktrittsgewillten

einen kurzen Brief:

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit Bedauern haben wir die Annullierung Ihres Auftrags aufgenommen. Obgleich uns hier heraus ein Anspruch auf Schadensersatz zusteht, nehmen wir diese, ohne unseren Anspruch

geltend zu machen, an.

Mit freundlichen Grüßen

Von Ratzemarsche Spielwarenfabrik

Das hat Hagen nun davon. Ob Melusina selbst dieses Recht auf

Selbstbestimmung eingeklagt hätte, oder ob ihr völlig egal sein

würde, welcher Religionsgemeinschaft sie zugeordnet wird,

entzieht sich seinem Wissen. Er hat ein

Kind gefunden und

neigt zu den Rattenmüttern, die ihre Kinder niemals aussetzten.

Sie können zwar mutterlos werden, wenn eine Mutter von der

Jagd nicht zurückkehrt. Dann aber die anderen Mütter, gleich,

ob sie eigene Kinder haben, oder nicht, diese Waisen annehmen, und diese bei ihnen aufwachsen. Eigentlich hat er wie eine

Rattenmutter reagiert, wenn auch unter anderer Voraussetzung.

Melusina darf ihm nicht leid tun wollen, er mag sie nicht bedauern müssen, sondern soll sie des schrecklichen Grundes zu

entheben anstreben, ihr eine völlig neue Identität zu verleihen

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sich bemühen. Er scheut sich hinzunehmen nicht, daß dann als

ihre wirkliche Mutter nur Materculina bleibt.

Es bleibt aber nicht bei dem kirchlichen Argwohn, an einem

Wochenende vermißt Hagen die

Werbeanzeige der von Ratzemarschen Spielwarenfabrik in Evolos auflagenstärksten Zeitung. Sein Anruf ergibt, sie sei vergessen worden, ein Lehrling

trüge Schuld daran; am Montag darauf steht ein den Tränen naher Junge an seiner Tür, er sei der Lehrling, der die Anzeige

vergessen habe, und sein Arbeitgeber habe ihm, falls die Zeitung belangt, und seine Entschuldigung nicht angenommen

würde, ihn zu entlassen gedroht. Er könne deswegen nicht entlassen werden, antwortet Hagen, weil er Lehrling sei, und sein

Arbeitgeber die Verantwortung für das,

das er tue, oder unterlasse, trüge. Außerdem würde er ihm seine Tränen nicht abnehmen, man hätte im Verlag weniger einen Dummen, mehr einen

guten Schauspieler gesucht und gefunden, er möge sich schämen, sich dafür herzugeben, er habe nichts zu befürchten, es sei

denn, er trüge seine verlogene Entschuldigung vor. Dennoch

ruft Hagen den Verleger an, spricht ihm seine Anerkennung für

eine solche beispiellose Feigheit aus. Der Bäckerjunge bringt

morgens keine Brötchen mehr, der Briefbote stellt die Post verspätet zu. Die Gesellschaft hätte ihn ärgern können,

wenn er

über diesen dummen Trotz, mit dem sich einige selbst schadeten, nicht hätte lachen müssen. Er hat ein Kind gerettet, das finden die Bürger gut, er hat es bei sich aufgenommen, das finden

sie schlecht. Er hätte das Kind bei der nächsten Polizeiwache

abgeben sollen, dann wäre er ein Held gewesen.

Melusina hat noch nichts angerichtet, und doch prägt sie bereits

ein Makel, und Hagen hebt diesen obendrein hervor, indem er

sie nicht der Gesellschaft einverleibt, nicht der kirchlichen

Willkür unterordnet. Hier ist etwas

geschehen, das nicht ins

Bild der Gewohnheit paßt, ohne offensichtliche Mitwirkung einer Frau ist dem Spielwarenhersteller plötzlich ein Kind zuteil

geworden, und dieser verrät niemandem, auf welche Weise er

zu ihm gelangt ist. Hat er es in seiner Werkstatt hergestellt wie

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einst der Meister Gepetto seinen Pinocchio? Hat er es gekauft,

gestohlen, entführt?

Auch an den folgenden Tagen stellt sich die befürchtete Flut

nicht ein. Für Hagen hat eine Zeit emsigen Enthusiasmus begonnen, an dem er von Tag zu Tag mehr Freude gewinnt. Hilfreich dabei sind ihm seine Computer, die eigentlich die Aufgabe von wachsamen Müttern übernehmen. Für alles, was die Ernährung und Pflege eines Mädchens bis hin zum Zahnen anbelangt, hat er Software, Demonstrationen und Animationen, Programme über Wachstum und Entwicklung, Anatomie und

Körperfunktionen in Massen beschafft; eine Uhr über Wach- und

Schlafzeiten ist installiert, die ihn mit dem Klang einer Spieluhr

an seine Pflichten erinnert. Mögliche Erkrankungen sind ebenso

gespeichert, wie erste Hilfen für solche Fälle, und sicher ist er

sich nie, für alle Geschehnisse gerüstet zu sein, so ereilen die

Softwarehändler von Evolos zahllose Anfragen, was es zum

Thema Kind an Informationen noch gibt. Die Händler haben zu

vermuten allen Anlaß, er eröffne einen Kindergarten für Säuglinge. Ähnlich der Checkliste, wie ein Ingenieur sie vor

dem

Start eines Flugzeuges durchgeht, fragen die Computer nach

seiner Eingabe Punkt für Punkt der Pflegeliste ab. Sie knüpfen

logische Querverbindungen zu verwandten Themen, zitieren

und vergleichen Erfahrungen und Therapien berühmter Ärzte,

selbst die jener aus vorchristlicher Zeit, und auch jene der Kräuterweiber, und auch solche aus den Hexenküchen, ferner hätte

Hagen sich nicht gescheut, die der Medizinmänner zu berücksichtigen, hätte er sie bekommen können.

Die Magnolie vom Blumenkübel in den

Park verpflanzt wächst

zu einem Busch und bald zu einem Bäumchen heran, wobei einige ihrer Zweige ungewöhnlich wie die der Weiden gegen den

Boden sich senken, und darüber hinaus ebenfalls atypisch in

diesem verwurzeln, wuchernde Ranken bilden, und im Laufe

von wenigen Tagen an der sein Anwesen umgebenden Mauer

emporklettern.

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Melusina besitzt mittlerweile schon einen umfangreichen Fuhrpark, es gibt für jeden Monat zwei Kinderwagen, einen sportlichen und einen geschlossenen eleganten. Sie alle, aus edelsten

Hölzern und Metallen gefertigt, gummibereift, mit rosa Samt

bespannt, die Verdecke, aus feinsten rosa Tuch gewoben und

innen mit weißer Seide und Kaschmir verkleidet, und die Bettwäsche darin, mit goldgesticktem Monogramm, mit Daunen gefüllt, machen schon etwas her, fallen

auf, und geben sicherlich

Auskunft über den Stolz eines verzückten Vaters.

Eines Nachts, wieder einmal bei den Computern, Melusina

schlummert fest, gerade darangehend, seine Wissenslücken hinsichtlich des Alters der Nagetiere zu schließen, stößt Hagen

über den Begriff Rodentia auf die Darstellung und die Beschreibung eines Magnolienbaums. Materculina weilt bei ihm, sie

ruht ihren Kopf auf der Tastatur aus, und ihre nachtschwarzen

Augen verfolgen unentwegt die Tätigkeit seiner Finger, wobei

sie diese hin und wieder mit ihren Händen anstößt, denn will sie

mit ihm spielen. Für ein Spiel unterbricht er mittlerweile alles,

sieht er in ihm nicht nur einen Zeitvertreib, sondern einen aus

der Schöpfung eskalierenden Trieb, eine Impulse herstellende

Beschäftigung, eine Leistung demnach, die auch das ethische

Produkt erbringt. Also spielt er mit Materculina, zieht einen Faden über den Boden, und obwohl sie ihn längst entdeckt hat,

versteckt sie sich, nur ihr hastig hin- und herschlängelnder

Schwanz lugt hervor, und dann springt

sie auf den Faden zu,

legt ihre Hände darauf, somit er sich spannt, ihren Händen entgleitet, und das Spiel neu beginnt, und als er sich nach mehrmaligem Fangen spannt, reißt er, schnellt auf sie zu und wickelt

sich um ihre Arme. Und nun vollzieht sie ein wildes Gehoppse

und Strampeln, wälzt sich auf dem Rücken, steht manchmal

Kopf, und vollführt vor seinen Augen das schöne Schauspiel

animalischer Eleganz, mal dicht über dem Boden schleichend,

dann wieder den mittlerweile zu einem Knäuel sich verfangen

habenden Faden mit dem Mund in die

Höhe werfend, sich in ihrer attraktiv schlanken Größe geschmeidig regelrecht in die Höhe schraubend, nach ihm springend, sich wie eine Kugel zusammenrollend ihn fangend, und alle ihre harmonischen Gesten mit

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ihrem langen Schwanz steuernd, leistet sie einen Augenschmaus und sich selbst wohl die Erfahrung, daß so ein Faden

seine ihre Kraft verbrauchende Ausdauer

innehat. Ist die ihre

erschöpft, beendet sie ihr Spiel, klettert an Hagen herauf, und

fordert ihren berechtigen Anspruch ein, gekrault zu werden; bei

wem auch immer, ein Erfolgserlebnis muß sein! Und so was hat

nun die Pest gebracht und ist, wenn überhaupt, dann nur für Vivisektionen nützlich, jene, die so denken, sind bar jedes ethischen Hauches, unwert, vom Tier abzustammen!

In Evolos steigt oft der Ort, an dem Hagen Melusina gefunden

hat, in ihm herauf, und obgleich ein in einer Magnolie bei einer

Ratte ruhender Säugling ein schönes Bild

ergab, betrübt es ihn,

wandert er dagegen mit Melusina und Materculina durch Wälder und Auen, tritt dieser Kummer nicht, oder nur selten ein;

also rafft er sich auf, häufig mit beiden zu wandern. Dazu hat

er, weil auf Waldwegen und Trampelpfaden mit einem Kinderwagen nicht gut zu fahren ist, eine Kiepe aus geflochtenen Weidenhölzern anfertigen lassen, die innen weich gepolstert ist, und

ein Sonnenschirm kann aufgesteckt werden, darunter Melusina

wach sitzt, oder schlafend liegt. Für die Stunden ihres Wachseins aber weilt sie

auch in einem Stoffsitz, den Hagen sich sowohl über die Brust, wie über den Rücken binden kann. Um die

Taille trägt er einen breiten Gürtel, solch einen, wie schießwütige Cowboys welche zu tragen pflegen, doch stecken in seinem

keine Patronen, sondern Fläschchen in allen Größen, Puderdosen, Salben, zusammen gedrehte Windeln, eben all das, worum

Melusina bedarf, aber auch ein Beutel mit Nüssen und Früchten

für Materculina fehlt niemals; falls ihn, so gerüstet, einmal ein

Cowboy zum Duell gefordert hätte, hätte Hagen ihn lediglich

mit blitzschnell aus dem Gürtel gezogenen und mit Maisbrei

geladenen Fläschchen erschießen, oder ihn mit Windeln fesseln

und knebeln können. Er sieht gewiß recht abenteuerlich aus,

aber das Eintreffen dieses Mädchens in seinem Leben fordert,

obgleich es schlimme Kunde verbreitet, oder vielleicht auch gerade deswegen, den Schalk leichten Gemüts geradezu heraus.

Zumeist brechen sie in aller Früh auf, über viele Stunden wandert er, trägt Melusina über viele Kilometer in seinen Armen,

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dort ist sie ihm am liebsten, weil sie ihm am Nahesten ist, und

er steigt und klettert über steile Pfade und fragt sich dabei, wieso er Steigungen ebenen Wegen den Vorzug gibt; es treibt ihn

wohl eine Neigung, ein Wille aufzusteigen, Den ganzen Tag

und die halbe Nacht über wandert Hagen, fühlt sich losgelöst

und verirrt sich. Da steht er nun in wildem Gestrüpp, und weiß

nicht, wie er hier her gekommen ist.

Unerwartetes fällt auf, doch wird ihm, soweit gutmütig, oder an

Belang minder zumeist nicht mehr als Überraschung geschenkt,

erst in seiner Wiederholung empfiehlt es Beachtung. Einerseits

an eine Selbsttäuschung glaubend, andererseits Herr seines Gedächtnisses, nimmt Hagen ein Phänomen auf; Melusinas Wiege, zuweilen in der Nähe der Computer, zur Nachtzeit grundsätzlich unter dem halbgeöffneten zum Park reichenden Fenster, steht nun, zum dritten Mal an einem Morgen bei den Computern, und in den folgenden Tagen stellt sich Gleiches ein. Es

existiert gewiß kein Gefälle im Zimmerboden, der ein Zurückrollen der Wiege hat bewirken können, trotzdem, Morgen für

Morgen steht sie bei den Computern; auch Materculina hat sie

wohl kaum dort hinzu schieben vermocht. Wer erfahren will,

wie etwas ihm Unverständliches vor sich geht, dem bleibt, als

zu beobachten nichts anderes. Aber weder in lauernder Konzentration, noch in Beschwörung eines >Sesam-öffne-dich! <, sondern ohne sein Dazutun glückt zu sehr später Nacht zu erfahren,

oder erfahren zu meinen, daß die Wiege vom Fenster her langsam zu Hagen

hinüber rollt und bei ihm anhält. Er erhebt sich,

beugt sich über Melusinas Nachtlager, schiebt den seidenen

Baldachin ein wenig beiseite, Materculina steht aufrecht in den

Kissen, und Melusinas Augen sind offen, dennoch scheint sie

nicht wach zu sein, eher schläft sie mit offenen Augen. Ebenfalls fallen ihm wieder diese kleinen schwachen Funken, wie er

sie in der Klinik beobachtet hat, auf. Sie gehen diesmal von ihren Händen hin zu Materculina aus.

Hagen geht davon aus, daß diese Eigenschaft als Telekinese bekannt, nicht

ererbt ist, sondern durch die Gewalt der Aussetzung entstanden sein kann. Eine Selbstrettung, die über Wasser

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gehalten, die zum Strand zu gelangen geführt hat. Ein Aufruf,

>nein, ich lasse mich nicht töten! <. Die Tötung eines Säuglings

ist nicht nur ein Verbrechen, sondern ist sie irrational, widernatürlich, ein Akt wider die Schöpfung. Gleich zu setzen

ist dieses

Aufbegehren mit der ebenso aus der Not heraus geborenen

Kraft der Ratten, sich nicht endgültig ausrotten zu lassen. Wenn

also diese Kraft in Melusina wirkt, dann wird sie auch anderer

Gedanken lesen und ihre eigenen übertragen, Einfluß auf Fremde können, so vermutet Hagen und ahnt nicht, wie richtig er

liegt. Doch ist er sich auch der Gefahr bewußt, in der Melusina

schwebt, ihre Fähigkeit wird erkannt und ausgenutzt werden

können, wenn andere ihrer gewahr werden und dies zu verhindern wird auch

seine Aufgabe sein, und dabei ist ihm egal, ob

diese Fähigkeiten nun existieren oder nicht, denn fragt er auch

nicht, ob es Gott gibt oder nicht, weil für ihn das Unbewiesene,

wahrscheinlich niemals Beweisbare nicht bedeutet, daß es nicht

existiert, sagt Goethe doch, daß der Mensch das Erforschliche

erforschen und das Unerforschliche ruhig verehren mag.

Eines Tages stellt er fest, daß, nachdem er Melusina, die nackt

auf seiner Brust gelegen, eingekleidet hat, kleine Petechien auf

seiner Haut zurückbleiben. Sie vergehen

nach kurzer Zeit, verbreiten während dessen jedoch einen lästigen Juckreiz. Da ihr

Herkommen zunächst als nicht vorzustellen sich ergibt, Vermutungen dennoch reifen, wiederholt er den Hautkontakt, und die

Petechien blühen auf. Wie hypothetisch auch immer, liegt anzunehmen nun nahe, daß Melusina etwas verbreitet, worauf er

wahrscheinlich in der Weise einer Allergie reagiert, sein Immunsystem ihn womöglich warnt, was ihm Bestürzung bereitet,

denn, falls dieses zutrifft, was ist an Melusina, das dieser Warnung bedarf, was an ihm? Der Arzt in der Kinderklinik

deutet

an, es könne an dem Puder, oder an den Salben liegen, mit denen Melusinas Haut gepflegt wird, eine, oder gar mehrere Ingredienzien, die diesen Mitteln beigefügt seien, nicht für ihn

verträglich seien. Daheim sucht Hagen nach den Inhaltsstoffen

der Salben und Puder und gerät dabei an Talk, Magnesiumcarbonat, Zinkoxid und Parfüm. Sie in die Computer eingegeben

erfaßt ihn der Schreck; alle Bestandteile sind an Ratten auspro19


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biert worden, und werden noch an ihnen ausprobiert. Sie werden ihnen unter anderem in die Augen gesprüht, und die Laboranten testen, ob die Ratten erblinden, oder nicht. Die Ratten erblinden nicht nur, ihre Augen lösen sich regelrecht auf. Man

mischt die Chemikalien auch ihrem Futter zu, worüber die Ratten Magen- und Darmgeschwüre bekommen, an denen sie

grausam dahinzusiechen haben, damit wie lange sie zu leiden

imstande sind ermittelt werden kann. Die Versuche werden so

lange fortgeführt, bis nach einer aberzigsten Mischung der Pulver solche Körperbeschädigungen nicht mehr eintreten und die

Bildung von Geschwüren ausbleibt. Doch das kann durchaus

eine Täuschung sein, indem die Ratten sich auf die Gifte eingestellt haben. Der Schreck gleitet in Entrüstung ab, und neben

der Tastatur steht Materculina auf ihren Hinterbeinen, sie

schnuppert, wie sie es immer tut, und ihre Barthaare zittern, und

kommt der Eindruck auf, als habe sie mitgelesen. Hagen umschließt sie mit seiner Hand, hebt sie hoch und küßt ihre

schnuppernde Nase. Die Verwunderung bleibt, weshalb Salben

und Puder Melusina nicht schaden, und der Gedanke dringt vor,

daß die Ratten die aus ihrem Erlernen hervorgegangene Erkenntnisse und mit ihrem Erhaltungswillen umgewandelt haben.

Nun hat Hagen keine Pflegemittel mehr, denen er Vertrauen

schenkt, entsinnt sich aber seiner einstigen Eingaben in die

Computer, darunter die Kenntnisse der Kräuterweiber gesammelt sind und erinnert sich plötzlich all dessen, das er im Zusammenhang mit Ratten, und damit auch mit der Pest angesammelt hat; einen

Spazierstock wie Karl I. ihn während seiner Gefangenschaft auf der Insel Wight im Jahre 1647 bei sich geführt

haben soll, und der seinem Vorbild, dem Stock der Mediziner

des Mittelalters nachempfunden ist, ein Amulett, das eine ägyptische, aus Hyazinth gefertigte Mausgöttin darstellt, die Figur

ist hohl, und der Kopf kann wie ein Korken gezogen werden, in

ihr befindet sich ein wenig Lavendel, dem >Eau admirable<, in

einem nachempfundenen an einen Rosenkranz gebundenen Bisamapfel, dem Ursprung des Kölnisch Wasser, einer Arznei, die

im 17. Jahrhundert gegen die Pest helfen sollte, ob nun ver20


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dünnt getrunken oder aufgetragen auf die Haut oder daran gerochen. Lavendel und das >Eau admirable<, gibt Hagen den

Computern ein, fügt Magnolie, Kamille, Arnika und Fenchel,

zerstoßene Zwiebeln, vermischt mit Feigen, Hefe und Butter

hinzu, auch so sich ein solches Gemisch zu Zeiten der Pest als

wenig hilfreich erwiesen2 hat, programmiert, sie mögen es von

den Robotern im Labor, das eigentlich der Herstellung von

hautfreundlichen Lacken für die Spielwaren dient, vermischen

lassen, daraus einen Extrakt entwickeln, der der Hautpflege seiner Melusina nützlich sei, und nicht auf Experimenten mit Ratten beruht. Die Computer ihrerseits fügen noch etliche Pflanzensäfte hinzu, und Bedenken nehmen sich seiner durchaus an.

Mit Melusina auf dem Arm betritt er das Labor, dort kocht und

brodelt es in Behältern und Gläsern wie in einer Hexenküche,

farbige Dämpfe steigen fauchend auf, ein Duftgemisch verbreitend, in dem das Kölnisch Wasser zwar vorherrscht, dennoch

eine recht pittoreske Verbindung mit allen anderen Inhaltsstoffen eingegangen ist. Das Ergebnis ist eine farblose nach Magnolien duftende Salbe und weißer Puder. Frischen Mutes trägt

Hagen die Salbe auf, die Petechien schwinden in nur wenigen

Stunden, und auch Melusina bekommen die neuen Pflegemittel

recht gut, zumindest beschwert sie sich nicht.

Melusina wächst heran und sie eröffnet eine feste Hinneigung

zu ihm, aber auch eine nicht mindere zu Materculina. Anfänglich hat Hagen sich real vorzustellen nicht vermocht, wieso das

Tier damals bei ihr gewesen ist, mittlerweile aber kennt er sich

mit dieser Spezies besser aus und weiß, daß mehrere Rattenweibchen gemeinsam in größeren Rudeln gebären, und die Aufzucht der Jungtiere gemeinschaftlich verläuft, die gemeinsame

Jungenaufzucht das Wohlergehen des Nachwuchses sichert.

Wenn eines der säugenden Weibchen auf der Jagd verunglückt,

ziehen die anderen seine Jungen mit auf3.

Melusina spielt im Park unter dem Magnolienbaum auf einer

bunten Decke. Hagen legt sich ins Gras, sieht ihr zu. Melusina

setzt Laute in gestikulierende Zeichen um. Seine Ansicht über

die Weisen der Verständigung fußt darauf, Telepathie habe sich

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aus evolutionärer Notwendigkeit heraus entwickelt, um die

Kommunikationslücke zu überbrücken, bis zu der Zeit, in der

das Kind sprechen lernt4. Ebenso betrachtet Hagen die ihm

nicht unbekannte These über psychisch ausgelöste Einwirkungen auf materielle Systeme, oder das Erscheinen eines fremdseelischen Vorgangs als identischer, oder zumindest sehr ähnlicher psychischer Vorgang, oder Bewußtseinsinhalt ohne Vermittlung der bekannten Sinnesorgane. Er befaßt sich mit der

Wellenhypothese5, in der das materielle Substrat der Psyche eines Menschen mit einem die Erde umhüllenden Energiefeld in

Wechselwirkung steht, wie auch mit dem animalischen Magnetismus6, in dem vom Mensch eine magnetische Kraft ausgeht,

und daß der Mensch, wie alle Lebewesen, einen Anteil an einem universalen Fluidum, welches das ganze Weltall durchströme, hat; er studiert die Levitation, dank derer Melusina den

Standort ihrer Wiege verändert haben könnte.

Bürger, für die Hagen bisher nicht von Interesse gewesen ist,

und die auch ihn nicht interessieren, schleichen plötzlich mit

Begrüßungen an ihn heran, wenn sie ihn mit Melusina erblicken, „wie, Sie haben ein Enkelkind?“

„Nein“, entgegnet er, mehr nicht, denn schließlich hat er wahrheitsgetreu geantwortet. „Das ist aber ein hübsches Kind. Ist es

ein Junge oder Mädchen“, fragt eine der Frauen und erdreistet

sich des Versuches, Melusina anzufassen; Melusina sitzt aufrecht, ihm zugewandt, in einer umgebundenen Brusttasche, sie

kann also visuell gar nicht wahrnehmen, wessen die Frau sich

anschickt, ihre Reaktion aber verdeutlicht, daß sie erfühlt, was

sich hinter ihrem Rücken abspielt. Ihre ansonsten hellblauen

Augen verdüstern in der tiefglänzenden

Schwärze die der Ratten, und ebenfalls nimmt Melusina eine die der Abwehr der in

die Enge getriebenen Kreatur zum Verwechseln ähnelnde Pose

ein, wobei sie ihre Arme anwinkelt, die Ellbogen weit zurücknimmt, ihre Handrücken vor ihre Brust legt, dabei ihre Finger

spreizt, und ihre zwei Milchzähne entblößend weit ihren Mund

öffnet; und neben diesem Gebärden stechen die in die kleinen

Hände hineingeknickten Daumen hervor in einer Weise, als

wollte Melusina bekunden, Rattenhände zu haben, die sich eben

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durch deren vier Finger erweisen. Was nicht zu vermuten ist,

tritt ein, sie wendet sich derart gerüstet jäh um, obendrein klettert Materculina aus der Brusttasche und überfällt die augenblicklich zurückweichende und verstört dreinschauende Frau

mit gleichen Gesten. Sie geht gegen Materculina an, Tiere seien

in diesem Wohnviertel nicht erlaubt,

schon gar nicht so eines,

was es für eines sei. „Eine Ratte.“ Die Frau droht in Ohnmacht

zu fallen, enttäuscht aber nur mit einem hochroten Kopf. Melusina indes dreht sich wieder in ihre gewohnte angelehnte Lage,

schiebt ihren Lutscher in den Mund und streichelt Materculina.

Verblüfft befindet Hagen, daß sie mit dieser Verwandlungsnummer in jedem besten Zirkus hätte auftreten können, und es

erfreut ihn, daß endlich einmal die Kleinen, mächtig an Mimik,

die Großen erschrecken, diese sich vom Leibe halten und vertreiben.

Er mag nicht, daß sie Melusina anzufassen versuchen, gegen

ihn, ihn ausfragend, angehen; wo Melusina herstammt, hat sie

nicht zu interessieren, und hätten sie auch bestimmt gelästert,

hätte er es ihnen eröffnet. Nun ist Neugier aber ein nimmer stiller Plagegeist, und besonders dann, wenn ein Junggeselle zu einem Kind kommt und sich vorzustellen, wie es bedrängt, fällt

ihm nicht schwer, gewiß flöhe manch einer Frau die nächtliche

Ruhe, ihren Mann würde sie aufwecken, >woher hat der von

Ratzemar das Kind? Krieg das mal raus! <

Bei einem ihrer Spaziergänge kommen sie an einer Kirche vorbei, und es scheint, daß Melusina dort hinein will. Also gibt Hagen der Impression nach und betritt mit ihr das so bezeichnete

Gotteshaus. Drinnen empfängt sie Stille, kein Mensch ist anwesend, niemand ist im Gebet vertieft. Leise gehen sie auf den Altar zu, dort angelangt, schaut Melusina bis hin zu jener Wand,

an welcher das Kreuz und der Gekreuzigte hängen. Zu seinen

Füßen hebt sie ihre Arme, streckt ihre Hände, faßt nach dem

Nagel in Jesu Füße und versucht ihn herauszuziehen. Und dabei

umschließt schwaches bläuliches

Gefunkel ihre Finger Da erschallt hinter ihnen ein Donnerwort, das sie zusammenzucken

läßt. Ein Geistlicher steht da mit hochrotem Kopf und wirft ih23


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nen Kirchenschändung vor. Melusina klammert sich an Hagens

Brust, und sie zittert am ganzen Körper, denn solch barsche Töne ist sie nicht gewohnt. Gelassen geht Hagen gegen den Geistlichen an, „ist denn das, das sie

getan hat, gar so schlimm gewesen? Es kann doch verständlich sein, wenn ein Kind einen Nagel, weil ein solcher in den Füßen weh tut, zu entfernen trachtet. In den Tempeln ferner Kulturen fassen die Gläubigen ihre

Vorbilder doch auch an, selbst so über die Zeiten manche hölzernen und steinernen Gesichter strapaziert werden, erweist

sich doch, daß rechter Glaube nie an Gesicht verliert. Und wenn

die Hand eines Kindes, zögerlich, ein wenig ängstlich, unschuldig, aus den malträtieren Füßen eines guten Menschen, den der

Mensch ermordet hat, Mörderisches

herauszuziehen bemüht ist,

um Linderung zu verschaffen, ist das doch schon ein Bild der

Begegnung, das mit Michelangelos Kunst wetteifern darf.“

Ein so kleines Kind wisse gar nicht, was es tue, und sie wären

hier nicht in fernen Kulturen, kam zur Antwort, hier seien die

Sitten eben anders, und wenn jeder sich so verhielte, hinge das

Kreuz bald nicht mehr dort oben. „Man stelle sich das einmal

vor“, entgegnet Hagen, „Jesu wäre nicht ermordet, sondern erhört worden, es gäbe kein Kreuz in Bedeutung der Qual, wie

verheißend es dann doch wäre. Und

sprach Jesu, >laßt die Kinder zu mir kommen<. Nun, mein Kind ist gekommen, hat was

an dessen Fuß entdeckt, was in seinem Fuß auch nicht ist, also

dort nicht hingehört, und hat es herauszuziehen versucht. Was,

frage ich, ist daran falsch?“

„Es ist nicht üblich!“

„Wie wahr. Aber ist es das Unübliche nicht, das zu fragen veranlaßt, zu Meinungen trägt, das aus der auch unbewußten Reaktion eines Kindes zu lernen anreizt, das aus der Begegnung

eines handelnden Kindes mit der Heuchelei im Abbild eines zu

den Tode gemarterten Mannes, eine

Scham, unter der alle Üblichen leiden sollten, entfacht? Wenn hier jemand ehrlich, mithin

Christ ist, dann ist es meine Tochter!“ Der Geistliche stimmt

ihm natürlich nicht zu, Melusinas Schreck glättet sich, sie

schmiegt sich an ihren Vater, und dieser verläßt mit ihr und mit

stolz geschwellter Brust die Kirche. Draußen entdeckt er in ih24


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rer kleinen Hand zwei Nägel, sie wirft sie fort, soweit, wie ihre

zarten Kräfte es erlauben. Durch die offene Kirchentür verfolgt

sie Gepolter und ein wahrhaft gotteslästerlicher Fluch; Hagen

zieht es vor, mit seiner in Unruhe Versetzenden schleunigst den

Kirchhof zu verlassen. Im nahen Park überkommen ihn einige

Bedenken, da Kirchen seine Melusina stören. Ihr droht die Inquisition, der Scheiterhaufen, eine Ketzerin trägt er auf den Armen. Auf einer Bank sitzend, Melusina auf seinem Schoß, ihr

Gesicht ihm zugewendet, saugt sie die nahrhaften von ihm bereiteten Säfte aus

ihrem Fläschchen genießerisch in sich hinein,

und ihr dabei zuschauend, befindet er, wenn überhaupt jemand

an das Kreuz gehört, dann dieser Geistliche. Etwas lugt aus der

Brusttasche in der Melusina sitzt und trinkt. Hagen zieht es heraus es ist ein Nagel.

Als Materculina sich eines Morgens auf ihre Hinterbeine aufrichtet, erhebt sich und in diesem Augenblick auch Melusina

auf ihre kleinen Beine, zwar wackelig und schwankend, aber

immerhin steht sie. Sie versucht sich an einem Schritt, der ihr

nicht gelingt sie fällt auf den Po, rafft

sich aber wieder auf. Seit

jenem Tag müht Melusina sich häufig auf ihre Beinen und sich

auf ihnen zu bewegen. In ihre gerade nicht sparsam angelegten

Windeln gepackt, strengt sie sich an, mitunter schnaufend, hin

und wieder fällt sie vornüber und will sich umständlich auf

Händen und mit Armen aufrichten, das verläuft aber nicht so

recht, weil sie gestreckter Beine ihren Po höher als ihren Kopf

gereckt hat. Sie hätte ihren Armen schon sehr viel Schwung

verleihen müssen, wie diesen zweier Federn, um ihren Körper

aufzurichten. Hagen sieht, ohne Einzuschreiten dem weiteren

Geschehen beflügelt zu, sie purzelt auf die Seite, probiert sich

aus dieser Lage zu erheben, wie eine strampelnde Schildkröte

auf dem Rücken, aber dies glückt erst recht nicht, und erste Unmutsäußerungen bringt sie hervor; weil aber nun niemand herbeikommt und hilft, besinnt sie sich wohl selbst, jedenfalls,

dreht sie sich auf den Bauch, zieht ihre Knie unter diesen, stützt

sich mit ihren Armen vom Boden ab, und siehe da, der Zwerg,

seine gebeugten Beine langsam streckend, erhebt sich, setzt

dann ein Bein vor, zieht das andere nach und wackelt durch den

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Raum. Melusina lächelt verkündend, einerseits etwas ganz Besonderes vollbracht zu haben, und andererseits dies bestätigt zu

wünschen. An Anerkennung läßt Hagen es nicht mangeln, kniet

sich auf den Boden, breitet seine Arme aus, in die sie mehr hineinfällt, als

hineingeht, sie an sich drückend spricht er zu ihr,

„das hast du gut gemacht, Melusina, ganz toll, unübertrefflich“,

und dann steigt er auf in epische Lobeshymnen, von denen sie

gewiß kein Wort versteht, und über die er sich nicht einmal

wundert, weil Übersteigerungen des Verliebten Nüchternheiten

sind. Und weil das Ganze so gut gelungen, steht eine Wiederholung an, wobei dann der vor Anstrengung vergessene und während dieser verlorengegangene Lutscher wieder entdeckt, sie

auf den reichlich gepolsterten Po fallend,

aufgegriffen und mit

der Befriedigung, >so, das hätten wir!< dort hinein geschoben

wird, worin er Behagen schenkt.

Ihre Anstrengungen überraschen ihn trotzdem; wenn sie schon

kraftvoll Nägel herausziehen kann, hätte sie doch, um sich zu

erheben, diese in ihrer Gabe verborgene Kraft der Levitation

zweifelsohne enthaltene Autolevitation einsetzen können, womöglich muß sie sich überhaupt nicht mühevoll krabbelnd bewegen, sondern sollte sie gleitend durch die Räume schweben

können, kopfüber, auf dem Rücken, oder auf dem Bauch. Bei

diesem Gedanken fällt auf, daß sie, wird sie auf seinem Armen

getragen, wird sie gefüttert, werden ihr Zärtlichkeiten geschenkt, setzt sie ihre Mittel nicht ein; was mindestens seltsam

zumutet, denn, so jemand, Prozesse erleichtern kann, wird er

dies auch tun, weil es sinnvoll ist.

Oftmals fährt Hagen Melusina in einem ihrer vielen Kinderwagen durch den sein Haus einsäumenden morbiden Park; das einzige Gewächs, daß dem Siechtum zu verfallen sich hell leuchtend in praller Fülle blühend nicht beugt, ist der Magnolienbaum mit seinen Auslegern, allem anderen, im Park zu wachsen

sich Mühende, ist kein Erfolg

beschieden, Büsche und Bäume

hungern welk und verwildert, vermeintlich auch, weil künstliche Bewässerung und chemische Düngung, wie Bürger sie betreiben, hier nicht stattfindet. Um so mehr erstaunt, daß eines

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Morgens an vereinzelten dürren Zweigen zaghaft Knospen sich

recken, und im Laufe der Tage neben

frischen Blüten Blumen

in farbiger Pracht erstrahlen, die, so liegt zu verknüpfen, der

Magnolienbaum aus einem nicht versiegenden Füllhorn auf die

ihn umgebende Welke in einer Weise überträgt, als beträte ein

lustiger Vater ein Kinderzimmer, in dem ein Kind bis zu seinem

Eintritt traurig gesessen hat. Gelegentlich gelesen, nun kehren

sie hilfreich Hagen wieder, Backsters und Fechners Theorien 7:

nach Backster sollen Pflanzen physiologische Reaktionen zeigen, wenn sie Zeugen der Zerstörung einer anderen Pflanze,

oder der Tötung eines Tieres werden. Dessen Versuche erstreckten sich darin, daß er von einem Studenten eine Pflanze

unter vielen ausreißen und zerstrampeln ließ. Hernach führte er

mehrere Studenten an den heil verbliebenen Pflanzen vorbei,

sie zeigten keine Reaktion über den angeschlossenen Galvanometer, bis zu jenem Augenblick, indem der Student, der eine

Pflanze getötet hatte, an ihnen vorbeiging, sie reagierten in wilden Ausschlägen auf dem Galvanometer. Die Pflanzen haben

angesprochen, und zwar furchtsam, was eine wahrnehmende

Seele offenlegt, die Gut und Böse unterscheidet. Indem die Gewächse im Park wieder erwachen, existiert gleichwohl das Gegensätzliche zu Backsters Versuchen, hier lebt keine Zerstörung, sondern eine Verbindung, Melusina ist in einer Magnolie

gefunden worden, die Pflanze hat wahrgenommen, ein Kind ist

ausgesetzt worden, das ist nicht gut, das Kind würde sterben,

also ist sie eingeschritten, auch so sie keine Wasserpflanze ist.

Damit stand für das Wiederbeleben des Parks fernerhin zu erwägen nahe, daß Magnolien sich ihres gelungenen Werkes wegen erfreuen, sie zeigt es nicht nur in

ihrem eigenen heftigen

Erblühen, die andere, die Ratte, erweist ihre Freude in ihrer

Treue zu Melusina; ebenfalls darf naheliegen, daß Melusina

sich für ihre Rettung bedankt, von ihrem Wohlsein an Pflanzen

und Tiere soviel verschenkt, daß diese gesund werden.

An einem von der sinkenden Sonne selten vordem erlebten zartrot durchfluteten Abend schlendert Hagen, Melusina und Materculina bei ihm, wieder einmal durch den Park. Vielartige

Stimmen, von bisher hier nicht zugegen gewesenen Vögeln

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stammend, klingen. Duftiger Atem von Pflanzen, deren frisches

Blühen bereichert die Abendluft, plötzlich eingekehrte über den

Weg huschende nach Nahrung Ausschau haltende Tiere, fangund balgspielende Rattenkinder, wie deren jagende Mütter und

wachsame Väter, einen lauernden Uhu, der gern eines der Rattenkinder erbeutet hätte, wäre die Übermacht der Ratteriche

ihm nicht Warnung gewesen, so er mit

einem Borkenkäfer sich

begnügt. Hätte Hagen des Weges im Pendeln der Magnolienzweige den Spieltrieb des Windes vermutet, hätte er sich geirrt;

die Pflanzen schwingen nicht im Windhauch, sie drehen sich

nach ihnen um, als er mit Melusina und Materculina an ihnen

vorbeigeht.

Indem er all dies in die Computer eingibt, huscht plötzlich ein

Foto von Magnolien über die Bildschirme. Es gibt viele von ihnen in den Speichern, doch, daß sie selbsttätig auftreten, ist

nicht möglich, es gibt kein Programm,

das diese Automatik

beinhaltet. Trotzdem wandert es, eine Magnolie wiedergebend,

über den Bildschirm, und ein Schriftzug zieht darunter hin,

>Hagen, es ist spät. Geh zu Bett. Du brauchst deinen Schlaf, so

wie Melusina den ihren braucht<. Der Gemahnte schaut auf die

Uhr, es geht gegen Fünf, wer auch immer diese Empfehlung an

ihn richtet, er hat zweifelsohne recht, nur erschließt sich ihm

nicht gleich, woher dieser gutgemeinte Rat kommt. Über den

Kopfhörer vernimmt er eine leise Stimme, >wir haben dir geraten<. Auf

seine Frage, wer >Wir< seien, erhält er zur Antwort,

daß Magnolien, und auch andere Pflanzen des Parks ihm geraten, daß auch Ratten sich dieser Mahnung angeschlossen hätten.

Er hört sie, die Pflanzen, sie sprechen, sie beobachten ihn; bei

dieser Ansicht wird ihm widersprochen, sie würden ihn nicht

beobachten, sondern beschützen, weil das recht sei, Melusinas

wegen. Also erhebt er sich aus dem Sessel und will die Computer ausschalten, worauf er gebeten wird, sie in Betrieb zu belassen, es wäre besser so. Obgleich er keine Müdigkeit fühlt, legt

er sich aufs Bett und schläft dort augenblicklich ein.

Am späten Morgen darauf erwacht Hagen und findet sich in bester Laune, wenn er sich auch den Vorwurf nicht ersparen kann,

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Melusina vernachlässigt zu haben. Sie liegt in ihrem Bett und

spielt mit Materculina. Indem Hagen sich niedersetzt, Melusina

in ihrem Kinderstühlchen, findet er ein Blatt auf dem Teller seiner Teetasse. Ein kleines nur, in frischem Grün, wie es die Magnolie zu tragen pflegt. „Ihr habt etwas verloren“, flüstert Hagen leise. >Nein, wir haben nichts verloren. Wir schenken es

dir. Guten Morgen. <

Seit jenem Tag ruft er allmorgendlich >einen guten Morgen!<

in den Park hinein, gehen sie in die Stadt, verabschiedet er sich

von ihm, kehren sie wieder heim, begrüßt er ihn, legen sie sich

zur Nachtruhe, wünscht er ihm eine gute Nacht, und er wundert

sich nicht einmal dabei, nimmt seine

Höflichkeit wie selbstverständlich hin und fürchtet nicht, falls jemand sie höre, dessen

albernes Gelächter.

Es wundern die Rillen, die Melusinas Kinderwagen im bisher

ausgetrockneten Boden des Parks hinterlassen, und indem Hagen sich bückt, eine Hand voll herausgräbt, die Erde zusammenquetscht tropft Wasser heraus. Auch wächst im Verlauf weniger Tage Gras in diesen Rillen. Mit diesem stellen sich über

Wochen Kleintiere ein, Karnickel, Maulwürfe, Marder, Wiesel

und Mäuse. Und etliche Vogelarten gesellen sich hinzu, mithin

bald der Kuckuck ruft im Park, oder des Nachts der Uhu. Weil

Melusina noch nicht andauernd zu gehen vermag, sie aber wiederum stets im Wagen gefahren, oder auf Armen getragen zu

sein, nicht immer sich anschickt, führt Hagen sie häufig. Dort,

wo ihre kleinen nackten Füße den Boden berühren, bleiben

sanfte Abdrücke zurück, ihn aufrufend, sie mit Gips zu füllen

und somit Melusinas Fußabdrücke zu verewigen. Als er jedoch

daran gehen will, haben die schwachen Mulden sich mit Wasser

gefüllt, und Tage darauf wachsen Blumen

darin; so darf er alsbald ihre ersten Wege auf eigenen Füßen, gestützt von seinen

Händen, geblümt nachvollziehen. Still sitzt er mit Melusina auf

dem Schoß und Materculina auf der Schulter auf dem Boden

und betrachtet die weißen und roten in- und untereinander in

Ranken verbundenen Blüten, ein Strang dieser Ranken schlängelt sich um einen Maulwurfshügel, oh, gewiß, Hagen wartet

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darauf, daß er Hügel von innen aufgebrochen wird, der kleine

graue Wühler seinen Kopf herausstreckt, umher schnuppert,

seine aus Wassertropfen gebildete Brille vor seine Augen

schiebt. Obschon Magnolien im allgemeinen nicht ranken, so

tun sie es in seinem Park, sie kriechen wie Schlangen von dem

Magnolienbaum ausgehend, bis hin zu den Mauern seines Hauses und an ihnen empor, und über die Monate kleiden sie es ein,

und sparen nur Fenster und Türen aus.

Hagen fühlt sich wie auf

Dornröschens Schloß, eingesponnen nicht von Rosen, sondern

von Magnolien. Darin aber enden die Besonderheiten keineswegs, denn, als er eines Mittags von Evolos heimkommt, ergibt

sich von der Straße her nichts von der blühenden einspinnenden

Pracht, und er bedauert sie schon vergangen, erst nachdem er

durch das Tor gefahren ist, dieses sich von den Computern gesteuert hinter ihm verriegelt hat, drücken sich die Autoreifen in

feuchte Erde, und grüne Baumkronen wölben sich über ihm,

Düfte von Moosen, Farnen und Magnolien steigen auf, und der

Motor des Wagens schnurrt andächtig verhalten.

Der Park blüht, dank und kraft Melusinas und Materculinas Erscheinen ist er zu blühen erweckt worden. Also setzt Hagen

sich mit Melusina und mit Materculina, ihrer ständigen Begleiterin, auf eine Bank im Park, die unter dem Magnolienbaum,

den sie als Pflanze mitgebracht hat, steht. Dort reicht er Melusina einen Becher, in dem Gemüsebrei auf seinen Verzehr wartet,

und einen Löffel, mit dem sie mittlerweile umzugehen versteht,

auch wenn er nicht immer sein Ziel findet. So erwartend dasitzend senkt sich ein Magnolienzweig hinab, ein eher spärlicher

Zweig, nicht blühend wie seine Geschwister, nackt, indem aber

Melusina löffelweise ihren Becher leert, geschieht eben das,

was zu vermuten ihm beliebt, der herabhängende nackte Zweig

legt Kleidung an, es sprießt äußerst geschwinde eine Blüte an

ihm, dann eine weitere, mit jedem Löffel, der in Melusinas

Mund versinkt, oder ihn auch verfehlt, oder ihm lächelnd angeboten wird, wächst eine bunte Blüte. Hagen

betrachtet das neben ihm sitzende emsig löffelnde Mädchen, und deren Ratte auf

seinem Schoß, Melusina, Energien tankend, setz sie diese um in

Bekleidung eines bis dahin Nackten, weil nackt herumzulaufen

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nicht unbedingt schicklich ist. In die Gefilde des Lernens eingetaucht, stellt sich dar, wie einmalig der Mensch in die Natur

eingebunden sein kann. Damit fällt Erwiesenes, bis dahin Geglaubtes in die Langeweile, spricht alles dafür, ins unerforschlich Vorhandene aufzusteigen. Mittlerweile hat Melusina ihren

Becher geleert und gibt zu verstehen, daß sie satt sei, und nun

durch den Park spazieren möchte, und daß ihr bitte von der

Bank herunter geholfen werden möge. Und dem folgt Hagen

dann, und sie wandert daher, um den Park gemeinsam mit Materculina zu erkunden. Hört er da nicht ein Schmatzen? Hang

doch der ehedem nackte Zweig in Melusinas Becher, tut sich an

den von Melusina zurückgelassenem Rest gütig, leckt ihn auf,

oder saugt ihn auf irgendeine andere Weise in sich hinein, so

daß ein blitzblanker Becher zurückbleibt. „Prima, kann ich mir

den Einsatz der Spülmaschine in Zukunft ersparen.“

Allmählich stellt sich bei Melusina das Vermögen des Sprechens ein. Sind es zunächst auch nur eher unverständliche Laute, so gewinnen sie schnell an Deutlichkeit, ihr erstes Wort lautet aber nicht Papa, sondern Materculina. Darüber ist Hagen

nicht einmal enttäuscht, denn sie ist ihre Retterin.

Es treibt ihn an, dem Blühen des Parks etwas hinzuzugeben. Er

fragt Pflanzen und Tiere, ob sie dagegen etwas einzuwenden

haben. Wenn es ein Geschenk für Melusina sei, antworten sie,

wie könnten sie dagegen sein. Was zu schenken gedacht, hätte

sich in Evolos anfertigen lassen können, hätte es ihm nicht widerstrebt, dennoch, seine Spielwarenfabrik sieht er in diesem

Fall für überfordert. Er findet auch jemanden außerhalb von

Evolos und nimmt mit ihm Kontakt auf.

Bei der Art des Antriebs der Lokomotive, ein Nachbau der von

George und Robert Stephenson

konstruierten >Adler< in kleinerem Maßstab, stößt er auf ein Problem, ein elektrischer Motor

wäre zwar eine einfache Lösung, doch die Stromleitungen wären eine Gefahr, also entscheidet er sich für die Dampfmaschine, die sicherlich auch Gefahren in sich birgt, er schätzt sie aber

geringer ein, zudem, so sie von Computern gesteuert wird.

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So rücken eines Morgens Baumaschinen und Monteure heran,

wofür sich Melusina interessiert, „was machen die da?“

„Ja, weißt du, eigentlich wollte ich dich überraschen, aber dir

etwas zu verheimlichen schaffe ich sowieso nicht. Sie bauen

eine Eisenbahn für dich, mit er du dann durch den Park fahren

kannst. Hättest du Spaß daran?“

„Ja. Wann ist denn fertig?“

„Das dauert noch ein wenig.“

Was aufgebaut worden ist, steht noch unter Planen verborgen,

und die Roboter, ihre metallene auf Hochglanz polierte Struktur

im Sonnenlicht schimmernd, haben sich wie ein Komitee davor

aufgereiht, und es zischt und dampft höchst verdächtig unter

den Planen hervor. Sie entfernen die Planen. Da ist sie enthüllt,

die einer Adler-Dampflokomotive nachempfundene Maschine,

und sie erstrahlt schwarz-, chrom- und messingglänzend in der

Morgensonne. Melusina klatscht in die Hände, „ach, ist die

schön!“

Die Roboter schieben die Waggons heran und verkoppeln sie

mit der Lokomotive und untereinander. Melusina betrachtet die

Eisenbahn, danach geht sie um sie herum, steigt auf den Führerstand und fragt laut, was sie denn tun müsse, damit sie fahre.

„Ja, mh, was ist? Ach so, ja, ich eile!“ So eilt Hagen hin zu ihr,

erklärt ihr die Bedeutung der verschiedenfarbigen Tasten auf einem kleinen Pult, die nicht direkt auf die Lokomotive einwirken, sondern über einen Sender die Computer im Haus ansprechen, und sie steuern die Eisenbahn und beobachten über die an

der Lokomotive angebrachten winzigen Kameras, ob die Gleise

frei sind, oder ein Hindernis zur freien Fahrt vorliegt. „Schau,

wenn du auf die grüne Taste drückst, fährt die Eisenbahn los,

drückst du die rote, hält sie an. Drehst du an dem Rad dort,

fährt sie langsam, oder schneller. Legst du jenen Hebel, der

jetzt in der Mitte steht, nach vorne, fährt sie vorwärts, ziehst du

ihn zu dir hin, fährt sie rückwärts. Alles verstanden? Dann los!“

„Nein, noch nicht!“ entgegnet sie, „die Fahrgäste!“ Sie klettert

vom Führerstand, rennt ins Haus, ist bald mit Puppen, Teddybä32


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ren und natürlich mit Materculina beladen zurück, setzt sie auf

die Bänke in den Waggons und steigt dann wieder auf den Führerstand, „so, jetzt kann es losgehen. Wie war das noch mal?“

„Schau mir zu, ich zeige es dir.“ Er legt den Fahrtrichtungshebel nach vorne, drückt die grüne Taste, und dreht den Geschwindigkeitsregler ein wenig, und, ein Ruck, die Lokomotive

schnauft, stößt weißen Rauch durch den Schlot und fährt gemächlich und bimmelnd an.

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hingekritzelt Alle paar Seiten "Copyright by Ingo Erbe....."
Das geht überhaupt nicht!
Da hat wohl jemand Angst, dass der Text geklaut wird.
Meiner Meinung nach ist diese Angst unbegründet.
Mich jedenfalls nerven die Bandwurm-Sätze so sehr, dass ich es nur bis Seite 15 geschafft habe. Für mich klingt das so, als würde jemand krampfhaft versuchen, schlaue Formulierungen aufs Blatt zu bekommen
Mach Dir aber keinen Kopp - es wird auch noch positive Kritik kommen. Es ist nur meine persönliche Meinung. Ich bin ein besserer Leser als Schreiber und hab' mehr Bücher gelesen, als ich Haare auf dem Kopf hab, aber diesen Text würde ich nicht einmal für Geld lesen.
Ich hoffe, das klingt nicht zu hart :-)
LG Uli.
Vor langer Zeit - Antworten
Pheedor habe ich auch aber erst nach der Einstellung bemerkt. Wird gelöscht...
Vor langer Zeit - Antworten
hingekritzelt Ich hab Dich gerade mal gegoogelt und rudere mal kräftig zurück!
Aus Gründen der Fairness sei den anderen Lesern an dieser Stelle gesagt, dass Ingo Erbe wohl ein "richtiger Schreiber" ist
Künftig googele ich erst und lästere dann! :-)
War halt so sauer wegen der vielen Copyright. Sorry!
LG Uli
Vor langer Zeit - Antworten
Pheedor ich war auch sauer, daß das hier so erschienen ist. Muß mal schauen, wie man hier löschen und neu einstzen kann..
Vor langer Zeit - Antworten
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