Einen Kopfschuss, dachte ich, bei leichtem Erkalten der Finger, überhaupt ein Unwohlsein des Körpers, dieses mulmige Gefühl im Magen, nein, einen Kopfschuss würde ich nicht übers Herz bringen. Ein Kopfschuss mit dem Herzen also. Aus Liebe. Aus reiner Liebe. Alles andere wäre mir egal, völlig egal. Gewiss hätte es seine Bedeutung, aber was hat nicht seine Bedeutung. Also auch der Gedanke, ihr, meiner Mutter, in den Kopf zu schießen, ihr aus reiner Liebe den Kopf, und damit alles, zu zerfetzen, als sei es nichts Besonderes, nichts Aufsehenerregendes, sie auszulöschen, sie zu zerstieben, so, als träte man gegen einen Haufen Schnee und nichts bliebe übrig, außer dass man es nie vergisst.
Überhaupt einem Menschen, und dann auch noch ihr, den Kopf vom Hals zu trennen - ich schäme mich, so zu denken. Aber vielleicht wird es mein Leben verändern, auf eine völlig andere Fährte bringen, wer weiß, ich spür’s noch nicht, der Gedanke allein, einen anderen und dazu noch um alles in der Welt geliebten, vielleicht für alle Zeit hin einzig geliebten Menschen töten zu wollen, und dazu noch mit einem Kopfschuss, ist weder erklär- noch entschuldbar. Aber es ist nun einmal so, ich denke diesen Gedanken und stelle mir vor, es wirklich zu tun, mit einem Revolver, einer PR 407, die einzige Waffe, die mir helfen könnte, in der Schublade der Nachtkonsole neben dem Bett, unter den Zeitungsausschnitten der vielen Frauen, die ich fein säuberlich mit der kleinen Küchenschere, leicht zitternd vor Erregung, wie immer, weil ich mir wieder eine, eine mehr, für den Abend zurechtgemacht habe. Unentwegt stelle ich es mir vor, ständig mit der Frage im Kopf, eine Zecke, wie es am ehrenhaftesten sei - und zwar nicht nur für mich, sondern auch für sie. Ich gehe in mein Zimmer, um den runden kleinen Tisch herum zur Nachtkonsole, öffne die Schublade, gleite mit der Hand am vorderen Rand der Zeitungsausschnitte vorbei unter die zurechtgeschnittene Damenwelt aus Papier hinein in ihre hintere Ecke, wobei sich die gezackten zarten Ränder aufrichten und an meinem Arm hochklettern, und finde sie endlich. Zwischen Hemd und Hosenbund gesteckt, schiebe ich langsam die Schublade wieder zu, und werde dabei, dessen bin ich mir ganz sicher, jetzt schon, an einen ganz bestimmten Film denken müssen, an einen Ausschnitt mit Jean Gabin, der einen Gangster mimt, dessen Gelassenheit fast nicht zu ertragen ist, weil sie einzigartig, unmenschlich und unnachahmlich ist, den Blick starr ins Leere gerichtet, auf das, was geschehen und um nichts auf der Welt vereitelt werden wird, und ich werde mir sagen, dass uns beide, Jean und mich, eines dennoch grundlegend unterscheidet, nämlich das Warum! Denn ich glaube nicht, dass er je einen Menschen aus Liebe, aus reiner Liebe, umgebracht hat, selbst nicht im Film. Und ebenso wenig glaube ich, dass sich, nachdem er einen nicht einmal von ihm geliebten Menschen umgebracht hätte, sein Leben von Grund auf mit dieser Tat verändert hat. Vielleicht ist es eher umgekehrt. Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher. Im Grunde hätte ich also nichts mit diesem kaltblütigen Gangster gemein.
- Langsam schliche ich dann die Treppe hinunter, würde mich mit beiden Armen rechts und links der Treppe gegen die Wand stemmen, um dieses hölzerne Knarren auf der vierten und siebten Stufe zu vermeiden, dann, vor der Tür zum Wohnzimmer, einen Moment innehalten, ein letztes Mal tief Luft holen, sie leise durch die Nase ausströmen lassen und horchen, ob der Fernseher läuft, die Schlagerparade der Volksmusik, zu dieser Zeit wäre es am günstigsten, an einem Sonntagabend. Ich würde die Tür langsam öffnen und ins dunkle, nur vom bunten Fernsehbild und der auf ihm, hinter einem kleinen Segelschiff verdeckten Lampe erhellte Zimmer treten und mich hinter den Sessel stellen, in dem sie angespannt und vollends gefangen von den, meist in Trachten auftretenden, singenden Musikanten sitzt, und mich vielleicht mit ihr gemeinsam einige Augenblicke der Musik hingeben. Es wäre das erste Mal, dass ich im Zimmer bliebe, während sie sich diese Sendung ansähe - und zugleich das letzte Mal. Aufgeregt und dennoch irgendwie gelassen würde ich auf die letzten Takte des Liedes warten, ja, ich würde ihnen entgegenfiebern, so wie ich noch nie einem Ende entgegengefiebert hätte, weil ich mit dem Ausklang der Töne den letzten Ton selbst bestimmte, die Melodie des Lebens, der wir dann gemeinsam nicht mehr Herr zu werden vermögen, nur noch Leidenschaft und Aufgewühltsein, am Rande des bewussten Empfindens, eine Harmonie, die wie der gebrochene Atem an der Brandung des Schicksals mit dem Schuss absolut wäre, absolut und vollkommen, vollkommen ausgelöscht, unwiederbringlich, um dann, mit dieser vollkommenen Harmonie die vollkommene Leere zu spüren, vielleicht meine Erlösung. Alles in mir, über mich selbst hinaus, würde sich hingeben, allem! Ich wäre, als dieses Moment, die Hingabe selbst, vollkommene Liebe: mit einem blutbespritzten Gesicht, völlig entstellt.
Welche Konsequenzen nicht die Tat, sondern die Vorstellung allein hat, nicht dass ich sie wirklich getötet hätte, sondern sie immerzu töten würde - und damit die vollkommene Empfindung spürte, ja, die vollkommene Empfindung selbst wäre, hieße, diese Tat ästhetisch zu rechtfertigen. Das wäre ihre Bedeutung, ihr moralischer Wert, die Blutgetränktheit eines glasklaren Mordes, als Allegorie der Unlesbarkeit meiner Liebe. Völlig rein und doch, aus Juristensicht, also dem, was ich studiert habe, ein durch und durch niederer Beweggrund.