Romane & Erzählungen
Die Leiden der Nachtigall

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"Macht, Geld, Sex - Versailles"
Veröffentlicht am 10. Dezember 2018, 234 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Ich bin ein 20-jähriges Individuum, auch genannt Mensch, welches auf dem Planet Erde ein Zuhause gefunden hat. Ich verweile bereits seit 6 Jahren auf Wattpad und teile mein Geschriebenes mit dem Internet. Schreiben ist meine grösste Leidenschaft, welches ich mehr oder weniger ernsthaft verfolgen möchte. Ich bin ein Schreiberling aus vollem Herzen, so wappne dich auf ein Chaos an Geschichten, denn jede Idee wird hier niedergeschrieben und gedeiht ...
Macht, Geld, Sex - Versailles

Die Leiden der Nachtigall

Vorwort

Bonjour, und herzlich Willkommen zu meinem ersten historischen Roman "Die Leiden der Nachtigall". Was am Anfang eine simple Faszination für das Leben und die Person von Marie Antoinette war, entwickelte sich mit der Zeit zu einem grossen Herzensprojekt. Lange habe ich davor gezögert, diese Geschichte niederzuschreiben, doch nun ist die Zeit gekommen. Die Geschichte handelt von einer jungen Engländerin, Lizzie Morin, welche im 18. Jahrhundert in Bisbury, einem kleinen, idyllischen Dorf geboren wurde und dort zwischen Schafen und Webstuhl

eine friedliche Kindheit geniessen durfte. Doch durch ein schicksalhaftes Ereignis änderte sich ihr Leben schlagartig. In mehreren Tagebücher dokumentierte sie ihre Reise, schrieb ihre Gedanken und Gefühle nieder und offenbarte so einige Geheimnisse und Skandale. Genau 224 Jahre später wurden diese Tagebücher von einer jungen Gärtnerin gefunden, welche nun die Geschichte an die Öffentlichkeit tragen möchte. Denn die Geschichte von Lizzie ist genau so vielseitig wie ihre Rollen, die sie auf ihrer Reise angenommen hatte. Das Bauernmädchen das Mädchen von neben an, die Hure, die Dienstmagd, ja sogar die Vertraute der Königin. Nicht

zu vergessen die Nachtigall - denn ihre Stimme war das Wertvollste, was Lizzie ihr ganzes Leben lang besass und nur der Tod ihr nehmen konnte. Die Geschichte befindet sich erst in der Rohfassung, daher bin ich über konstruktives Feedback immer sehr froh! Besonders bezüglich Logikfehler und historischen Unklarheiten. Ich habe versucht, historische Gegebenheiten und Personen möglichst authentisch und historisch korrekt, wiederzugeben. Einige Sachen, besonders die Charaktere und Handlungen von gewissen Personen, ist fiktiv und entspricht nicht der Realität. ;D Bitte behaltet euch beim Lesen des

Romans immer im Kopf - es ist nur eine Geschichte, kein Sachbuch! Nun wünsche ich euch viel Spass beim Lesen der Geschichte von Lizzie! Möge euch ihre Geschichte genauso faszinieren wie mich.

Teil 1

224 Jahre später

Nun ist es also so weit. Es gibt kein Zurück mehr. Der Regen prasselt auf sie hinunter, als sie aus dem schwarzen BMW aussteigt und ein kalter Wind zerrt an ihren Haaren. Eilig öffnet sie den Regenschirm, wirft dem Fahrer ein flüchtiges Lächeln zu, ehe sie sich dem grossen Herrenhaus in zackigen Schritten nähert. Umringt von raschelnden Pappeln und Tannen steht das Haus aus dem 17. Jahrhundert ein wenig entfernt von der Stadt London auf einem Hügel. Mit der eierschalenfarbenen Fassade, den vielen,

hohen Fenster, die einem kalt, ja fast bedrohlich anstarren und der langen Vortreppe, sieht es tatsächlich so aus, wie sie es sich immer vorgestellt hat. Man erkennt auf den ersten Blick, dass hier sehr reiche Leute wohnen, wahrscheinlich geniessen sie sogar das Ansehen des Adels. Die junge Frau schluckt leer und drückt das Paket fest an ihre Brust. Immer wieder stolpert sie mit ihren hohen Absätzen im lockeren Kies und beschmutzt so ihre schwarzen Pumps, die sie speziell für diesen Anlass gekauft hat. Völlig durchnässt erreicht sie die schützende Hauswand und streicht sich fluchend die nassen Haare aus dem

Gesicht. In ihrem Zustand würde sie niemals mit der Hausherrin sprechen dürfen, geschweige denn eine Vertrauensbasis aufbauen. Unschlüssig bleibt sie stehen und nagt an ihrer Lippe herum. Wenn sie jetzt umkehren würde, wäre ihre ganze Reise von Frankreich nach England umsonst gewesen. Sie muss mit dieser Frau reden, sonst würde sie die Wahrheit niemals erfahren. Mit zitternden Händen umfasst sie den kalten Löwenring, atmet tief durch und klopft an die grosse Tür. Leise hört sie, wie schnelle Schritte auf Parkettboden sich nähern und ein Hebel wird zur Seite geschoben. „Was wollen Sie?", spricht eine kratzige Stimme bissig. „Bonjour.

Mein Name ist Isabelle Morrin. Ich habe mit Miss Brown am Telefon gesprochen", antwortet die junge Frau mit klopfendem Herzen. „Einen Moment bitte." Die Schritte entfernen sich wieder. Mehrere Minuten steht Isabelle zitternd vor Kälte, wie ein verlorener Hund, draussen und wartet nervös. Gerade als sie die Hoffnung aufgeben wollte, doch noch ein Gespräch mit Miss Brown zu führen, wird die Türe aufgerissen und eine ältere Frau mustert sie von Kopf bis Fuss. „Miss Brown erwartet sie im Salon!" Ein erleichtertes Seufzen kommt aus ihrer Brust und sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht. „Merci",

murmelt sie und betritt unter dem skeptischen Blick der Haushälterin die Eingangshalle. Mit grossen Augen mustert sie die vielen Gemälden, die an den weissen Wänden hängen. Gewisse zeigen nackte Frauen, umschlungen von haarigen, gehörnten Wesen, andere sind ein völliges Gewirr an Strichen und Farben. Von der Decke baumelt ein riesiger Kronleuchter mit funkelnden Steinen und in der Mitte des Raumes führt eine grosse Treppe in den zweiten Stock. „Es ist wundervoll!", keucht sie leise und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Madame, darf ich Sie bitten?", sagt die alte Frau mit kühler Stimme und hält ihr mit

zusammengepressten Lippen ein weisses, geblümeltes Kleid entgegen. Isabelle runzelt die Stirn. „Entschuldigen Sie Ma'am, aber..." „Keine Wiederrede! Wir haben nichts anderes in ihrer Grösse und so", sie mustert Isabelle mit gerümpfter Nase, „können sie wirklich nicht mit Miss Brown reden!" Unschlüssig bleibt Isabelle stehen und begutachtet dieses altmodisch wirkende Kleidungsstück. Was bildet sich diese Frau eigentlich ein? Aber es bleibt ihr wohl nichts anderes übrig. Was sie nicht alles auf sich nimmt für die Wahrheit. Nachdem sie dieses doch sehr enge Kleid über ihren immer noch eiskalten Körper gezogen hat, wirft sie einen prüfenden

Blick in den Spiegel, ehe sie den Raum verlässt. „Miss Brown erwartet Sie nun im Salon!", sagt die ältere Frau. „Das Kleid steht Ihnen übrigens prächtig!" Isabelle lächelt gequält und betritt mit dem schwarzen Paket in der Hand den Saal. Eine schlanke Frau, ungefähr 80 Jahre alt, mit hochgesteckten, grauen Haaren sitzt kerzengerade in einem pompösen Sessel, der fast doppel so gross ist wie sie selber und blättert in einer Zeitung. Isabelle bleibt unschlüssig stehen und lässt ihren Blick über das Innenleben schweifen. Mehrere grosse Bücherregale reihen sich an den Wänden, worin sich hunderte von alt aussehenden Büchern türmen. Im Kamin prasselt ein

Feuer und ein angenehmer Geruch nach Rose und Lavendel erfüllt den Raum. Mit eiskalten Händen fingert sie an ihrem Kleid herum und wippt mit den Füssen. „Mademoiselle Moncour, bitte setzten Sie sich doch!", sagt Miss Brown in einem makellosen Französisch und zeigt auf den freien Sesseln neben Sie, ohne von der Zeitung aufzublicken. Isabelle nickt und spürt, wie ihr Herz schneller zu schlagen beginnt. Ihr Blick wandert zu der offen stehenden Tür und zu dem schwarzen Paket in ihren Armen. Sie könnte jetzt gehen, sich entschuldigen, dass alles nur ein Missverständnis war und das Buch in die Themse werfen. Doch sie zögert und ballt ihre Hände

entschlossen zu Fäuste. Die Wahrheit soll ans Licht kommen und jeder Mensch soll von der Nachtigall erfahren! „Was brennt Ihnen denn so auf dem Herzen, dass Sie so dringend mit mir sprechen wollen!", spricht Miss Brown mit kühler Stimme und legt die Zeitung weg. Ihr Gesicht ist faltig und eingefallen, die Wangenknochen stechen heraus und kleine rote Äderchen zieren ihre bleiche Haut. Doch ihre Augen, die so hellwach auf Isabelle liegen, lassen sie zu einer ehrfürchtigen Person machen. Ein wenig eingeschüchtert senkt Isabelle ihren Blick zu Boden und massiert sich nervös die Hände. „Nun sagen Sie es mir schon. Ich hasse es auf

die Folter gespannt zu werden!", lacht sie und schenkt sich eine weitere Tasse Tee ein. „Nun gut!", murmelt Isabelle leise und öffnet das schwarze Paket. „Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich glaube, dass sie es verstehen werden!" Miss Brown runzelt die Stirn und blickt sie aus ihrer runden Brille durchbohrend an. „Was werde ich verstehen?" „Das was ich Ihnen gleich zeigen werde, muss vorerst unter uns bleiben. Ich beharre darauf, dass ich ohne Unterbrechung sprechen darf und Sie aufmerksam zu hören!", sagt Isabelle mit entschlossener Stimme und zieht ein kleines Büchlein aus dem Umschlag. „Was meinen Sie damit?", fragt Miss

Brown, leicht überrumpelt von Isabelles Direktheit. „Ich meine damit, dass ich Ihnen nun eine Geschichte erzähle, die viele Menschen in Schwierigkeiten bringen wird. Es ist eine Geschichte von einer jungen Frau namens Lizzie Morrin. Ich habe dieses kleine Büchlein unter ihrem Denkmal gefunden und was da drinsteht," Isabelle klopft mit zitternden Händen auf den Einband des Büchleins, „ist ein Skandal! Die wahre Geschichte wurde vertuscht und nun." Isabelle stockt und atmet tief durch. „Nun bitte ich Sie ihr genau zu zuhören, damit wir die Wahrheit, ihre wahre Geschichte, endlich an die Öffentlichkeit bringen

können!" Miss Brown nickt ernst und faltet ihre Hände zusammen. „Nun gut, mein Kind. Ich bin gespannt!" Isabelles Augen leuchten, als sie den ledrigen Umschlag aufklappt und ihre Augen über die dünnen Seiten huschen, die in krakliger Schrift, mit königsblauer Tinte, beschrieben war. Mit warmer, ruhiger Stimme beginnt sie zu sprechen: „Mein Name ist Lizzie Morrin und dies ist meine Geschichte!"

Kapitel 1 - Weisse Träume

September, 1769 / England, Bibury Das eiskalte Wasser perlte über ihre trockenen Hände und liess sie auf keuchen. Die Kälte strömte von ihren Pulsadern durch den

ganzen Körper und vertrieb die letzte Morgenmüdigkeit aus ihren Knochen. Für einen kurzen Moment hielt sie inne und genoss die Strömung, die um ihre dürren Arme zog und ein erfrischend prickelndes Gefühl hinterliess. Die Morgensonne schien ihr warm in den Nacken und ein angenehmer Wind wehte durch ihre kupferfarbenen Haare. Sie

schloss die Augen und genoss den Moment voller Frieden und Harmonie. Nur das Plätschern des Baches, der ergreifende Gesang der Vögel, das Summen der Bienen und das leise Lachen und Geplauder ihrer Familie war zuhören. Es war ein perfekter, idyllischer Morgen, so wie ihn der allmächtige Gott erschaffen hatte. «Lizzie! Nun mach schon!», rief ihre Mutter plötzlich und riss sie aus ihren Tagträumen. Mit einem leisen Seufzen tauchte sie den grossen, metallenen Bottich in den Bach, ehe sie ihn mit aller Kraft zum Vorplatz ihres kleinen Hofes trug. Ihre nackten Füsse versanken im nassen Gras und bei

jedem Schritt schwappte ein wenig kaltes Wasser über den Eimer und benetzte ihre Beine. Leise summte sie vor sich hin, wie sie es jede freie Sekunde tat. Zusammen mit einem kleinen Lagerhaus stand der Stall am Rande vom Dorf Bibury und war ein Erbe ihres Grossvaters. Seit Generationen züchteten ihre Familie Cotswoldschafe und haben sich mit dem Verkauf von Woll- und Websachen ein kleines Geschäft aufgebaut, von dem sie gut leben konnten. Ihre Mutter kniete zusammen mit ihren beiden Töchtern auf der Wiese und zupfte den Dreck von der frisch geschorenen Wolle. Fast das ganze Tuch

war mit dem flauschigen Material bedeckt und es sah aus wie ein Bett aus gelblichen Wolken. Es war bereits die zweite Schur, zur Freude ihrer Familie. Neben ihnen brannte ein kleines Feuer, worauf die dritte Ladung Rohwolle im wassergefüllten Zuber vor sich hin dampfte, damit sich der Schmutz und das Fett von den Fasern löste. Die Luft war geschwängert vom Geruch der nassen Rohwolle, welche auf Lizzie eine beruhigende Wirkung hatte. Mit geübten Handgriffen goss sie den heissen Sud zusammen mit der aufgeweichten Wolle in den grösseren Zuber, leerte einen Krug Urin hinein, prüfte nach, ob das Wasser die richtige Temperatur hatte,

ehe sie barfuss in die Wanne stieg. Mit hochgezogenem Rock begann sie auf der Rohwolle herum zu stampfen, damit man sie später weiterverarbeiten konnte. Sie liebte dieses Tun, denn sie war im Gegensatz zu den kommenden Verarbeitungsschritten weniger anstrengend und es war keine Feinfingerarbeit. Die langweilige Arbeit am Spinnrad mochte sie nicht und schon gar nicht das Einfädeln des Webstuhls. Lieber fütterte und melkte sie die Schafe, jagte sie auf die Wiese oder half bei der Geburt der Lämmer. Da dies aber alles mehr Männerarbeit war und Mutter darauf bestand, dass sie die Handarbeit ebenfalls lernte, musste sie wohl oder

übel mithelfen. «Habt ihr gewusst, dass viele Schäfer nun nach Süden ziehen?», sprach Lizzie und strich sich den Schweiss von der Stirn. «Ist ja gut für uns. Dann haben wir weniger Konkurrenz!», antwortete Maya, ihre jüngere Schwester mit einem spöttischen Lächeln, sodass ihre mit Sommersprossen besprenkelte, rosigen Bäckchen erstrahlten. So einige Haushalte hier verdienten ihr Geld mit den Schafen und im Sommer, wenn das ganze Dorf die erste Schur gemacht hatte, hing an fast jedem Haus die Wolle zum Trocknen aus. Ihre Familie hatte aber das Glück, dass ein

Händler aus Bath ihre Ware abkaufte und diese in der Stadt erfolgreich an Mann und Frau brachte. So mussten sie sich nicht zu viele Gedanken über die Konkurrenz machen, denn die meisten verkauften ihre Sachen in den naheliegenden Dörfern oder lieferten sie direkt nach Arlington Mill. «Nein, eben nicht. Angeblich werden dort immer mehr Maschinen mit Wasser betrieben. Weisst du wie schnell und wie viel man dadurch produzieren kann?», erwiderte Lizzie mit besorgtem Blick und erntete von ihrer Mutter zustimmendes Nicken. Diese Veränderungen faszinierte und beunruhigte sie zu gleich. Angeblich gab

es nun auch schon eine Maschine, mit der man bis zu acht Spulen Garn gleichzeitig produzieren konnte. Man hörte immer wieder von neuen Erfindungen und das Geschäft mit Textilien blühte durch die vielen Schiffe, welche Handeln mit fremden Ländern betrieben. «Mich interessierts nur, von wo du all die Sachen weisst!», bemerkte ihre Mutter mit bitterer Stimme und säuberte den letzten Knäul Wolle, ehe sie mit schmerzverzerrtem Gesicht aufstand und ihren brennenden Rücken streckte. Lizzie zuckte nur mit den Schultern. Sie hatte seit klein auf eine Gabe, Gespräche heimlich zu belauschen und dabei nicht

aufzufallen. Kannte man die richtigen Orte, erfuhr man sehr viele pikante Erzählungen und ab und zu auch etwas Nutzvolles. Sie liebte es am Abend, wenn die meisten Familien beim Abendbrot sassen, durch die Gassen zu ziehen, die untergehende Sonne in ihrem Nacken und der aufgehende Mond in ihren Augen. Sie genoss diese abendliche Stimmung, wenn langsam Ruhe in das sonst so beschäftigte Dorf kehrte und man durch die geöffneten Fenster den Gesprächen über den heutigen Tag lauschen konnte. Denn nur so stillte Lizzie ihren Wissensdurst. Die Bibel erweckte ihr Feuer nicht, lieber las sie heimlich in den Büchern des Pfarrers,

welche sich zu Dutzenden in den grossen Bücherregalen türmten. Aber seit dem er im Sommer gestorben war, und sie somit ihre Anstellung als Dienstmädchen verloren hatte, versiegte diese Quelle. So blieb ihr nichts anderes übrig, als alle Geschichten, die ihr zu Ohren kamen, in sich aufzusaugen und in ihnen zu schwelgen. «Ach, es wird viel getratscht im Dorf!», antwortete Lizzie mit einem Grinsen. Sie wusste genau, dass ihre Mutter nicht viel von solchen Gerüchten hielt und dennoch immer hellhörig wurde. «Zum Beispiel, dass die Tochter von Mrs. Moore schwanger ist – von einem Soldaten aus Swindon», fuhr sie fort und

bekam ihre gewünschte Reaktion. Ihre ältere Schwester hielt mit ihrer Arbeit inne und starrte sie entsetzt an. Lizzie lachte in sich hinein und schüttelte bloss den Kopf. Margot war das pure Gegenteil von ihr. Ruhig, besonnen, höflich und zuvorkommend. Genau wie ihre Mutter hielt sie viel von alten Traditionen und natürlich dem katholischen Glauben. «Das arme Kind. Sie ist ja gleich alt wie du!», sagte sie entrüstet. «Wahrscheinlich werden sie heiraten, damit das Neugeborene nicht unehelich aufwächst. Ihre Eltern waren natürlich fuchsteufelswild. Gebrüllt haben sie und das Kind so bitterlich geweint!», fuhr

Lizzie weiter. «Wie kann man auch nur so töricht und naiv sein. Gott möge sich vor dem Ding erbarmen!», sprach ihre Mutter und bekreuzigte sich. «Ich wünsche mir wirklich, dass ihr uns das nie antun werdet. Es wäre eine Schande!» Ihre ältere Schwester nickte zustimmend und warf Lizzie einen ermahnenden Blick zu, den sie mit einem spöttischen Augenverdrehen quittierte. «Mach dir keine Sorgen Mutter. Uns wird schon nichts passieren!», antwortete Lizzie mit einem unterdrückten Schmunzeln und ihre Wangen färbten sich leicht rosig. Zu ihrem Glück konnte sie ihre Gedanken nicht lesen. Ansonsten

wäre sie schon längst in ein Kloster geschickt worden. Erst als die Sonne langsam am Horizont unterging und der Himmel in ein feuriges Lichtspiel tauchte, war die ganze Wolle genug sauber und fein, dass man sie weiterverarbeiten konnte. Lizzies Glieder schmerzten und die Müdigkeit breitete sich schwer in ihren Körper aus, als sie die letzten, tropfenden Fäden an einem Holzbalken aufhing. Wenn sich wieder der Nebel wie ein nasses Leichentuch über das Dorf legte, sahen die Wollfetzen immer so aus, als ob die rastlosen Seelen der Toten, um die Fensterbank herumgeistern würden. Mit einem erschöpften Seufzen prüfte

sie, ob auch alles festsass, ehe sie die Leiter hinunterkletterte und das kleine Lager inmitten des Dorfes verriegelte. Tief atmete sie durch und strich sich den Schweiss von der Stirn. Ein angenehmer Wind wehte ihr ins Gesicht und trug den Duft nach Rosen und nassem Gras mit sich. Der Herbst war deutlich zu spüren, die Blätter der Bäume begannen sich langsam in ein knalliges Orange und Rot zu verfärben und die Temperaturen sanken spürbar. Lizzie freute sich nicht auf den Winter. Sie verabscheute die kalte Zeit, wenn sie fast nur den ganzen Tag im dunklen Haus verbrachte und mit Hausarbeit beschäftigt war. Lieber strich sie durch

die Wälder, beobachtete die Schafe oder genoss ein erfrischendes Bad im Fluss. Diese Momente wurden aber immer seltener, je älter sie wurde. Da ihre Schwester bald wegziehen würde, weil sie mit einem Müller im Südwesten verheiratet wurde, lagen die Aufgaben in ihren Händen. Und obwohl sie dies nicht gerne tat, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Pflichten nachzugehen. «Na? Fertig mit der Arbeit?» Eine warme, tiefe Stimme riss Lizzie aus ihren Gedanken und liess sie erschrocken zusammenzucken. «Eric! Wie oft habe ich dir gesagt, dass du mich nicht erschrecken sollst!», knurrte Lizzie, konnte sich aber ein

leichtes Grinsen nicht verkneifen. Kopfschüttelnd drehte sie sich zu dem grossgebauten Mann um, der sie aus seinen braunen Augen anlächelte. Er war mindestens einen Kopf grösser als sie, was er ihr immer gerne unter ihre Stupsnase rieb. Seine hellbraunen Haare und seine hohe Stirn waren von einer weissen, feinen Mehlschicht belegt, wie er es jeden Tag hatte. Seine Familie arbeitete ebenfalls seit Generation an der Mühle und belieferte die naheliegenden Dörfer mit frischem Brot und Mehl. Der Arbeit hatte er auch seine äusserst muskulöse und gutgebaute Körperstatur zu verdanken. Vom ewigen Säcke schleppen sah er für sein junges Alter

schon aus wie ein stattlicher Mann. «Ein bisschen Spass muss doch sein», lachte Eric und kniff sie neckisch in die Hüfte. Lizzie rollte mit den Augen und schob sich mit einem bestimmten Schnauben an ihm vorbei. Sie packte ihren Korb und lief in zackigen Schritten die Gasse entlang, ohne ihn ein weiteres Mal zu beachten. Deutlich konnte sie sein leises Seufzen hören und ihr Lächeln wurde breiter. Sie mochte Eric sehr. Sie wuchsen zusammen auf, spielten im Wald und verbrachten viele schöne Momente. Sie genoss die Zeit mit ihm. Sie liebte es in Erinnerungen zu schwelgen, doch wie ihre Grossmutter sagte, war dies eine

gefährliche Angewohnheit. Lizzie war eine Träumerin, ihr Kopf lag mehr in der Vergangenheit und in ihrem Herz lachte immer noch ihr inneres Kind. «So warte doch mal!», rief Eric und holte sie in zackigen Schritten ein. Sein irritierter Blick ruhte auf ihrem Gesicht, seine buschigen Augenbrauen waren zusammengezogen und ein unsicheres Lächeln lag auf seinen spröden Lippen. «Kommst du heute Abend auch?», fragte er sie, währendem er genüsslich in einen Apfel biss, den er zuvor vom Pfarrergarten stibitzt hatte. Lizzies Mundwinkel kräuselten sich und ein amüsierter Ausdruck legte sich über

ihre Augen, sodass ihre Lachfalten zur Geltung kamen. Eric wusste die Antwort bereits, aber anscheinend liess er nicht locker und wollte sie umstimmen. Möglichst gelassen schwang sie ihren Korb durch die Luft und liess ihrer Enttäuschung nichts anmerken. «Du weisst die Antwort doch schon. Die nächsten Tage verbringe ich alleine in einem Raum und verspinne die Restwolle!», erwiderte Lizzie und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Eric ignorierte ihre Absage und tat seiner Meinung mit einem energischen Kick in einen Kieselstein kund, der direkt in eine Gruppe von Hühnern spickte, welche gackern und kreischend

auseinanderstoben. Ein Fenster wurde geöffnet und die alte Frida blickte mit grimmigem Gesicht auf die Gasse. Als sie die beiden Unruhestifter erblickte, hob sie die Faust und begann mit ihrer krächzenden Stimme lautstark loszuschimpfen. Und ehe sich Lizzie und Eric versahen, wurden weitere Fenster geöffnet und die weisshaarigen Köpfe der alten Dorfdamen blickten interessiert auf das Geschehen. «Komm, lass uns von hier verschwinden. Sonst wird wieder getratscht!», lachte Eric, nahm Lizzie an der Hand und rannte gemeinsam mit ihr den Hang hinunter in Richtung des Weihers. Nun konnte sich Lizzie ebenfalls das

Lachen nicht mehr verkneifen. Die Situation war so ulkig und typisch zu gleich. Mit Eric wurde es nie langweilig. Immer brachte er sie in Schwierigkeiten und im Gegenteil zu ihr, besass er die Gabe, immer und überall aufzufallen. Er passte in dieses Dorf genauso wie sie zum Spinnrad. Er war ein Draufgänger, suchte das Abenteuer und lebte für die Geschichten aus fernen Ländern. Der warme Abendwind wehte durch ihr kupferfarbenes Haar, liess ihr beiges Leinenkleid durch die Luft tanzen und ihr Herz erbeben. Immer schneller wurden ihre Schritte, wie sie durch die nasse Wiese rannten, durch Gärten hindurch, über Zäune sprangen, weitere

Gänse und Hühner aufscheuchten, bis sie lachend und nach Luft schnappend auf den Boden beim Weiher fielen. Eine grosse Trauerweide erstreckte sich in den Himmel und ihre Äste hingen sogar bis ins Wasser hinein, wo bunte Fische auf Nahrung warteten. Unter dem Baum war es angenehm kühl, ein Marienkäfer kletterte den Stamm empor. Der Boden war übersät mit bunten Blättern und dem letzten Löwenzahn, der nur darauf hoffte, von einem Luftstoss verweht zu werden. Einige Enten hatten es sich ebenfalls hier bequem gemacht und schienen sich auch nicht über die beiden Freunde zu stören. Seelenruhig säuberten sie ihr Gefieder, ehe sie schnatternd und

quakend in der Wiese herum pickten. Eric streckte gähnend seine Glieder aus und legte sich flach auf den Boden, der Blick zum Himmel gerichtet. Auf seiner Brust der angebissene Apfel, in seinem Mund ein Grashalm, auf welchem er genüsslich herum kaute. Er schien zufrieden zu sein, wie eigentlich fast jeden Tag. Selten sah Lizzie ihn betrübt oder gar mürrisch durch den Tag gehen, immer war er für ein Spass aufgelegt und machte sich nicht viel aus Problemen und Sorgen. «Wo wir wohl in zehn Jahren sind?», sprach er und drehte sich mit einem nachdenklichen Lächeln zu Lizzie um, welche gerade den kleinen Marienkäfer

über ihre schlanken Finger krabbeln liess. «Die Frage ist wohl mehr, wie wir sind. Wo wir sind spielt doch keine Rolle», antwortete Lizzie und bettete ihren Kopf auf seine Brust. Deutlich konnte sie seinen Herzschlag spüren, sein regelmässiger Atem und das Anspannen seiner Bauchmuskeln, wenn er lachte. «Interessant. Du meinst also, dass der Ort an dem wir leben, egal ist?» Lizzie nickte und ihr Blick glitt zum Himmel, wo sich grosse, weisse Wolken zu riesigen Himmelschlösser auftürmten und auf ein baldiges Unwetter hinwiesen. Wie es wohl wäre, darin zu wohnen? «Wieso machen wir uns überhaupt solche

Gedanken. Ich meine, wir werden eh für immer hierbleiben», erwiderte Lizzie und erntete von Eric ein spöttisches Schnauben. «Du wirst die Mühle übernehmen und ich meinen Eltern am Hofe helfen!» «Und wenn ich das nicht möchte?», knurrte er und begann kleine Steinchen in den Weiher zu werfen, welche mit einem dumpfen Platsch in die Tiefe sanken. Lizzie runzelte die Stirn und drehte ihr Gesicht zu seinem. Sie konnte jedes noch so einzelne Haar seines Bartes erkennen, jede Unebenheit und jedes noch so kleine Muttermal. «Ich dachte, du magst die Arbeit»,

bemerkte sie, obwohl sie genau wusste, was er fühlte und was seine Beweggründe dazu waren. Im Gegensatz zu ihr fürchtete er sich überhaupt nicht vor der Fremde und würde am liebsten heute das Dorf verlassen. «Als ob du dein ganzes Leben hier verbringen möchtest!», sagte er ironisch, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Abrupt stand er auf und klopfte sich den Dreck von seiner Hose. Mit gerunzelter Stirn verfolgte Lizzie jeder seiner Bewegungen, wie er mit verschränkten Armen da stand und auf den Weiher blickte. Das Wasser widerspiegelte den feuerroten Himmel und glitzerte im Licht der untergehenden Sonne. Ein

Schwanenpärchen schwamm seelenruhig ihre Bahnen, einige Tauben und Schwalben flogen durch die Wolken und die letzten Bienen suchten in den bald verdorrten Blumen nach süssem Nektar. «Ich mag es hier!», antwortete Lizzie und drehte sich auf den Bauch. «Wir haben hier so schöne Momente erlebt.» Eric seufzte leise und strich sich gedankenverloren durch die Haare. Unschlüssig verharrte er, ehe er sich wieder neben sie zu Boden setzte. Seine Finger spielten nun unruhig mit einem glatt geschliffenen Stein, welcher er in kreisenden Bewegungen um seine Hand fahren liess. «Uns geht es hier im Vergleich zu

anderen Dörfern sehr gut. Unsere Eltern haben ein sicheres Einkommen, wir haben genug Essen, wir sind noch gesund – was wollen wir mehr?», fuhr Lizzie fort und stützte ihr Kinn auf ihren angewinkelten Arm ab. Wie oft hörte sie diesen Satz von ihrer älteren Schwester. Sie kannte die Gedanken, welche Eric hatte, nur zu gut. «Du hast schon recht!», murmelte er und der nachdenkliche Ausdruck auf seinen Augen verschwand und sein zynisches Lächeln schlich sich wieder auf sein Gesicht. «Also – du kommst heute Abend, ja!», sprach er und blickte sie durchbohrend

an. Genervt stöhnte Lizzie auf und rollte mit den Augen. Er liess nicht locker. Heute Abend fand das Vorerntefest statt, welches Arlington Mill jährlich für die jungen Erwachsenen der umliegenden Dörfer veranstaltete und jedes Mal ein grosses Ereignis war. Es gab selten bis nie eine solche Gelegenheit, wo sich die Jungen ausgelassen amüsieren konnten. «Wie gesagt, ich kann wirklich nicht», erwiderte sie und begann mit einer roten Haarsträhne zu spielen. Es war nicht so, dass Lizzie schüchtern war, im Gegenteil. Aber sie fühlte sich einfach nicht wohl unter vielen Menschen. Soziale Kontakte waren

immer mit Erwartungen und Verpflichtungen verbunden und diese verunsicherten sie. Schon öfters ist es vorgekommen, dass sie durch ihre lockere Zunge nicht nur sich selber, sondern auch ihren Gegenüber beschämt oder sogar blamiert hatte. Kurz gesagt, sie war nicht gut im Umgang mit anderen Menschen. „Ach komm schon. Du vereinsamst noch", hakte Eric nach und blickte sie vorwurfsvoll an. „Jetzt hör doch auf!", schnauzte Lizzie gespielt wütend zurück. Beschwichtigt hob er seine Arme in die Luft und brachte sie zum Schmunzeln. „Du bist ein

Tölpel!" „So! Jetzt reichts aber. Wenn du nicht kommst, dann bringe ich dich dort hin!", knurrte Eric und packte sie in einer schnellen Bewegung. Wie ein Mehlsack warf er Lizzie auf seine Schultern, welche versuchte, ernst zu bleiben. Mit empörtem Gesichtsausdruck begann sie auf seinen Rücken zu hämmern und zappelte mit ihren Beinen. „Eric! Wenn uns jemand sieht!", zetterte sie und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien. „Mein Rock!" Ihn schien das nicht weiter zu stören, denn er lief unbeirrt den Hang empor. Seine Arme umschlossen ihr Gesäss und

seine Hand lag warm auf ihrem Oberschenkel. Wenn sie jemand sehen würde – die Gerüchte würden kein Ende nehmen! „Eric, bitte!", flehte sie nun mit langsam ängstlichen Ton, als sie sich langsam der Gasse näherten. Lizzie wusste genau, dass er es ernst meinte. Er würde sie ohne Scham und Rückhalt bis vor die Tore von Arlington Mill tragen. „Tja, Pech gehabt!", erwiderte er lachend und begann fröhlich vor sich hinzupfeifen.

Kapitel 2 - Bittere Realität

September, 1769 / England, Bibury „Lizzie!" Für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, ihr Herz würde stehen bleiben, als die bekannte Stimme ihr kindliches Treiben durchbrach. Sofort spürte sie, wie die Hitze in ihr Gesicht stieg und die Angst sich in ihr breitmachte. „Lass mich runter!", zischte sie mit zitternder Stimme in Erics Ohr und diesmal befolgte er ihren Befehl. Ihn schien die Situation aber überhaupt nicht unangenehm zu sein, denn mit selbstgefälligem Blick, ohne sein Liedchen zu unterbrechen, liess er Lizzie

vorsichtig wieder auf die Füsse zurück. Beschämt blickte sie zu Boden und strich ihr Kleid glatt. Ihr älterer Bruder stand mit verschränkten Armen und wütendem Blick am Wegesrand und starrte auf sie hinunter. „Nun komm. Sie warten bestimmt schon auf uns!", rief er, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Jetzt hast du den Salat. Danke auch!", knurrte Lizzie wütend, musste aber bei Erics theatralischem Augenverdrehen schmunzeln. „Dummkopf!", zischte sie noch, ehe sie ihren Rock straffte und eilig das letzte Stück den Hang hinauf rannte. Ihr Bruder warf ihr einen zornigen Blick

zu, als sie schnell atmend neben ihm stand und schüttelte bloss den Kopf und packte sie bestimmt am Arm. "George. Wir... Ich...", versuchte sich Lizzie zu erklären, wurde aber von einem bestimmten Zischen von ihm zum Schweigen gebracht. Ohne weitere Worte zu verlieren, zog er sie weg und gemeinsam liefen sie den Weg in Richtung Hof zurück. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie noch, wie Eric mit geballten Händen und versteinertem Gesicht ihnen nachblickte, ehe er aus ihrem Sichtfeld verschwand. Die Sonne war bereits fast untergegangen und ein kalter Wind wehte nun durch die engen Gassen. Eine feine Gänsehaut

breitete sich über ihre Haut aus und die Kälte legte sich wie ein schwerer Mantel über ihren Körper. Zitternd schlang Lizzie ihre Arme um die Brust, wobei sie einen spöttischen Blick von George erntete. Ein angenehmer Geruch nach gebratenen Kartoffeln zog ihr um die Nase und liess ihren Magen knurren. Zwar freute sie sich auf ein sättigendes Abendessen, aber auf das Donnerwetter, dass sie sich mit Eric herumgetrieben hatte, lastete wie eine schwarze Wolke auf ihr. Ein paar bekannte Gesichter kreuzten ihren Weg und jedes Mal tauschte George ein paar Worten mit ihnen. Im Gegensatz zu ihr beherrschte er die

Kunst des Gespräches sehr gut. Er war ein angesehener, junger Mann. Die Leute schätzten seine Aussagen, denn wie sein Vater strebte auch er eine politische Laufbahn an. Währenddessen stand Lizzie brav daneben, still schweigend, ihre Hände vor ihrem Bauch gefaltet, ein höfliches Lächeln auf ihren Lippen. Wie es sich für eine Frau gehörte. Sie wollte ihren 10 Jahre älterer Bruder nicht noch mehr verärgern. „Wie oft hat dir Vater schon gesagt, dass du dich nicht mit ihm abgeben sollst!", durchbrach George das Schweigen, als sie fast den Hof erreicht hatten. Sein vorwurfsvoller Ton griff Lizzie wie scharfe Messerklingen an und bohrte sich

tief in ihr Herz. Er hat solange gewartet, bis sie wirklich alleine waren, sodass niemand sie hören konnte. Ihm war der äussere Ruf so wichtig, wohl wichtiger als das Wohlergehen seiner eigenen Schwester. „Aber wieso denn?", erwiderte Lizzie kühl und beschleunigte ihre Schritte. Dieses merkwürdige Verhalten zwischen den Familien kam so überraschend über Nacht. Wo zuvor noch ein so freundschaftliches Verhältnis war, herrschte nun Bitterkeit und Hass. Man ging sich aus dem Weg, sprach bei vorgehaltener Hand schlecht über sie und legte ihnen bewusst Steine in den Weg. Die Ursache wurde nie genannt, nicht

mal zu Lizzie. „Du weisst ganz genau, dass unsere Familie im Streit liegen!" „Dann gib mir einen guten Grund und ich werde mich nicht mehr mit ihm treffen!", erwiderte Lizzie und ballte ihre Hände zu Fäuste. Ihr Bruder schien zu merken, dass sie sich sträubte, was ihn noch verärgerter machte. Er war ein scheusslicher Perfektionist, ein Mustersohn und hielt viel von den alten Traditionen und konservativen Denkweisen. Teilweise hatte Lizzie sogar das Gefühl, als würde er sich für sie verantwortlich fühlen, weil Vater genug Dinge um die Ohren hatte und er den Hausherr spielen

musste. Dafür konnte sie gut auf sich selber aufpassen! Mit diesem Gedanken blieb Lizzie stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn wütend an. „Wieso weiss ich nicht Bescheid? Weil ich eine Frau bin? Ist es das?" Die Worte verliessen voller Abschaum ihre Lippen und hinterliessen einen bitteren Nachgeschmack. Die Wut jagte kochend heiss durch ihre Adern und ihr Herz pochte wild gegen die Brust. „Lizzie. Achte auf deine Wortwahl!", knurrte George und machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. Sie wusste, dass er ihr niemals etwas antun würde. Eher würde er es Vater

sagen und er würde den Weidenstock aus der obersten Schublade seines Arbeitstisches herausholen. Aber sollte er doch - dieses Mal war es ihr egal! „Es ist doch das, nicht? Weil ich keine Ahnung habe!" Verächtlich blickte sie ihn an und schüttelte den Kopf. „Was ist nur aus dir geworden, George! Die Politik vernebelt dir dein Gehirn. Du verlierst den Kontakt zum Boden!" Mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte das letzte Stück den Hang empor. Der Wind riss an ihren Haaren und liess ihr die Tränen in die Augen steigen. Lizzie war bewusst, dass sie in der Gesellschaft keine Rechte hatte, dass

sie sich den Regeln und Anforderungen beugen musste, aber Zuhause wollte sie ihre Stimme nicht verlieren. Niemals. Einige Hühner flogen gackernd auseinander, als Lizzie das Tor aufriss und mit eiligen Schritten den Vorhof entlang schritt. Schlamm spritzte ihre Beine hoch und besudelte ihr Rockzipfel und ihre Knöchel. Ihre nackten Füsse waren bereits schwarz von all dem Dreck und auch ihr Kleid war nass und von Grasflecken übersät. Es störte sie aber nicht im Geringsten. Ohne zu zögern, öffnete sie die Haustür und betrat den dunklen Raum. Der Geruch nach Holz, Stroh und Moder stieg in ihre Nase und liess ihr Gemüt ein

wenig beruhigen. Hier unten lagerte ihr Vater verschiedene Werkzeuge und alte, kaputte Holzwaren, welches sie im Winter als Brennholz verwenden konnte. Früher machte sich Lizzie mit ihren älteren Geschwistern ein Spass daraus, wie eine Katze auf den Ablagen auf Mäuse zu lauern. Teilweise hockten sie bis zu zwei Stunden in einer Ecke, ehe sich eine ahnungslose Maus aus ihrem Loch kroch und von ungeschickten Händen gepackt wurden. Gefangen haben sie noch nie eine, aber es hatte immer grossen Spass gemacht. Eilig streifte sie sich die Holzschuhe über, damit Mutter nicht auch noch einen Nervenzusammenbruch bekam, und

kletterte die steile Holztreppe hinauf, welche in den Wohnbereich führte. Auch hier war es dunkel, denn fast kein Licht drang durch die kleinen Fenster in den Innenraum. Die Wände bestanden entweder aus dunklem Holz oder waren vom Russ aus der Küche schwarz gefärbt. Kerzen zündeten sie nur am Abend an. In einem Haushalt, wo es oftmals drunter und drüber ging, war das Feuer ein Spiel mit dem Teufel. Möglichst leise schlich Lizzie durch den Gang und lauschte nach verdächtigen Geräuschen. Das Feuer knisterte bereits fröhlich im Kachelofen vor sich hin und aus der Küche hörte sie das Scheppern von Pfannen und ein leises Summen. Ihre

Mutter war wohl noch am Kochen, was bedeutete, sie war noch nicht zu spät beim Abendessen. Dieser Gedanke erleichterte sie, denn in ihrer Familie galt es schon fast als Sünde, nicht beim gemeinsame Abendbrot dabei zu sein. So entging sie einer Strafe weniger. Ihr Vater sass bestimmt im Obergeschoss in seinem Arbeitszimmer, oder war noch im Stall. Ihr blieb also noch ein wenig Zeit, die verräterischen Spuren zu beseitigen und den Schein einer artigen Tochter zu bewahren. Als sie von unten die Tür ins Schloss fallen hörte und laute Schritte die Treppe hinauf gepoltert kamen, huschte sie in ihr kleines Zimmer, welches sie mit

ihren beiden Schwestern teilte. Eilig zupfte sie die Blätter und Gräser aus ihren Haaren und flocht sie zu einem langen Zopf. Mit geübten Griffen entledigte sie sich dem dreckigen Kleid, warf es achtlos in eine Ecke und streifte sich ein einfaches Leinenkleid über. Deutlich hörte sie von draussen die Stimmen ihres zweiten Bruders und Vaters, welche gemeinsam von der Arbeit kamen. Sie musste sich beeilen! Hastig goss sie das eiskalte Wasser in eine kleine Schüssel und wusch sich schnell das verschwitzte und dreckige Gesicht. Die Kälte tat gut und kühlte ihr aufgebrachtes Gemüt. Mit einem tiefen Atemzug band sie sich die Schürze um

die Hüfte und zupfte ihr Kleid zurecht, als es auch schon an der Tür klopfte. Schmunzeln über ihre geübte Verwandlung setzte sich Lizzie auf den Stuhl, schnappte sich die Bibel und schlug wahllos eine Seite auf, als auch schon ihr Vater das Zimmer betrat. Mit unschuldigem Blick und leicht geneigtem Kopf schaute sie ihn an und entlockte ihm ein Lächeln. Er war ein bulliger Mann von beachtlicher Grösse und Statur. Und obwohl seine zuvor dunkelbraunen Haare bereits an einigen Stellen ergraut waren, strahlte sein braungebranntes Gesicht noch jung und frisch. Von ihm stammten auch die funkelnd grünen Augen, welche zu

Lizzies Missfallen nur seine Söhne bekommen hatten. „Lizzie. Ich muss nach dem Abendessen mit dir reden!", sprach er und blickte sie prüfend an. Er wusste genau, dass Lizzie ihm alles nur vorspielte, aber solange sie ihn nicht anlügen würde, konnte er ihr Verhalten akzeptieren. Obwohl ihr Benehmen ihm teilweise sauer aufstiess und es schon öfters die Grenze überschritten hatte, schätzte er ihre offene und neugierige Art sehr. Lieber hatte er eine solche Tochter, als ein verwöhntes Flittchen, das nicht mit beiden Beinen im Leben stand. Dennoch konnte er die Erzählungen von George nicht

unbeachtet stehen lassen. Sie musste verstehen, was für ihre Familie auf dem Spiel stand und wie ihr ungezügeltes Verhalten ihren Ruf zerstören konnte. „Natürlich, Vater!", erwiderte Lizzie mit sanfter Stimme, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. Er blieb noch einen kurzen Moment im Türrahmen stehen, seufzte dann hörbar und lief kopfschüttelnd davon. Erleichtert atmete Lizzie auf und legte die Bibel weg. George hatte ihm also alles erzählt – was für eine hinterhältige Gans. Vater wirkte aber auf sie nicht besonders aufgebracht oder wütend, eher nachdenklich. Wer weiss, vielleicht würde sie heute den Grund für die Fehde

zwischen den Familien erfahren. Als sie das Esszimmer betrat, wurde sie bereits von dem stechenden Blick von George erwartet. Sein Gesichtsausdruck war düster, sein Kiefer angespannt und seine Finger fest um das Messer geklammert. Zuckersüss lächelte ihn Lizzie an und machte einen Knicks, ehe sie in die Küche zu ihrer Mutter trat. Wie immer herrschte hier pures Chaos. Mit geröteten Wangen und verschwitztem Gesicht wirbelte ihre Mutter umher, scheuchte ihre Kinder mit dampfenden Töpfen nach draussen und würzte das restliche Essen mit Kräutern aus dem Garten. Obwohl es fein nach gebratenen Kartoffeln und Pilzen roch, kratze der

Rauch in Lizzies Lungen und liess sie husten. „Nimm deinen Bruder und schau, dass sich Anna richtig anzieht!", fuhr ihre Mutter sie an und jagte sie ohne weitere Worte wieder aus der Küche. Lizzie seufzte und ging den Befehlen nach. Kaum Zuhause und schon wartet arbeit auf einem. Tatsächlich war der kleine Paul von seinem Nachmittagsschlaf aufgewacht und schrie sich die Seele aus seinem winzigen Leib. Er war der Neuankömmling der Familie, ein Sommerkind und das schönste Baby, das sie jemals gesehen hatte. Mit leisem Summen nahm sie den Winzling aus der Wiege, wickelte ihn

neu ein, ehe sie in beruhigend an die Brust drückte und ihn leicht hin und her schaukelte. Der Kleine beruhigte sich sofort und sein Schreien verwandelte sich zu einem leisen Glucksen. Lizzie war froh, dass er die ersten drei Monate überlebt hatte. Nach zwei Fehlgeburten starben nicht nur zwei unschuldige Seelen, sondern auch fast ihrer Mutter. Die Hebamme war sich sicher, dass sie eine weitere nicht überleben würde. So war es nun ein Segen, dass es Paul gut ging und er die Familie um einen weiteren Sohn bereicherte. Doch die einkehrende Ruhe hielt nicht ewig. Mit lautem Gebrüll stürzte sich die kleine Anna auf Lizzie und brachte den

Kleinen fast erneut wieder zum Schreien. Mit quengelndem Ton, nur im Unterhemd bekleidet, rannte sie um die genervte Lizzie herum, zog an ihrem Rock und plapperte sie mit belanglosen Dingen voll. „Anna, zieh dich nun an. Ich habe heute keine Geduld mehr!", sagte Lizzie und jagte Anna mit genervter Miene in ihr Zimmer. „Wieso?", schnatterte sie und blickte sie aus ihren grossen, strahlend blauen Augen an. „Bitte!", stöhnte Lizzie und versuchte sich nicht ruckartig zu bewegen, um den Kleinen nicht aufzuwecken. Sie war müde und die hämmernden

Kopfschmerzen wurden auch immer stärker. Nun freute sie sich einfach nur auf ein sättigendes Abendessen und ihr warmes Bett. Aber wie sie ihre Familie kannte, gab es noch so einiges zu tun und der erholende Schlaf musste warten. Nachdem Lizzie mit Ach und Krach Anna einigermassen anständig angezogen bekommen hatte, der Kleine wieder zu schreien begonnen hatte und der Hund wild bellend um sie herum sprang, war sie mit den Nerven am Ende. Völlig ermüdet betrat sie mit den beiden Kinder das Esszimmer und wurde von den bereits hungrigen Familienmitglieder amüsiert betrachtet. „Na?", begrüsste Albert sie, als sich

Lizzie mit einem erschöpften Seufzen neben ihm auf einen Stuhl fallen liess. „Hast du die Kinder wieder fertig gemacht?" „Eher umgekehrt!", spöttelte Lizzie und unterdrückte sich ein Gähnen. Ihr Magen knurrte und beim Anblick der braungebrannten Kartoffeln, zusammen mit dem frischen Schafskäse lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Maya, die Zweitjüngste in ihrer Familie, blickte sie schelmisch an. Seit dem sie in das Alter gekommen war, wo sie ihre Umwelt förmlich aufschlang und alles genaustens beobachtete und wieder gab, war es gefährlich, irgendwelche schlimme Wörter oder Taten in ihrer

Gegenwart zu tun. Meistens merkte sie sich nämlich genau die Sachen, die sie in ihrem zarten Alter noch nicht wissen sollte. Dennoch war sie der Sonnenschein der Familie. Zwar ebenfalls ein kleiner Wirbelwind, aber wirkte mit ihren grossen Augen und langen Wimpern wie ein kleiner Engel. Im Gegensatz zu Lizzie hatte sie ein rundes, ebenmässiges Gesicht, welches immer voller Freude erstrahlte. Wie oft hörte Lizzie bereits, dass sie nicht immer so verdriesslich in die Welt blicken sollte. Dafür lag dieser leicht genervte Blick an ihre hoher Stirn und tiefliegenden Augenbrauen, die sie grimmiger erschienen liess, als sie

eigentlich war. „Alle Schafe noch beisammen?", fragte Margot zu Albert gerichtet, welcher gerade den Dreck aus seinen Fingern pulte. „Alle da. Haben den Sommer auf der Weide gut überstanden. Fett waren gewisse – das sag ich dir!", erzählte er und erntet von den Brüdern zustimmendes Nicken. „Das erste Jahr, dass wir keine schlachten müssen, um den Winter zu überleben! Auf unser Geschäft!", rief Samuel, der andere Bruder von Lizzie, und setzte sich mit einem zufrieden Lächeln neben sie. Nachdem auch ihr Vater am Tisch sass,

beteten sie zusammen ein kurzes Tischgebet, ehe sich die hungernden Mäuler über das leckere Essen stürzten. Eine lange Zeit sprach niemand, alle liessen sich das frisch geerntete Gemüse schmecken. Nur das Klappern von Messer und das genüssliche Schmatzen war zu hören. Lizzie genoss jeden Bissen der dampfenden Kartoffeln mit dem zerlaufenden Schafskäse. Nachdem der erste Hunger gestillt war, wurde dann auch der Tag diskutiert. Nur halbherzig lauschte Lizzie den Erzählungen ihrer Familie. Ihre Gedanken hingen immer noch beim Streit mit George und was Vater nun zu ihr sagen würde. Sie ahnte das Schlimmste.

Wie erwartet wurde sie nach dem Abendessen aus der Küche in Vaters Arbeitszimmer gerufen. Mit nachdenklicher Miene sass er am Schreibtisch, welcher über und über mit Pergamentblätter übersät war und schrieb mit seiner weissen Feder. Die einzige Kerze, warf dunkle Schatten auf sein Gesicht und liess ihn älter wirken, als er eigentlich war. Als die Tür hinter Lizzie ins Schloss fiel, schreckte er aus seinen Gedanken auf und blickte sie an. Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen und mit einer Handbewegung

wies er sie an, vor ihm Platz zu nehmen. Lizzie war selten in diesem Zimmer, eigentlich fast nie. Es war der heilige Ort von ihrem Vater. Hier führte er wichtige Gespräche oder vergrub sich in seine Blätter. Es war strengsten verboten, nur ein Fuss ohne seine Bewilligung in diesen Raum zu machen, was sie als Kind schon öfters schmerzvoll lernen musste. Ihre Hände waren schweissnass und ihr Herz klopfte wie wild gegen ihre Brust. Der Stuhl knarrte, als sie sich vorsichtig nieder liess und ihren Rock glatt strich. „Du fragst dich jetzt bestimmt, wieso ich dich hergeholt habe!", begann ihr Vater zu sprechen und faltete seine Hände vor

seinem Gesicht. Lizzie schluckte und spürte, wie das Kribbeln in ihrem Bauch stärker wurde. Irgendetwas lag im Busch, sie wusste nur nicht was. „Wegen Eric – ich verstehe es einfach nicht!", stotterte sie und wurde von einem ermahnenden Blick von ihrem Vater unterbrochen. „Um das geht es hier nicht. Du sollst dich einfach von ihm fernhalten. Er hat einen schlechten Einfluss auf dich!", erwiderte er kühl. „Aber Vater!" „Kein aber! Was ich sage, hast du zu befolgen, verstanden?", befahl er und blickte sie finster an. Bereits jetzt

konnte sie spüren, dass ihm irgendetwas auf der Leber lag. Irgendetwas schien ihn zu reizen, er verlor selten die Fassung. Lizzie nickte und senkte ihren Kopf. Tief atmete sie durch und versuchte ihre aufkeimende Wut zu bändigen. Nur ein einziges Widerwort und Vater würde den Stock holen. Er war eigentlich sehr tolerant und liebevoll. Aber wenn man ihm widersprach oder seine Autorität in Frage stellte, konnte er es nicht dulden. „Lizzie, es geht um etwas anderes. Du wirst bald eine Frau sein oder bist es schon!" Er blickte sie mit hochgezogener Augenbraue an. „Bestimmt hast du schon gemerkt, dass unser Geschäft wächst und wir es immer weiter

ausbauen!" Das Gespräch nahm zu ihrem Erstaunen eine ganze andere Wendung ein. Was wollte er von ihr? Skeptisch, mit zusammengekniffenen Augen starrte sie ihn an und versuchte sein Gesicht zu lesen. „Was meinst du damit, Vater?" „Lizzie, du kennst doch Mr. Winterbottom. Ein wohlhabender, alter Mann und ein einflussreicher Geschäftsmann von Bath!" „Der alte Greis mit der grossen Weberei und dem Anwesen?", erwiderte sie und ihre Augenbrauen zuckten nach oben. Ihr Vater nickte und seine Hände spielten nervös mit dem Tintenglas.

„Er wird bald von uns gehen. Sein Erbe wird an seinen noch ledigen Sohn weitergegeben." Seine letzten Worte versetzen Lizzie in tiefes Entsetzen. „Vater, ich verstehe nicht?", stotterte sie. „Da wir Geschäftspartner sind und wir ihm viel zu verdanken haben, machte er uns ein Angebot. Einer unserer Töchter wird seinen Sohn heiraten. Unsere Familien würden vereint werden und somit auch unsere Geschäfter!", erklärte er und wartete mit malmenden Kiefer auf die Reaktion von seiner Tochter. „Aber – Margot ist ja bereits schon

verheiratet!" „Herrgott nochmal! Jetzt stell dich nicht dumm. Du wirst ihn heiraten und das Bindeglied zwischen unseren Familien sein!" Als diese klaren, nicht mehr interpretierbaren Worte in Lizzies Bewusstsein drangen, war sie geschockt. Schweigend, mit geweiteten Augen starrte sie an, unfähig etwas zu erwidern. „Was hältst du davon?", fragte ihr Vater sie und streckte seine Hände nach ihren aus. „Ich weiss, du musst ein Opfer bringen, aber es wäre die Gelegenheit!" „Aber Vater. Ich kenne ihn nicht, ich weiss nicht wer er ist, ich..." Ihre Stimme brach ab und Tränen schossen in

ihre Augen. Sie wusste genau, dass dieser Beschluss bereits fest stand und es keine Widerrede gab. „Verdammt Lizzie! Das ist unsere Chance. Wir könnten unseren Hof erweitern und somit auch unser Geschäft. Du könntest eine berühmte Schneiderin werden, vielleicht irgendwann an den Königshof liefern. Überleg doch mal. Du würdest glücklich werden!" Tränen kullerten über Lizzies Wangen, welche sie eilig weg blinzelte. Entgeistert starrte sie ihn an, unfähig sich zu bewegen. „Vater, ich bin dreizehn Jahre alt. Und du willst mich wie ein Pferd verkaufen?", stotterte sie und ihre

Lippen zitterten bei jedem Wort. „Alle heiraten aus Liebe. Wieso darf ich das nicht?" Ein verbittertes Lachen entfuhr ihrem Vater und er lehnte sich mit verschränkten Armen nach hinten. „Liebe. Immer dreht sich bei den Frauen alles um Liebe. In den heutigen, unsicheren Zeiten kann man damit nicht viel anfangen." Mit quietschendem Stuhl stand er auf und kam mit grossen Schritten auf Lizzie zu. „Merk dir eines, Lizzie" Seine Hände lagen schwer und bedrohlich auf ihrer Schulter. Jedes Wort verliess im kalten, gebieterischen Ton seine Lippen und

bohrten sich tief in Lizzies naives Herz, „Liebe ist etwas für Schwache, Träumer, die es nie weit im Leben bringen. Liebe existiert in dieser Welt nicht mehr!"

Kapitel 3 - Festliches Treiben

Septmber, 1769 / England, Bibury

Surrend drehte sich das Spinnrad im Kreis. Regelmässig, immer während. Wie rastlose Geister huschten die dünnen Fäden um die Spule, verwickelten und verwebten sich zu einem Strang. Aus einer Wolke aus feiner Wolle wurde ein hauchdünner, glitzernder Faden gesponnen. So zart und zerbrechlich und dennoch könnte er eine Kehle durchschneiden. Mit gekrümmten Rücken, gesenktem Kopf und trüben Blick sass Lizzie da und

bewegte teilnahmslos das Rad. Ein leises Summen verliess ihre bläulichen Lippen, das ihr aufgebrachtes Temperament ein wenig beruhigen liess. Die getrockneten Tränen hinterliessen Schlieren auf ihren Wangen und ihre Augen brannten und waren gerötet. Die Wolle löste sich zwischen ihren aufgeschürften Finger immer mehr auf, er entglitt ihr, Umdrehung für Umdrehung. Sie schien die Kontrolle zu verlieren, wurde mitgezogen im Fluss der Zeit. War einmal das Rad in Bewegung, war es schwer, es auch wieder zu stoppen. Nur das Licht einer kleinen Kerze erhellte das staubige Zimmer und warf tanzende Schatten an die Wand. Es war

kalt und trotz der Wolldecke fror Lizzie bitterlich. Sie fühlte sich traurig und wütend zu gleich. Niemals hätte sie gedacht, dass Vater ihr das antun würde. In ihren kühnsten Träumen hätte sie es sich nicht vorstellen können, schon bald verheiratet zu sein. Sie wollte das nicht, noch nicht. Sie war noch so jung, unerfahren und frei. Ausserdem kannte sie diesen jungen Mann nicht, hatte ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. Wie also sollte sie ihn heiraten? Ihr Herz wurde ganz schwer und ein belastendes, zusammenziehendes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Natürlich verstand sie auch die Argumente ihres Vaters. Es war eine äusserst gute

Gelegenheit, ihren Hof und somit auch ihr Geschäft zu erweitern. Generationen von Generationen haben dafür so hart gearbeitet und Lizzie war bestimmt nicht die einzige Frau, die für solche Zwecke verheiratet wurde. Doch war es dies Wert, das Leben der eigenen Tochter aufs Spiel zu setzen? Sie bezweifelte es stark. Dennoch war ihr auch klar bewusst, dass sie nichts dagegen ausrichten konnte. Ihr Wort, ihre Stimme hatte keinen Wert. Vater war der Hausherr und bestimmte somit auch über die Familie und ihre Zukunft. Diesen Gedanken versetzte Lizzie wieder in Rage. Wie oft hatte ihre Mutter ihr aus der Bibel vorgelesen, besonders die

Stelle: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit deine Tage lange währen in in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt!" Aber wie konnte man ihnen nicht böse sein, wenn sie über das eigene Leben ohne Zustimmung ihrerseits entscheiden? Wer ausser Gott hatte die Macht, das eigene Leben zu leiten und zu bestimmen, wohin die Reise geht? Es fiel ihr so schrecklich schwer dieser Gedanke zu akzeptieren und der Wunsch auszubrechen, stieg Jahr für Jahr, je älter sie wurde. Sie staunte über jede Frau, die nicht aus Liebe geheiratet hatte. Die nun mit ihren fünf Kinder fröhlich durch die Stadt schlenderten und glücklich aussahen.

Doch Lizzies Blick und Ohren entging nichts. Sie erkannte sofort an den geschwollenen Augenringe, den geröteten Augen und dem aufgesetzten Lächeln, ob sie wieder still und einsam in ihrem Kämmerchen dem Leiden nachgab. Auch die blauen Flecken an ihren Oberarmen, Dekolletee und Hals entgingen ihren Adleraugen nicht und schon gar nicht das bitterliche, unterdrückte Heulen und Schluchzen, das Lizzie vernahm, wenn sie wieder in der Nacht durch die Gassen schlenderte. So ein Leben wollte sie nicht führen. Sie wollte sich nicht auflösen, wie die Wolle zwischen ihren Fingern. Sie wollte leben, frei sein und nicht gefangen im eigenen

Käfig. Da war sie sich sicher! Plötzlich riss sie ein leises Poltern aus ihren trüben Gedanken und sie blickte vom Spinnrad auf. Auf den ersten Blick war nichts ausser die knorrigen Äste der alten Eiche zu sehen. Wahrscheinlich windete es fest draussen und sie haben gegen die dünne Fensterscheibe gepeitscht. Gerade als sie sich erneut dem Spinnrad zuwenden wollte, ertönte ein weiteres Klackern, dieses Mal lauter und deutlicher. Als würde jemand kleinen Kieselsteine ans Fenster werfen. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, ihre Neugier war geweckt. Eilig strich sie sich die Tränen aus dem Gesicht und richtete ihr Kleid, ehe sie die Balken

nach oben schob. Zu ihrem Erstaunen erkannte sie im Schein der Laterne eine grosse Gestalt, die gerade am Boden nach etwas zu suchen schien. „Eric?", wisperte Lizzie und die Gestalt blickte auf. „Endlich! Dachte schon, du schläfst schon!", sprach er und strich sich grinsend durch die Haare. „Was machst du hier?", lachte Lizzie nervös und beugte sich weiter aus dem Fenster. „Du solltest nicht hier sein!" „Dich abholen. Komm schon, sonst klettere ich zu dir hinauf!", sprach er und machte eine Andeutung auf die alte Eiche. Lizzie zögerte und blickte nach hinten.

Sein Angebot schien unter den aktuellen Umständen verlockend zu sein. Dennoch wusste sie, dass sie riesen Ärger bekommen würde, wenn man sie erwischen würde. Aber auf der anderen Seite – was hatte sie schon zu verlieren. Vielleicht gelangte sie genau durch solche Sachen an ihre Freiheit. „Warte auf mich!", flüsterte sie zu ihrem eigenen Erstaunen und löste sich vom Fenster. Nun hatte es wohl etwas Gutes, in einer kleinen Schneiderfamilie aufgewachsen zu sein. Hier oben bewahrte Mutter ihre Bänder und Maschen auf, die sie für ihre Websachen brauchte. Mit klopfendem Herzen kramte sie in der alten Kiste

herum, bis sie ein blaues Band zwischen ihren Händen hielt und eine alte Brosche fand. In geübten Handgriffen band sie es um ihre Taille, um das einfache Leinenkleid ein wenig aufzuhübschen und steckte sich die Brosche an ihre Brust. Sie sah zwar immer noch schrecklich langweilig und normal aus, aber für einen solch fluchtartigen Abgang musste es reichen. Mit einem spöttischen Blick auf das Spinnrad schwang sie sich aus dem Fenster. Die kalte Abendluft wehte ihr entgegen und liess sie ihrem müden Geist erwachen. Wann stand sie das letzte Mal an diesem Ort, der Stamm der Eiche einige Meter von ihr entfernt, schwarze

Tiefe unter ihren Füssen. Wie oft flüchtete sie früher aus diesem Raum, um mit ihren Geschwistern noch weiterhin draussen spielen zu können. Tief atmete Lizzie durch, blickte ein letztes Mal zurück, ehe sie mit einem entschiedenen Atemzug sich vom Fenster löste und in die Dunkelheit sprang. Leicht wie eine Katze landetet sie auf dem Stamm der Eiche, was pure Euphorie in ihr auslöste. Triumphierend blickte sie zu Eric hinunter, welche sie mit grossen Augen anschaute. „Nicht schlecht!", flüsterte er und erntete von ihr ein leises Lachen. „Nun musst du nur noch hinunterkommen!" Dies liess sich Lizzie nicht zwei Mal

sagen. Mit einem spöttischen Schnauben landete sie vor seinen Füssen im Gras und strich sich das Kleid glatt. Ihre Augen funkelten aufgeregt und ihr Herz klopfte wild gegen ihre Brust. Noch nie hatte sie sich so rebellisch und mächtig gefühlt. Tief atmete sie die frische Nachtluft ein und schüttelte die dunklen Gedanken von ihr. Sie war eine freie Seele und das würde sie auch bleiben! „Gehen wir!", sagte sie entschieden und ohne sich ein weiteres Mal umzublicken, eilten sie in Richtung Arlington Mill. Stumm liefen die beiden nebeneinander die menschenleere Gasse entlang. Ein angenehm kühler Wind strich um sie und trug den Geruch nach Regen und nassem

Gras mit sich. Ab und zu durchbrach das Rufen einer Eule oder das Bellen eines Hundes die Stille, ansonsten war nichts als ihre Schritte und ihr regelmässiger Atem zu hören. Der Himmel spannte sich wie ein blaues Seidentuch über ihren Köpfen und die Sternen funkelten hell und prachtvoll. Deutlich war die Spannung zwischen ihnen zu spüren. Das Prickeln, das sich vom Bauch über den ganzen Körper ausbreitete. Vielleicht war dies auch der Grund, dass beide sich nicht trauten, etwas zu sagen und den Moment zu zerstören. Jeder hing seinen eigenen Gedanken, war in seinem eigenen Kopf und dennoch vollkommen beim anderen.

Erst als sie beim Tor des grossen Anwesens angekommen waren, aus welchem bereits die beschwingten Klänge der Musiker zu hören war, drehte sich Eric zu ihr um und blickte sie mit stolzem Blick an. „Sag jetzt einfach nichts!", sprach Lizzie und zwinkerte ihm zu. Sie wusste genau, dass er seine Überzeugungskraft als Grund für ihr Dasein hielt, aber dies war es nicht. Es geschah aus purem Trotz, ein kindliches Verhalten, für welches sie sich bereits jetzt schämte. Doch meine Güte – sie war noch ein Kind und durfte sich demnach auch so verhalten. Sie hatte genug davon, dass ihre Familie so

sehr auf das Geschäft und ihre Existenz bedacht war. Dafür war das Leben gar nicht so kompliziert und schwer, wie sie es immer sagten. Dies glaubte Lizzie zumindest. „Schön, dass du da bist!", erwiderte Eric mit einem warmen Lächeln und seine Hand strich zärtlich über ihre Schultern und hinterliess in ihr ein prickelndes Brennen. Lizzies Wangen erröteten spürbar und sie senkte schnell ihren Kopf. „Ich bin froh, dass ich mitgekommen bin!", murmelte sie leise. Das war sie wirklich. Gemeinsam betraten sie den grossen Stall, was im Winter als Vorratskammer

für den Landslord genutzt wurde, für den heutigen Tag aber festlich hergerichtet wurde. Bunte Bänder spannten sich von den Dachbalken durch den ganzen Raum und zusammen mit den Blätterketten, den geschnitzten Kürbissen und den Kastanien versetzte es Lizzie in Herbststimmung. Dutzende von Bänken wurden aufgestellt, worauf noch mehr Menschen von überall her sassen und ausgelassen bei Met, Wein und Gin feierten und tanzten. Lizzie konnte die Anzahl der Anwesenden fast nicht glauben. Es gab fast keine freie Fläche, überall drängten sich Menschen aneinander vorbei, assen und tranken. Die Luft war stickig und

heiss. Das laute Gelächter und Gegröle mischte sich zusammen mit den Klängen der Musiker zu einer überwältigenden Geräuschkulisse und auch sonst wurden jede ihrer Sinne nur so mit Reizen überflutet. Bereits nach den ersten paar Minuten war sie so gefesselt von der Musik und jede Faser ihres Körpers schien die rhythmischen Schläge der Trommler und die beschwinglichen Töne zu spüren und in sich aufzusaugen. Zwar noch schüchtern wiegte sie sich leicht hin und her, aber schon bald würde sie zusammen mit den Anderen in einer Freude tanzen. Währendessen blickte Eric nach seinen Freunden auf, welche auch schon bald

mit glasigen Augen und geröteten Wangen auf sie zukamen. Herzlichkeiten wurden ausgetauscht und obwohl Lizzie nur die wenigsten kannte, wurde sie freudig umarmt und empfangen. In einer selbstverständlich wurde ihr die erste Flasche Selbstgebranntes entgegengestreckt, welches Lizzie gerne entgegennahm. Süsslich und bitter zugleich schmeckte das Gebräu und liess sie husten. Es brannte höllisch in ihrem Gaumen, jedoch breitete sich schon bald eine angenehme Leichtigkeit und Wärme in ihrem Inneren aus. „Was?", fragte Lizzie Eric, als sie seinen prüfenden Blick bemerkte, währendem sie sich einen weiteren Schluck, zur

Freude seiner Freunde, aus der Flasche genehmigte. „Pass auf, das Zeug haut schneller rein, als du denken kannst!", bemerkte er mit spöttischem Unterton. Genervt rollte Lizzie mit den Augen, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. Eric hatte schon Recht. Sie war sich das Trinken von Alkohol überhaupt nicht gewohnt und auch sonst war sie ein purer Neuling, was das Festen anbelangte. Aber sie wollte die dunkle Stimme in ihren Inneren nicht mehr hören und am besten ging das wie bei einem alten Hahn - man ertränkt ihn. Die Zeit verging in Windes eile und ehe sich Lizzie versah, befand sie sich in

einer Menge aus tanzenden und lachenden Menschen, welche Schulter umschlungen im Kreis tanzten, ihre Beine in die Luft warfen, sich drehten, klatschten und aus voller Brust sangen. Jede Faser ihres Körpers war von der beschwingten Musik erfasst und es schien, als würde sie mit ihr verschmelzen. Ihre Bewegungen waren energiegeladen, wild und ein voller Ausdruck ihrer Freiheit und Jugend. Sie sprang durch die Luft, drehte sich, hüpfte und wurde eins mit der Musik. Ihre roten Haare wirbelten durch die Luft, leuchteten wie das schönste Abendrot und strahlten mit ihren Augen und Wangen um die Wette. Sie jauchzte

und lachte, spielte mit den Blicken und genoss die feinen Berührungen der jungen Frauen und Herren auf ihrer feuchten Haut. Immer wieder kreuzte sich ihr Blick mit dem von Eric, welche leicht abseits, mit einem schiefen Grinsen auf einer der Bänke mit seinen Freunden sass und immer wieder verstohlen zu ihr hinüber blickte. Lizzie genoss seine Aufmerksamkeit sehr und das Gefühl, welches sie seit heute Morgen verspürte, verstärkte sich Umdrehung für Umdrehung. Vielleicht war es auch der Alkohol, der sich deutlich spürbar wie eine flauschige Wolke um ihre Wahrnehmung legte und sie leicht und

luftig nach oben trug. Ihre Sorgen waren vergessen, ihre trüben Gedanken und Gefühle erstickt, in ihrer Brust brannte ein Feuer. „Tanz mit mir!", formte Lizzie mit ihren Worten, als sie wieder einen Blick auf Eric erhaschte. Er lächelte zurückhaltend und strich sich schüchtern durch die Haare. Mit einer spöttischen Bewegung drehte sich Lizzie wieder von ihm weg und versank wieder aus einem Meer aus wirbelenden Kleider. Alles verschwamm vor ihren Augen zu einer einzigen bunten Fläche. Ihre Drehungen wurden schneller, ihre Brust hob und sank sich und kleine Schweissperlen rannten ihren Hals hinunter.

Und plötzlich umfassten sie zwei starke Hände. Zogen sie in einer eleganten Bewegung zu einem strahlenden Eric, welcher sie mit geröteten Wangen warm anblickte. Das Feuer des Lebens in seinen Augen schien noch heller zu lodern und sein Lachen noch breiter und glücklicher. Lizzie konnte nicht anders als grinsen und eine Welle voller Freude durchfuhr ihren erhitzten Körper. In seinem starken und beschützenden Griff fühlte sie sich sicher, in seiner Anwesenheit völlig sich selbst. Trotz Erics teilweise tollpatschigen und unkoordinierten Schritten fügte er sich schnell in den Gruppentanz ein und auch

sein Gesicht strahlte voller Freude. Noch nie hatte Lizzie ihn so leidenschaftlich tanzen gesehen, wie er seinen stämmigen Körper zu den Klängen bewegte, und so filigran und stark zu gleich wirkte. Er schien die Umgebung völlig zu vergessen, nur er und sie und die Musik. Sie drehten sich, glitten wie Geister durch die anderen Menschen hindurch, berührten sich flüchtig, ehe sie sich wieder drehten, sich entfernten und sich die Blicke wieder kreuzten. Es war nur ein Tanz und doch glich es mehr einem Spiel der Leidenschaft.

Kapitel 4 - Nüchternes Aufwachen

September, 1769 / England, Bibury Still und friedlich legte sich der Nebel wie ein glitzerndes Seidentuch über das verschlafene Dorf

und hüllte alles in ein makelloses weiss. Die Sonne kam langsam hinter dem Horizont hervor, streckte noch schüchtern ihre warmen Strahlen in den jungen Tag hinaus und hüllte den Himmel in ein immer kräftig werdendes rot. Vögel schüttelten sich die Regentropfen von der vergangenen Nacht aus ihrem Gefieder und die letzten Rehe grasten

noch seelenruhig auf der Wiese. Die Luft war erfüllt mit dem leisen Bimmeln von den Glocken der Schafe, die sich langsam vom Boden erhoben und den Schutz unter den grossen Buchen verliessen. Es schien ein ganz normaler Tag zu werden, wie jeder bisherige. Nur die kreischenden Krähen, die in Schwärmen über das idyllische Dorf Bibury flogen, waren ein Zeichen für das einbrechende Unheil, das Werk des Teufels höchstpersönlich, das sich schon bald über das Leben von einigen verlorenen Seelen einnistete und sie bis zu der rettenden Erlösung verfolgen würde. Noch lagen die meisten Bewohner in

ihren warmen Betten und träumten von besseren Zeiten. Aus einigen Ställen drang bereits fröhliches Gepfeife, aber ansonsten waren die sonst so belebten Strassen menschenleer. Bis auf zwei graue Gestalten, die mit müden, aber glücklichen Blick, Hand in Hand, den Pfad in Richtung des Bauernhofes schlenderten. Lizzies rote Haare standen in alle Richtungen ab und glichen einer Vogelscheuche. Ihr blaues Kleid war mit Flecken übersät, ihre Schuhe hatte sie schon längstens ausgezogen, die nun lässig in ihrer anderen Hand baumelten. Ihre Augen waren gerötet und tiefe Augenringe zierten ihr fahles Gesicht.

Aber ihre Wangen strahlten rosig und ein feines Lächeln zierte ihre Lippen. Wäre da nicht ihr glasiger Blick und ihr nach Alkohol riechender Atem, hätte man annehmen können, sie hätte bis jetzt auf dem Feld gearbeitet. Eric sah hingegen schlimmer aus. Sein Gesicht war bleich und sein Gang glich der einer torkelnden Ente. Sein Mageninhalt konnte er zum Bedauern von Lizzie nicht bei sich behalten und auch jetzt schien er mit der Übelkeit noch zu kämpfen. Aber auch er wirkte ansonsten zufrieden. Er summte leise vor sich hin, lachte und kicherte und warf Lizzie immer wieder einen vielsagenden Blick

zu. Was am Anfang eine flüchtige Berührung war, glich nun einem innigen Festhalten und Beieinander sein. Beide konnten nun nicht mehr verheimlichen, dass das Knistern zwischen ihnen nur eine Einbildung war. Dennoch liefen sie stillschweigend nebeneinander her, genossen den anbrechenden Morgen und hingen den intensiven Momenten der vergangenen Nacht nach. Noch immer konnte Lizzie die Berührungen von Eric auf ihrer Haut spüren, die Musik in ihren Ohren hören, der Geschmack des Schnapses auf ihrer Zunge schmecken und die Glücksgefühle

in ihrem Inneren fühlen. Es war ein perfekter Abend, den sie nie wieder vergessen möchte. Selten hatte sie sich so frei und unbeschwert gefühlt. Doch dieses beschwingliche Gefühl verblasste langsam, je näher sie sich ihrem Zuhause näherte. Still und einsam lag es da, eigentlich sah es fast schon idyllisch aus, mit den hölzernen Verzierungen und dem elegant geschwungen Holzdach. Wäre da nicht die fiese Stimme, die Lizzie seit ihrem fluchtartigen Abgang mit bösartigen Worten und Flüchen zum Nachdenken brachte. Das sonst so vertrauensvolle Haus wirkte plötzlich so fremd, fast schon

bedrohlich. Ein Zuhause konnte sie es nicht mehr nennen. Ihre Bewohner waren ihr fremd geworden, besonders ihr Vater. Wieso kam sie überhaupt noch hier hin zurück? Wieso floh sie nicht einfach mit Eric in den Norden? Wie eine Welle stürzten sich die verdrängten Gefühle auf ihren zerbrechlichen Geist und liessen sie erzittern. Tränen stiegen in ihre Augen, welche sie eilig weg blinzelte. Sie wollte nicht, dass Eric davon erfuhr. Noch nicht. Sie brachte es nicht über ihr Herzen. Besonders jetzt nicht. Jetzt, wo alles so perfekt schien und ihre Gefühle mehr als klar zum Vorschein kamen. Sie wollte die glitzernde Blase, in der sie

sich gerade befanden, nicht zerstören. Vor allem wollte sie Eric nicht verlieren. Nicht noch eine Person, die sie wie Dreck zu Boden warf. Eric schien die Trauer in Lizzies Augen zu erkennen, denn seine Hände schlossen sich noch enger um die ihren. Leise atmete Lizzie durch und versuchte ihre aufkeimende Trauer zu bändigen. Doch Eric blieb stehen und legte seine Hand auf ihre Schulter. Eine angenehme Wärme durchflutete sie und ihre aufgebaute Mauer bröckelte. Mit seinen bernsteinfarbenen Augen blickte er sie durchbohrend an, fast so, als möchte er ihre Gedanken lesen. „Was ist los? Ich sehe doch, dass dich

etwas beschäftigt!", fragte er mit warmer Stimme und entlockte Lizzie ein leises Schluchzen. Doch sie schüttelte nur den Kopf und senkte ihren Blick. „Ist es, weil du von Zuhause abgehauen bist?", hakte er nach und zeigte in Richtung ihres Hauses. „Dein Vater wird es bestimmt verstehen und nicht lange böse auf dich sein!" Lizzie zuckte resigniert mit den Schultern, doch innerlich explodierte die Angst in ihr. Soweit hatte sie gar noch nicht gedacht. Ihr Vater würde erzürnt sein, vor Wut toben und der Haselnussstock würde nicht nur einmal auf ihr Gesäss landen. Bestimmt durfte

sie nie wieder nach draussen, geschweige denn mit Eric zusammen sein. „Oder ist es, weil ich dir zu nahe gekommen bin? Lizzie ich, es tut mir leid!", begann Eric zu stottern und zog eilig die Hand von ihrer Schultern. „Im Gegenteil!", murmelte sie und kämpfte mit den Tränen. Eric atmete erleichtert aus und strich sich nervös durch die Haaren. Lizzie lächelte schwach und ihr Herz begann schneller zu klopfen. „Ich mag dich!" Die drei Worte entfliehen wie flüssiger Honig ihren Lippen und hinterliessen in ihr ein Chaos an Gefühlen. Sie hatte es wirklich ausgesprochen.

Und dann plötzlich schlugen die Erkenntnisse wie Blitze in ihr Bewusstsein. Wieso sollte sie ihr Glück abhängig von ihrer Familie machen? Wieso wehrte sie sich nicht gegen die Ungerechtigkeit? Sie war eine junge Frau, das Leben stand noch vor ihr. Wieso liess sie es sich durch andere Menschen so verbauen? Es mag ein Fehler sein, aber der Trotz war grösser als ihre Vernunft. Mit diesem Gedanken umschlang sie Eric mit ihren Armen und zu seinem puren Erstaunen drückte sie ihre Lippen auf die seinen. Pure Wärme durchflutete sie und ein

Feuerwerk an Gefühlen explodierte in ihr. Der Kuss schmeckte süss, war prickelnd und feurig zu gleich. Eric schien sich schnell zu fassen, denn er erwiderte ihren Kuss innig. Er roch so schrecklich gut. Immer gieriger wurden ihre Bewegungen, Lizzie wollte ihn spüren, bei sich haben. Sie war süchtig nach seinen Berührungen, nach seiner Wärme und der Sicherheit, die er ihr bot. Ihm schien es nicht anders zu gehen. Seine Finger spielten mit ihren Haaren, fuhren heiss über ihren Körper und verwöhnten ihre Reize. Er liess all ihre Sorgen für einen Moment vergessen, in diesem sündhaften Moment war sie nur bei

ihm. Die Zeit schien still zu stehen, die Welt nur um sie zu drehen. Es war perfekt, einfach nur perfekt. Es fühlte sich an wie Himmel auf Erden, süsser als purer Honig und angenehmer als ein prickelnd, warmes Bad. Doch wie immer im Leben wurde man grob, ohne Rücksicht auf Knochenbrüche, von Wolke Sieben wieder auf den Boden zurückgeworfen. Es war der geheime Fluch von Adam und Eva, denn das Paradies gab es nur im Himmel und auf Erden regierte Satan. Dies wusste Lizzie und durch diesen Kuss wurde ihr noch mehr bewusst, dass sie dadurch die Situation noch schlimmer

machte. Es war egoistisch von ihr zu denken, dass es hier nur um sie ging. Aber nein, sie spielte mit seinem Unwissen, mit seinen Gefühlen und mit seinem Herzen. Nun war die Mauer, die ihre Gefühle wie ein reissender Bach zurückgehalten hatte, gebrochen und mit brüllendem Getose raste es auf das Unvermeidliche zu. Schwer atmend löste sie sich von ihm und machte einen Schritt zurück. Ihre Augen mieden seinen Blick, sie fühlte sich so schrecklich. Sie war selbstverantwortlich für ihr Unheil und niemals wollte sie es zu lassen, dass ihr Leben das eines anderen negativ beeinflussen würde. Sie musste ihn

gehen lassen – und er sie. „Es tut mir so leid!", hauchte Lizzie mit zitternder Stimme und drehte sich von ihm weg. „Es war falsch!" Mit diesen Worten löste sie sich für alle mal von ihm und rannte, ohne zurückzublicken, die Wiese empor. Es brach Lizzie fast das Herz, als sie sein verwirrtes Stottern hörte, sein verzweifeltes Rufen, ehe sich die Stille voller Schuld schwer über ihren Körper legte. Doch lieber wollte sie ihn im Unwissen behalten, als ihm die Hoffnung zu rauben. Die Hoffnung, auf eine gemeinsame Zukunft, auf ein erfülltes Leben. Denn auch in ihr flackerte noch

eine kleine Flamme, die nur darauf wartete, ihr Leben in Brand zu stecken und in gleissendes Feuer aufzugehen. Bereits von Weitem sah sie die zwei grossen Schatten, die bedrohlich hinter dem Zaun standen. Gross und mächtig, unbezwingbar und allmächtig ragten sie in den feuerroten Himmel und sahen aus, wie die Erzengel beim letzten Gericht. Sie wurde erwartet. Ihre Strafe wartete bei Morgengrauen auf sie. Schritt für Schritt, in denen ihre Füsse im nassen Schlamm versanken, sank die Hoffnung und stieg die Angst und die Verzweiflung in ihrem Inneren. Plötzlich

fühlte sie sich so schrecklich alleine und verlassen. Alles schien plötzlich so grau und blass zu werden. Sie hatte niemanden, der sie verstand oder der bei ihr stand. Wie ein Angeklagter, der durch die grölende Menschenmasse vom Henker in Richtung zur Guillotine geführt wurde, näherte sich Lizzie dem Richter. Es wirkte plötzlich alles so surreal, wie ein Albtraum. Vielleicht würde sie bald aufwachen in ihrem warmen Bett, neben ihr der schlafende Körper ihrer Schwester liegen. Ihr Vater würde ihr neckisch durch ihren roten Schopf wuscheln, ihre Mutter sie umarmen. Doch Lizzie wusste, dass der Mist am

Dampfen war und der gute Willen Geschichte war, wie ihr Schlüssel zur Himmelspforte. Mit gesenktem Kopf, gekrümmten Schultern, ihr Blick starr auf den Boden gerichtet, betrat sie in Schande ihr Zuhause. Ihr Atem ging flach und ihr Herz pochte wie wild. Ihr Magen schien sich zu drehen und das ungute Gefühl lastete schwer auf ihrer Brust. Erst als sie die schwarzen Schuhe ihres Vaters am Boden sah, blieb sie stehen und ihr Körper versteifte sich. Sie traute nicht einmal zu atmen, so eingeschüchtert wurde sie von dem Vergehen, das schwer auf ihrer Schulter lastete. Jede Fasern ihres Körper wartete

auf den erlösenden Schlag, auf ein Schrei, lautes Gebrüll, doch es blieb still. Nur der schwere Atem ihres Vaters, das Knirschen seiner Zähne und das Rascheln seiner Handflächen. Das Schweigen war Strafe genug für sie. Deutlich konnte Lizzie seine Enttäuschung spüren. Sie war nicht mehr seine Tochter, so hatte er sie nicht erzogen. Sie hatte ihn so bitter hintergangen, ihm dreckig ins Gesicht gelügt und ihre Familie im Stich gelassen. Sie war eine Schande. Purer Abschaum. Eine gefühlte Ewigkeit standen die beiden sich schweigend gegenüber.

Lizzie schien immer mehr im Boden zu versinken, währendem ihr Vater immer grösser und mächtiger über sie hinaus ragte. Lizzie wollte sich entschuldigen, sich rechtfertigen, um Verzeihung flehen. Doch kein einziges Wort, nicht einmal ein Wimmern kam über ihre trockenen Lippen. Ängstlich und niedergeschlagen stand sie vor ihm und wartete auf ihre Strafe. Erst als ihr Vater sich kopfschüttelnd aus seiner Starre löste, wagte es Lizzie, ihren Kopf zu heben. Einzelne Tränen rannten über ihre glühenden Wangen und hinterliessen brennende Striemen. „Ich erkenne dich nicht wieder. Du bist

mir fremd! So eine Tochter habe ich nicht erzogen!" Seine eiskalten Worte bohrten sich wie Glassplitter tief in ihr Herz und verletzten sie mehr, als sie gedacht hätte. Sie schluchzte auf und die Tränen rannten nun in Strömen hinunter. Sie konnte ihre Gefühle nicht mehr zügeln, ihr ganzer Körper begann zu zittern. „Vater! Bitte verzeiht mir!", weinte Lizzie mit brüchiger Stimme. „Ich wollte das nicht, ich werde es nie wieder tun!" Doch ihr Vater blickte sie nur aus seinen eiskalten, grünen Augen an. Sein Blick war voller Abschaum und Ekel. Und dies verletzte Lizzie umso mehr. Sie hätte mit allem gerechnet, er hätte sie schlagen

und anschreien dürfen, aber diese Enttäuschung zu sehen und spüren, liess sie beinahe einbrechen. „Lass dir eins gesagt sein: Wenn du so weiter machst, landest du noch auf der Strasse. Mit deiner törichten, unverantwortlichen Art, wirst du es nie zu etwas vernünftigem bringen. Es wäre eine Schande!" Lizzie schluchzte unter seinen harten Worten auf und ihr Blick wurde von ihren Tränen verschleiert. Sie hatte ihren Vater so bitter enttäuscht und ihre ganze Familie hintergangen. Wie konnten sie ihr jemals verzeihen? Mit einem Schnipsen von Paul kam George, ebenfalls mit düsterer und

grimmiger Miene aus dem Schatten getreten. Auch er strafte Lizzie mit einem angeekelten, fast hasserfüllten Blick, ehe er sie grob an den Armen packte und auf Vaters Befehl sie zum Dachboden schleifte. Keine Worte wurden gewechselt und erst, als Lizzie den staubig, dreckigen Estrich betrat, wagte sie es, ihre Stimme zu erheben. „Lass mich nicht hier!", flehte sie unter Tränen, doch George zuckte nur kalt mit den Schultern. „Du bist ganz alleine selber Schuld! Und jetzt sieh zu, dass du Busse tust. Ehe die Wolle nicht fertig gesponnen ist, wirst du hier nicht rauskommen!", befahl er

und wies auf das Spinnrad, das verstaubt im Ecken stand. Ohne weiter Worte zu verlieren, verliess George den Raum und liess Lizzie mit dem letzten Geräusch vom Abschliessen der Tür alleine zurück. Nur durch ein kleines Fenster sickerte ein wenig Licht in den dunklen Raum, indem sich das Stroh, Kisten und alte Apparturen türmten. Es stank schrecklich nach Mäusedreck und Fäulnis und zu allem Übel herrschte auch noch eine bittere Kälte. Aber Lizzie war zu traurig und zu müde, um solch unwichtigen Sachen ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Ihr blieb wohl nichts anders übrig, als sich erneut

an das Spinnrad zu setzen. Wie jeden Tag in ihrem Leben. So schrecklich öde und trist. Mit einer leichten Bewegung brachte sich das Rad in Bewegung. Zuerst langsam, doch dann immer schneller und schneller. Es surrte und knarrte, ratterte und lebte. Unaufhaltsam, immer während. Doch die Müdigkeit breitete sich Umdrehung für Umdrehung in ihrem Körper aus und ehe sie sich versah, fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Kapitel 5 - Feuriger Untergang

September, 1769 / England, Bibury

Sie träumte von einer riesigen Masse an Menschen, die sich in prächtigen Kleider in einem noch prächtigeren, vergoldeten Saal im Takt der Musik bewegten. Lizzie war mittendrin, an ihrer Seite stand ein unbekannter Mann. Seine Hände lagen warm auf ihrer Hüfte und er drehte sie in eleganten Bewegungen durch die Luft. Doch Lizzie schrie und weinte. Sie versuchte sich, aus seinen Armen zu befreien, doch die Ketten um ihren Hals zogen sich immer enger. Die Menschen um sie herum schienen sie auszulachen,

ja gar zu hänseln. Die zuvor lebendige Musik verwandelte sich in einen schreienden Singsang. Verzerrte Schreie und grässliche Töne. Alles schien sich zu drehen, immer schneller und schneller. Und plötzlich sah sie ein Aufblitzen von einer metallenen Klinge, die sich direkt über ihrem Kopf befand und mit leisem Quietschen bedrohlich hin und her schwang. Lizzie blickte um sich, und bemerkte, dass die gesamte Menschenmasse einen Kreis um sie gebildet hatte. Sie erkannte auch Eric, der mit sturem Blick, regungslos in der vordersten Reihe stand. In seiner rechten Hand hielt er ein

Zepter, in seiner Linken der Schnur zur riesigen Klinge. Lizzie wollte auf ihn zu gehen, doch die vergoldeten Fesseln um ihre Handgelenke hielten sie zurück. Ein leiser Schrei, wie von einem Baby, ertönte und wie in Zeitlupe beobachtete sie, hilflos ohne sich zu wehren, wie Eric die Schnur mit einem teuflischen Lächeln losliess und die Klinge auf sie niedersauste. Mit einem lauten Schrei schreckte Lizzie aus ihrem Albtraum hoch. Ihr Herz klopfte wie wild gegen ihre Brust und ihr ganzer Körper war schweissgetränkt. Sie zitterte am ganzen Leibe und ihre Finger waren steifgefroren. Lizzie brauchte einen Moment, um zu

realisieren, wo sie sich befand. Draussen war bereits die finsterste Nacht eingebrochen, sie musste den ganzen Tag verschlafen haben. Doch gerade als sie erleichtert aufatmen wollte, drang der schrecklichste Geruch in ihre Nase, der sie ihr ganzes Leben verfolgen wird. „Feuer", keuchte Lizzie mit krächzender Stimme, als sie realisierte, was gerade passierte. Der Geruch nach Rauch war unmissverständlich zu erkennen. Mit einem erstickten Schrei sprang sie auf und stiess dabei mit ihrem Knie das Spinnrad um. Scheppernd fiel es zu Boden und das zuvor surrende Rad brach auseinander. Mit zitternden Händen schob sie den

Riegel vom Fenster zur Seite und blickte nach draussen. Riesige Rauchschwaden stiegen in der Dunkelheit der Nacht vom Untergeschoss nach oben und sie hörte das Knistern und Brüllen des tobenden Feuers. Ihre Augen weiteten sich, als sie ihre Mutter, zusammen mit ihren schreienden und weinenden Geschwister, aus dem Haus rennen sah. Sie schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen, als wäre alles nur ein Traum. Doch es war die bittere Realität. George schien sie als Erstes zu bemerken. In seinem Gesicht war das pure Entsetzen geschrieben, als er sah, dass Lizzie von dem Feuer umschlossen war.

„Lizzie! Geh! Komm zu uns!", schrie er voller Panik und gestikulierte wild mit den Händen. „Nun mach schon!" Nur schwach drangen die Worte zu Lizzie hin. Seine Silhouette, welche vom Licht der wütenden Flammen wie ein tanzender Dämon aussah, wirkte so verzerrt und bedrohlich. Alles schien in Zeitlupe zu vergehen und gleichzeitig zu schnell, unaufhaltsam. Ihr ganzer Körper schien paralysiert zu sein und die Angst schnürte ihr den Atem weg. Sie zitterte, wusste nicht was tun. Sie war eingeschlossen, es gab kein Entfliehen. Entweder sprang sie aus dem Fenster oder wurde bei lebendigem Leib

geröstet wie ein Spanferkel. „George! Ich kann nicht! Die Tür ist verschlossen!", presste sie zwischen bebenden Lippen hervor. Heisse Tränen rannten über ihre Wangen und sie zitterte am ganzen Körper. Sie wollte nicht sterben, noch nicht. Sie wollte noch so viel erleben. „Lizzie! Reiss dich zusammen. Du musst die Tür einschlagen!", schrie er gellend. Lizzies Gedanken überschlugen sich und hinterliessen nichts als eine panische Leere, die schwer auf ihrer Brust lag und ihr den Schnauf raubte. Sie wusste nicht was tun, aber die Zeit drängte. Deutlich hörte sie das Knistern des Feuers, die Hitze und der Rauch, die durch die

kleinen Ritzen nach oben drangen. „Du schaffst das! Ich glaub an dich!", war das Letzte, was sie von George hörte. Seine Stimme wurde vom Wind hinfort getragen und von den lauten Glocken, die um Hilfe riefen, übertönt. Panisch schnappte Lizzie nach Luft und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sie musste hier raus. "Mit deiner törichten Art wirst du es nie zu etwas Vernünftigem bringen!" Die Worte ihres Vaters hallten in ihrem Kopf wieder und wieder. Seine Stimme schnitt sich tief in ihr Bewusstsein, hallten zurück wie in der tiefsten Schlucht und hinterliessen in ihr nichts als bittere Wut. Sie war keine

Versagerin! Sie wollte es ihm beweisen, dass sie ihn niemals enttäuschen würde. Entschlossen ballte sie ihre Hände zu Fäuste und senkte ihren Kopf. Mit einem lauten Schrei löste sie sich aus ihrer Starre. Ihre Augen huschten hastig über die leicht beleuchtete Umgebung, begutachtete jedes Objekt, jeder Gegenstand, der ihr bei ihrer Flucht helfen konnte. Sie brauchte etwas Schweres, Metallenes. Ihr Blick fiel auf die alte Werkzeugbank. Ohne zu zögern, riss sie die Schubladen auf und wühlte wild darin herum. Die spitzen Nägel bohrten sich tief in ihr Fleisch und die Säge riss feine Schnitten in ihre Haut, doch das hinderte sie nicht

daran, tiefer herum zu graben. Irgendwo musste doch etwas sein, dass ihr in dieser aussichtloswirkenden Situation eine Hilfe war. Endlich! Ihre Augen flackerten triumphierend auf, als ihre zitternden Händen den schweren Hammer umschlossen. Kalt und schwer lag das gusseiserne Werkzeug in ihrer Hand. Neue Hoffnung durchflutete sie und mit einem entschiedenen Atemzug löste sie sich aus der sicheren Zone. Lizzie hustete und würgte, als sie zur Tür trat. Der Rauch biss in ihren Augen und reizte ihre Lungen wie ein ätzendes Gift. Sie spürte, wie die Dämpfe ihren Kopf benebelten und der Sauerstoff

immer weniger wurde. Die Zeit drängte. Ihre Arme zitterten, als sie den schweren Hammer in die Luft hob. Wie ein Gott schien sie mit der Waffe ihre Kraft zu sammeln. Ihre Augen verengten sich, kleine Schweissperlen bildeten sich von der Hitze auf ihrer Stirn. Langsam zählte sie auf drei, ehe sie mit einem lauten, energischen Schrei das Werkzeug in die Tür rammte. Ihre ganze Panik verwandelte sich in unbändige Wut, dass sich wie ein Donner auf die Tür auswirkte. Es krachte und polterte. Doch sie gab keinen Millimeter nach. Lizzie fluchte und holte erneut zum Schlag aus. Immer wieder krachte das Metall auf das

langsam spröd werdende Holz. Ihre Arme schmerzten, doch sie durfte nicht aufgeben. Die Angeln quietschten bereits und bei jedem weiteren Schlag bildeten sich immer tiefe Schrammen in das Holz. Lizzie schrie und fluchte. Heisse Tränen rannten über ihre Wangen und das Salz hinterliess gerötete Striemen. Lizzie schien zu brennen. Brennen nach der Freiheit, nach dem Leben. Ja, sie kämpfte förmlich gegen das lodernde Feuer, doch ihr Gegner war stark. Eine Macht, die nur schwer aufzuhalten war. Sie musste nur über ihre Lippen lecken und schon gehörte alles ihr. Sie verschlang wie ein Fass ohne Boden, zerstörte und liess ihre Kraft, ihre Macht

alle spüren, die ihm im Wege standen. Und dann passierte es endlich. Mit einem lauten Schlag zerbarst die Tür unter dem Hammer und eröffnete Lizzie die Hölle auf Erden. Tobende Flammen, die schreiend durch das ganze Haus wüteten und alles mit sich rissen, was ihnen im Wege stand. Ein dicker Schwall Rauch stieg ihr in die Nase und liess sie ein weiteres Mal husten. Eilig riss sie sich ein Stoff ihres Kleides ab und band es sich provisorisch um die Nase. Nun musste sie sich nur noch einen Weg durch das brennenden Haus bannen. Ab diesem Zeitpunkt an, schien Lizzie instinktiv zu handeln. Ihr Kopf war wie

leer gefegt, nur das Überleben stand im Vordergrund. Sie kämpfte sich dem Rauch entgegen, wich den lodernden Vorhängen und Stofffetzen aus, änderte immer wieder ihren Weg und wurde dennoch vom Feuer nicht verschont. Sie spürte deutlich, wie der Sauerstoff immer knapper wurde und der Rauch ihre Lungen und ihr ganzer Körper auszufüllen schien. Immer mehr Gegenstände wurden den Flammen zum Frass vorgeworfen und das Durchkommen schien, schier unmöglich zu werden. Die Hitze wurde immer unerträglich, ihre Haut schien förmlich zu brennen, war gerötet und bereits von einigen Blasen

und roten Striemen versengt. Immer wieder konnte sie haarscharf den umkippenden Balken und glühend heissen Funken ausweichen. Ihr Vorgehen glich dem Fliehen eines Hasen, der immer wieder verzweifelt versucht, mit Haken seinem Verfolger zu entfliehen. Doch sie kämpfte sich weiter tapfer durch das Labyrinth aus den Höllenqualen, hinaus in die Freiheit, an die frische Luft. Und endlich stand sie vor der rettenden Tür. Sie konnte die alte Eiche, vor der sie erst letzte Nacht geflüchtet war, bereits hören. Das Rascheln der Blätter, das leise Singsang ihrer alten Wurzeln –

es klang nach purer Freiheit. Mit einem tiefen Atemzug umfasste sie euphorisiert den Türknopf, wurde aber sofort von einem stechenden Schmerz durchflutet. Ein schmerzerfüllter Schrei entfloh ihrer Kehle. Der Türknopf glich auf Grund der Hitze einer glühenden Heissplatte und brannte sich nun wie ein Rindsmahl auf ihre zarten Handflächen. Ihre Hand glühte und der beissende Geruch nach verbranntem Fleisch stieg in ihre Nase. Lizzie fluchte und Tränen stiegen in ihr Gesicht. Für einen kurzen Moment schien sie das Bewusstsein zu verlieren. Das Blut rauschte durch ihre Ohren und der Schmerz jagte wie ein Blitzgewitter durch ihren Körper.

Verzweifelt schnappte sie nach Luft, hustete und würgte. Ihre Hände versuchten, sich irgendwo festzuhalten, doch es war niemand hier, der ihr helfen konnte. Nur Schall und Rauch. Sie war alleine, einsam und verloren. Keuchend sackten ihre Beine unter ihrem immer schwerer werdenden Kopf ein und ohne das sie etwas dagegen tun konnte, brach zu Boden. Der Kampf war vorbei. Sie gab auf. Ihr Atem wurde immer angestrengter, das Feuer widerspiegelte sich in ihrem Blick und wütete in ihren Ohren. Sie konnte nicht mehr. Alles war so schrecklich schwer. Ihre Lider flatterten und ihre Augen drehten sich langsam nach oben.

Mit einem leisen Stöhnen bebte ihr Körper ein letztes Mal auf, ihre Lungen füllen sich mit Sauerstoff, ehe Lizzie ihren Geist frei liess. Doch gerade als sich die Dunkelheit wie ein Leichentuch über sie legen wollte, bemerkte sie zwischen ihren verklebten Augen ein Lichtschein. Ganz fein aber deutlich hob sich das Licht vom zirkulierenden Rauch ab und nahm den Umriss einer Gestalt an. Lizzie hielt den Atem, zuckte mit den Wimpern und versuchte angestrengt etwas zu erkennen. War sie bereits tot? War es ein Engel, der sie in Gottesreich begleiten würde? Aber das Licht wurde immer heller und

kam langsam auf sie zu geschwebt. Es strahlte eine solch beruhigende Wärme aus und all der Schmerz und die Angst verschwand in Lizzies Körper. Regungslos blieb sie am Boden liegen und die Umgebung verblasste um sie herum. Ihr Blick war starr auf die immer näherkommende Gestalt gerichtet. Sie war bereit zu sterben. Gottes Gnade sei mit ihr. Mit diesem Gedanken schloss sie erneut ihre Augen und ihre geballten Hände lockerten sich. Tief atmete sie durch, ehe sich das Licht über ihr Gesicht beugte und sie die beruhigende Wärme auf ihren Wangen spürte. „Lass mich mit dir kommen!", hauchte

Lizzie und öffnete ihre Lippen. Sie spürte deutlich, wie die Kraft aus ihrem Körper entwich und sie immer tiefer und tiefer in die Dunkelheit sank. Nun war sie bereit dazu. Es wurde immer stiller, ruhiger und leerer. Nur schwach verliess der Atem ihre spröden Lippen und ihre Gliedmassen wurden immer kälter und schwerer. Sie hörte das Feuer in ihren Ohren toben, doch auch dies verblasste langsam. In Gottes Namen, Amen. „Ich liebe dich. Vergiss das nie!" Wie eine Sturzflut kam ihr Bewusstsein zurück und ergoss sich über ihren ganzen Körper. Die bleierne Schwere zog sich wie die Ebbe aus ihrem Kopf zurück und

machte ihrem kühnen Verstand Platz. Mit einem lauten Atemzug riss Lizzie ihre Augen auf. Die Lebenskraft durchflutete jede ihrer Zelle und das Blut schoss warm durch ihren bleichen Körper. „Verdammt!", fluchte Lizzie, als sie begriff, dass sie wie eine tote Ratte hilflos am Boden lag und nicht weiter kämpfte. Obwohl ihr ganzer Körper schmerzte und jede Bewegung ihr so schrecklich schwerfiel, rappelte sie sich erneut auf. Ihr Gesicht war schwarz von all dem Rauch und der Asche, ihre Hände bluteten und waren aufgerissen. Doch deutlich spürte sie das Adrenalin durch ihre Adern fliessen, dass sie zu

Höchstleistungen brachte. Sie gab nicht auf! Niemals! Mit geballter Wut schlug sie auf die Tür ein, die mit einem letzten, verzweifelten Quietschen die Sicht auf die Freiheit eröffnete. Ein kalter Windzug strich um Lizzies Gesicht und schenkte ihr die letzte Kraft, die sie brauchte, um aus dem Fenster zu steigen und den Sprung in die Sicherheit zu wagen. Ihre Ohren rauschten und ihr Herz schlug ihr wild gegen die Brust, als sie sich mit zitternden Armen aus dem Fenster schwang. Unter ihr klaffte die schwarze Tiefe, vor ihr die alte Eiche. Der Abstand schien für Lizzie noch weiter entfernt zu sein und der sonst so

einfache Katzensprung, wirkte wie eine unüberwindbare Distanz. Aber sie musste hinüber auf die andere Seite. Sie konnte nicht hier, im brennenden Palast bleiben, es wäre ihr Tod. Lieber würde sie sich die Beine brechen, als an ihrer eigenen Angst zu ersticken. Ihre Augen formten sich zu Schlitzen, ihr Atemzug ging flach und ruhig. Langsam lösten sich ihre angespannten Hände von dem sicheren Holz und sie rutschte ein weiteres Stück nach vorne. Ein letztes Mal blickte sie zurück, sah, wie sich die Flammen gierig auf ihre Betten stürzten und das Feuer in einem letzten Aufbäumen versuchte, Lizzies

schwache Seele in seine Hände zu bekommen. „George!", schrie Lizzie voller Verzweiflung in die Dunkelheit hinaus, ehe sie sich mit einem gellenden Schrei von der Fensterbank drückte und in die Nacht hinaus sprang. Mit einem gequälten Aufschrei prallte sie am Stamm der alten Eiche auf. Der Schlag verschlug ihr für einen kurzen Moment der Atem und Lizzie stöhnte auf. Ihre Arme schlangen sich wie ein Baby um die Brust seiner Mutter um den Stamm und ihre Hände bohrten sich tief in das Fleisch des Baumes. Das Blut rauschte durch ihre Ohren und ihr Herz pochte wie wild gegen ihre Brust. Doch

nun, wo sie das kalte, kratzige Holz auf ihrer glühenden Haut spürte, spürte sie die Sicherheit in ihrem Herzen. „Lizzie!", schrie es aus der Dunkelheit zu ihr hinüber und zwei Gestalten kamen auf sie zu gerannt. „Ich bin hier!", keuchte Lizzie und rang immer noch nach Luft. Der Baum erzitterte, als ein kräftiger Körper sich in eleganten Bewegung nach oben hievte und ehe sich Lizzie versah, blicke das verrusste Gesicht von George zu ihr hoch. Seine Augen waren im Schein des Feuers geweitet und sein Blick drückte pure Angst und Erleichterung aus. Ohne weitere Worte auszutauschen, löste

George behutsam Lizzies klammernden Hände und umfasste sie mit seinen starken Händen. Und mit Hilfe von Samuel, der unten auf sie wartete, gelang Lizzie sicher zu Boden. Hand in Hand rannten die drei Geschwister durch den Vorplatz, um möglichst weit aus Satans Händen zu fliehen. Mit letzter Kraft schaffte es Lizzie auf die Wiese, wo sich bereits eine grosse Masse von Leuten angesammelt hatte, die in einer langen Reihe standen und schwere Eimer voll mit Wasser in Richtung des Hauses transportierten. Erleichterung durchflutete Lizzie und für einen kurzen Moment hatte sie die Hoffnung, dass mit

Hilfe der Bewohner von Bibury ihr Hab und Gut noch gerettet werden konnte. Sie war dankbar um jede Seele, die zu später Stunde aus ihren Betten gesprungen kamen und zur Hilfe eilten. Mit einem erleichternden Aufschrei löste sich eine Gestalt aus der Masse und Lizzie erkannte ihre Mutter, mit ihren beiden Geschwistern am Rockzipfel. „Mutter!", hauchte Lizzie mit kratziger Stimme, ehe sie zitternd in die Arme ihrer Mutter fiel. Sie weinte bitterlich und bei jedem Aufschluchzen vibrierte ihr ganzer Körper. Schluchzend strich sie immer wieder über Lizzies zerzaustes Haar und betete leise vor sich hin. Auch Lizzie wollte weinen, aber ihre Augen

waren so trocken wie ein alter Brotlaib. Nur langsam realisierte sie, was gerade passiert war und in was einer schrecklichen Lage sie sich befanden. Es war purer Segen, dass sie es lebendig aus dem brennenden Haus geschafft hatte und sie sich, ausser ein paar Kratzer und Verbrennungen in Sicherheit retten konnte. Fassungslos standen sie da, hinter ihnen das tobende Feuer, vor ihnen eine unbekannte Zukunft. Doch die Hauptsache war, dass sie alle am Leben waren. Zumal glaubten sie das. Was dann passierte, nahm Lizzie nur noch schemenhaft war. Ihr Kopf schien

diese Nacht verdrängen zu wollen, denn später konnte sie sich nur noch an die tobenden Flammen, der Geruch nach Rauch und verkohltem Fleisch und das helle, warme Licht erinnern. Ansonsten war alles wie ausgelöscht und nur mit dem Gefühl von tiefster Trauer und Schmerz verbunden. Denn plötzlich tauchten wie aus dem Nichts zwei grossen Männer auf, wedelten mit ihren Armen und brüllen herum. Frauen schrien entsetzt auf, bekreuzigten sich, ehe sich eine grässliche Stille über die Wiese legte. Die dumpfen Klänge der Glocken drangen in den Hintergrund, als George mit Tränen in den Augen, zitternden

Lippen und verzweifeltem Blick auf sie zu kam. Noch nie hatte ihn Lizzie so aufgelöst und am Boden zerstört gesehen. Schwach fiel er in Mutters Arme, ehe in brüchiger Stimme die grässlichsten Worte, die Lizzie jemals gehört hatte, über seine Lippen kam: „Vater ist tot!"

Kapitel 6 - Einsame Leere

Oktober, 1769 / England

(Enthält Gewalt) Gellende Schreie, vor Schmerz geweitete Augen, fassungslose Blicke, aufgerissene Münder, verzweifelte Gesichter - immer wieder tauchten sie in ihrem Kopf auf, verfolgten sie bis in ihre Träume, hallten durch ihren ganzen Körper und erschütterten sie bis ins Knochenmark. Nur ihr gebrochenes Herz, ihr kleiner, zerbrechlicher Gefühlspalast, wurde geschützt von den Scherben, in die es an diesem schicksalhaften Abend, zersprungen war. Anstelle ihrer tobenden

Gefühle, breitete sich Tag für Tage eine bleierne Leere aus, die nicht nur ihre Emotionen, sondern auch ihr ganzes Bewusstsein trübten. Das zerbrochene Rad drehte sich wieder. Es musste, obwohl es nicht wollte. Unaufhaltsam. Immerwährend. Zusammengesunken sass sie seit Morgengrauen auf einem hölzernen Stuhl und verspann das Flachs. Im Gegensatz zum weissen Gold, das damals so leicht und fein ihre Finger verliess, war das Stroh rau und borstig. Ihre Hände waren zerschunden und trocken und bei jeder weiteren Umdrehung schnitt sich das getrocknete Material tiefer in ihr

Fleisch. Lizzie hatte keine Ahnung, welcher Tag heute war, geschweige denn, wie lange sie schon in dieser stinkenden Fabrik eingesperrt waren. Die Erinnerungen an die schicksalhafte Nacht waren wie ausgelöscht. Sie konnte sich nur noch erinnern, wie sie von Männer hilflos mitgerissen und in eine Kutsche gesteckt wurde, ehe sie in dieser stinkenden Fabrik aufgewacht war. Hilflos, unfähig sich zu bewegen, wurde sie vom Strom des Lebens mitgezogen. Die Müdigkeit und Erschöpfung breitete sich mehr und mehr in Lizzies Körper aus und raubte ihr die letzte Konzentration. Zum wiederholten Mal

nickte sie ein, schreckte aber sofort wieder hoch, aus Angst vor den Aufpassern. Ihr Rücken war mit roten Striemen und Blutergüssen von den Schlägen mit dem Rohrstock überzogen und jede Bewegung brannte höllisch. Doch Lizzie war so schrecklich müde. Ihre Hände zitterten und fühlten sich taub an. Die Bewegungen waren stockig, fast schon fremdartig. Und gerade als sie die fertige Spule zur Seite legen wollte, passierte es. Der Schmerz jagte durch ihre Hand, als sich die spitze Nadel tief in ihr Fingerbeet bohrte. Kleine, rubinrote Blutstropfen quollen hinaus und tropfte auf die makellose

Spindel. Mit deiner törichten Art wirst du es nie zu etwas Vernünftigem bringen. Für einen kurzen Moment verlor sich Lizzie in diesem Bild, ehe sie die halbfertige Spindel gedankenverloren zu Boden warf. Den missbilligenden Blick und die bösen Worte, die sie von ihrer Nachbarin bekam, schenkte sie schon lange keine Achtung mehr. Mögen die Menschen reden – ihr war es egal. Die allzeit gleichen Bewegungen prägten sich in ihr Bewusstsein wie ein Brandmal in junges Holz ein und nur der Schmerz, der sie wieder und wieder durchflutete, erinnerte sie daran, dass sie noch lebte und in einem physischen Körper steckte.

Jeder Tag schien derselbe, trostlose Albtraum zu sein, indem Lizzie blind herum ging. Tagsüber wandelte sie wie eine Leiche durch die Gänge, führte teilnahmslos ihrer Arbeit aus. Und in der Nacht, wenn alle in einen unruhigen Schlaf verfielen, lag sie regungslos, aber hell wach im Bett. Ihr Blick trüb an die weisse Decke gerichtet, in ihrem Kopf eine heillose Dunkelheit. Lizzie schlief selten. Zu gross war die Angst vor den Bildern, die sie so gekonnt versucht, zu verdrängen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter weinte sie nie. Ihre Augen schienen wie ausgetrocknet zu sein, keine einzelne Träne verliess ihren

Körper. Wenn sie nicht die Trauerkleidung, ein einfaches, schwarzes Leinenkleid ohne Spitzen und Rüschchen, tragen würde, sähe man es ihr nicht an, dass sie ihren Vater verloren hatte. Doch was für viele ein Segen darstellte, war für Lizzie einen Fluch. Sie hätte die Kleidung am liebsten bereits ausgezogen, aber es war das letzte, anständige Mieder, das sie besassen und ihre Mutter bestand darauf, dass sie es trug, so wie es sich gehörte. Doch das Kleid war ein Zeichen ihrer Verletzlichkeit, ihrer Schwäche. Es sagte viel mehr über ihre Verfassung aus, als Lizzie es gerne hätte. Mit keiner Lüge der Welt konnte sie ihren Zustand

verändern. Das Schwarz lockte, wie das Feuer die Motten, die falschen Menschen an. Sie hasste die bemitleidenden Blicke, die ihr unter hervorgehaltener Hand zugeworfen wurden. Die doppelzüngigen Beileidkunden, die den Leuten wie Lügen über die Lippen ging. Sie verachtete jeden Atemzug, denn ein anderer Mensch in ihrem Namen tat und verabscheute jede Berührung auf ihrem kalten Körper. Und dies wussten auch die anderen Arbeiter hier. Lizzie wurde als einzige von ihrer verbliebenen Familie in diese Abteilung geschickt. Währendem ihre Mutter und Schwestern in der Nähabteilung eine Stelle bekamen,

musste sie hier zwischen Kinder, die noch jünger waren als sie und alten Weibern die dünnen Fäden am Spinnrad verspannen. Es war eine noch langweiligere Tätigkeit als das Wollspinnen selbst. Ihre Hände waren trocken und verkrusten und juckten unerträglich. Bereits nach zwei Tagen Arbeit nahm sie die Haltung einer alten Greisin ein und jeder ihrer Muskeln fühlte sich verspannt und verknotet an. Dennoch war nicht die Arbeit das Schlimmste, sondern die Menschen, die um sie herum waren. Ständig wurde über ihr schwarzes Trauerkleid hergezogen, über ihre Stimme, ihre dürre Figur und ihre immer schwärzer werdende

Augenringe. Besonders die Aufpasser waren hier die Schlimmsten. Sie kamen mit Stöcken und anderen Bestrafungsmethoden, die sie nicht einmal von Zuhause kannte. Das Klima in der riesigen Halle war stickig und heiss. In den wenigen Tagen, die sie hier arbeitete, waren bereits zehn Menschen kollabiert, zwei von ihnen kehrten nie wieder zurück. Lizzie hatte das Glück, dass sie noch bei guter Gesundheit war, aber auch sie spürte, wie sie immer schwächer und schwächer wurde. Durch die Müdigkeit fiel es ihr schwerer, sich zu konzentrieren, was zu mehr Fehlern bei der Arbeit führte. Es war

ihre dritte Spule, die sie heute beschmutzt hatte. Die Aufpasser schienen bereits bei ihrer Ankunft ein Auge auf sie geworfen zu haben. In diesen zwei Tagen hatte sie mehr Schmerzen und Leid erlebt, als in ihrem bisherigen Leben. Sie piesackten sie mit Sprüchen und zeigten ihr klar, wer sie war und wo sie nun in der Gesellschaft stand. Doch Lizzie wurde es Stunde für Stunde gleichgültiger. Sollten die Menschen über sie reden. Wer sollte es noch kümmern. Sie hatten alles verloren. Ihr Hab und Gut, und damit auch ihren Ruf, ihre Zukunft. Lizzie hatte und wollte nichts mehr.

Teilweise wünschte sie sich sogar, dass das Feuer sie verschlungen hätte. Dann wäre sie mit ihrem Vater am gleichen Ort. Zumal hoffte sie dies. Gerade als ihre zitternden Händen nach dem Stroh, das den ganzen Raum erfüllte, greifen wollte, spürte sie einen kalten Luftzug um ihren Nacken. Ihre Haare stellten sich auf und ein Schauer jagte über ihren Körper, als ihr den vertrauten Geruch in die Nase stieg. Nach Tabak, Alkohol und Schweiss. Dieser Duft verfolgte sie bis in ihre Träume und verhiess nichts als Schmerzen und Leid.

Alles zog sich in ihr zusammen, als sie den Druck auf ihrer Schulter spürte. Fünf Finger, die knochiger waren, als die des Todes. Fünf schmerzverursachende Finger, die langsam ihren Hals emporkrochen und sich bedrohlich um ihre Kehle legte. Machtlos sich zu wehren, wurde ihr Kopf nach hintengerissen. Ein schmerzerfüllter Schrei entfloh ihr und ihre Pupillen weiteten sich. Die echsengrünen Augen, so glasig, dass sie sich selbst wiedererkannte, starrten sie herausfordernd an. „Blimey! Kannst du eigentlich gar nichts?", zischte er in ihr Ohr und sein

Griff wurde stärker. Der Geruch nach Alkohol stieg in ihre Nase und liess sie angeekelt würgen. Er hatte also wieder getrunken, was ihn umso gefährlicher und unberechenbar machte. Als sie ihm keine Antwort gab, sondern ihn nur aus kalten, gefühllosen Augen anfunkelte, lachte er gehässig auf. „Du findest das also lustig?" Bedrohlich hielt er die blutverschmierte Spindel vor ihr Gesicht, die spitzzulaufende Nadel direkt auf ihr Augapfel gerichtet. Lizzie schluckte, schwieg aber immer noch. Sie wusste, dass nur ein falsches Wort, ein falscher Atemzug ihre spröden

Lippen verlassen mussten, um ihm das Zugeben, was er die letzten Tage versuchte zu bekommen. Seit ihrer Ankunft sprach sie sehr wenig und dann nur ein schwaches Ja oder Nein. George hatte es ihr mit rauem Ton eingeschärft, dass sie ihre Stimme zurückhalten musste. Denn Worte waren Macht und in ihrer Lage durfte eine Frau keine Macht haben. Und obwohl es ihr so schrecklich schwerfiel, hielt sich Lizzie daran. Tatsächlich schien der Mann ihre gespielte Demut abzukaufen. Er lächelte zufrieden und sein Griff löste sich von ihrem Hals. Erleichtert atmete Lizzie nach Luft und versuchte ihr rasendes

Herz zu beruhigen. Es erstaunte sie jedes Mal aufs Neue, wie leicht manipulierbar die Männer waren. Ein Augenaufschlag, ein Kopfsenken und schon dachten sie alle, man würde wie ein devoter Hund ihre Füsse lecken. Es waren so kleine, belanglose Geste. Was würde passieren, wenn man noch einen Schritt weiter gehen würde? Wenn man ihre Schwachstellen herausfinden würde, tanzten sie dann wie Puppen an Fäden? „Das ist das letzte Mal, dass ich solch Schlamperei toleriere!", sagte er ihm kühlen Tonfall, währendem er lässig pfeifend seinen Stock durch die Luft schwang. „Das nächste Mal kommst du

nicht so glimpflich davon." Deutlich konnte Lizzie die missbilligenden, abfällige Blicke der anderen Frauen sehen, die nicht das Glück hatten, von ihm das Erbarmen zu bekommen. „Ich bin ja kein herzloser Mensch, nicht wahr?", witzelte er und liess den Stock auf den Rücken von dem Mädchen, das gegenüber von Lizzie sass, niedersausen. Es war ein Akt der Provokation, eine weitere Geste zur Einschüchterung dieser neuen Göre. Er wusste ganz genau, dass sie ihm alles nur vorspielte und dennoch genoss er das Spiel. Er war hier derjenige, der einen Stock in der Hand hielt, an dem sie wie Marionetten

tanzten. Er hatte die Macht und nicht sie. In diesem dürren, rothaarigen Mädchen sah er keine Bedrohung. Sie war schwach und weinerlich. Und diese Devotion genoss er in vollen Zügen. Soll sie nur sehen, wie sie sich zu verhalten hatte und was für Bestrafungen auf sie warten würden! Tränen schossen in die weinerlichen Augen des Mädchens und sie wimmerte gequält auf. Der junge Gentleman lachte böse, warf Lizzie einen durchdringlichen Blick zu, ehe er pfeifend weiter ging und ein zitterndes, weinendes Bündel voller Elend hinter sich liess. „An die Arbeit!" Auch Lizzie schien dieser Schlag

seelisch getroffen zu haben. Anna, so nannten sie wohl alle hier, war noch ein grösseres Ziel für ihn. Des Öfteren wurde sie von den Augen aller ausgepeitscht oder misshandelt. Lizzie bekam immer wieder mit, dass er sie spät in der Nacht aus dem Bett jagte und zu sich ins Zimmer nahm. Danach kam sie mit verheulten, roten Augen und zitterndem Körper wieder. Sie war noch dünner und knochiger als Lizzie und es gab fast keine freie Hautstelle mehr, wo sie keine Schürfungen oder Blutergüsse hatte. Es tat Lizzie so leid. Wenn sie genug Kraft hätte, würde sie ihr gerne helfen. Aber hier war jeder ein Einzelkämpfer

und jeder musste für sich schauen. „Miststück!", zischte Anna sie an, als sie ihr entschuldigender Blick bemerkte und funkelte sie gehässigt an. Lizzie zuckte mit den Schultern und vertiefte sich wieder in ihre Arbeit. Genau solche Momente, wo das Adrenalin gemischt mit dem Schmerz durch ihre Venen pumpte, fühlte sie sich wieder lebendig und die kleine Flamme loderte hoffnungsvoll in ihr auf. Sie lebte, und das war die Hauptsache. Stühle wurden gerückt, erleichtertes Aufatmen und quälendes Stöhnen hallten an den steinernen Wänden wieder, als

endlich die dumpfen Schläge der Glocke erklangen, welche den Feierabend einläuteten. Schrill und dennoch dumpf hämmerten sie in Lizzies Kopf wieder und verstärkten die Kopfschmerzen, die sie plagten. Benommen löste sie sich von ihrer Arbeit, richtete vorsichtig die fertig gewordenen Spindeln, ehe sie sich erhob und sich wie es sich gehörte hinter ihren Arbeitsplatz stellte. Es musste bereits tiefe Nacht sein, denn ein Blick aus den kleinen Fenstern, die so verstaubt waren, dass es sogar zu dreckig für die Spinnen war, zeigte ihr die finstere Dunkelheit. Was nun wohl ihre Schwestern machen? Assen sie den schleimigen Haferbrei?

Oder schliefen sie bereits in auf den harten Pritschen, die nur spärlich mit Stroh bedeckt waren? Und wo George und Samuel sind, wusste sie sowieso nicht. Wenn sie genug Kräfte hätte, würde sie sich über ihre Brüder schrecklich aufregen. Kein Wort haben sie eingelegt, als sie hier her gebracht wurden. Stumm und machtlos haben sie zugeschaut, ihnen versprochen, dass alles gut wird, ehe sie selbst mit der Kutsche abgehauen waren. Alles sei nur zu ihrem Besten, haben sie gesagt. Es war einfach nur lächerlich. Und Eric. Wie es ihm wohl erging? Sie hatte ihn seit der schicksalhaften Nacht

nicht wieder gesehen? Ob er sie suchte oder sogar vermisste? Ein Schlag auf ihr Bein schreckte sie aus ihren Gedanken heraus. Ein leiser Fluch entfloh ihrer Lippe, als sie die fette Frau, ebenfalls eine Aufpasserin, sie gebieterisch anstarrte. Als Lizzie sie fragend anblickte, schlug sie erneut mit dem Stock auf ihr Bein. Schmerzen durchzuckten Lizzie und liessen sie aufatmen. Sie war zu müde, um noch zu überlegen, was die Frau von ihr wollte. Die Fette schien ihre Chance zu erkennen, heute mit einem guten Gewissen ins Bett zu gehen und endlich mal wieder gut zu schlafen. „Runter!", herrschte sie die

verunsicherte Lizzie an und schlug ihr erneut gegen das Schienbein. Ein schmerzerfülltes Keuchen durchfuhr sie, doch sie wehrte sich nicht. Zitternd sank sie in die Knie und bereitete sich auf das vor, was sie nun erwarten würde. Es war nicht das erste Mal. Sie kannt die erniedrigende Prozedur. Die Schmerzen. Ihr Kopf wurde nach unten gedrückt, währendem ihr Rock nach oben gehoben wurde und ihr nacktes Gesäss präsentierte. Sie wusste, dass nun alle Augenpaare auf sie gerichtet waren. Besonders die der Aufpasser. Doch Lizzie war zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen. Ihre Augen waren trübe und blickten abwesend auf den

dreckigen Boden. Sie wollte einfach nur, dass es so schnell wie möglich aufhörte. Mehr als zehn Mal landete der Stock auf ihrem Hinterteil, bis er rot war und höllisch brannte. Durch jeden Schlag wurde ein weiteres Stück ihres Stolzes gebrochen, ein weiterer Teil ihrer Persönlichkeit flog. Der Schmerz war grässlich und doch das einzige, was sie am Leben hielt. Sie wird es nie zu etwas Vernünftigem bringen. Als Lizzie endlich todmüde den Speisesaal betrat, der immer noch rappelvoll mit stinkenden Menschen und

quengelnden Kinder waren, konnte sie ihre Übelkeit nicht mehr zurückhalten. Zitternd und würgend übergab sie sich in eine Ecke und war mit ihren Nerven am Ende. Zwei starke, warme Hände packten sie an den Schultern und ihre Haare wurden vorsichtig zurückgezogen. Nur schwach hörte Lizzie die beruhigende Stimme von Margot, die mit ruhigen Worten auf sie einredete. Der Gestank ihres Erbrochenen raubte ihr den Atem und das Blut rauschte durch ihren Ohren. Sie konnte nicht mehr. Die Geräusche, die Gerüchen, die Lichtblitze – alles war zu viel für sie. Sie wollte einfach nur schlafen. So

schrecklich lange schlafen. Als sie nur noch Galle spuckte und die Übelkeit langsam verflog, wusch Margot ihr Mund mit einem kalten Lappen, ehe sie Lizzie behutsam aber bestimmt nach draussen zog. Die kalte Nachtluft tat ihrem benebelten Geist gut und holte sie zurück in die Realität. Schweigend sassen die beiden Frauen auf der Treppe und blickten zum wolkenlosen Himmel. Die grosse Fabrik in ihrem Rücken, vor ihnen die hohe, überzwingbaren Steinmauern, über ihnen funkelnde Sternen. „Glaubst du Vater wacht wie die Sterne über uns?", flüsterte Lizzie mit matter Stimme und kuschelte sich an den

warmen Körper ihrer grossen Schwester. Margot seufzte und legte ihren Arm beschützend um den zitternden Körper von Lizzie. Sie merkte, dass ihre jüngere Schwester den Tod ihres Vaters verdrängte, gar hinunterschluckte. Die Trauer und Verzweiflung hatten das Feuer, das sonst immer in ihren Augen lichterloh brannte, erstickt und den Platz eingenommen. Lizzie litt unter seinem Tod wohl mehr, als sie alle zusammen. „Da bin ich mir sicher", erwiderte Margot und ein schwaches Lächeln huschte über ihre Lippen. Lizzie seufzte leise und Tränen stiegen in ihre Augen, die sie eilig weg

blinzelte. Sie hoffte, nein, sie wollte daran glauben, dass ihr Vater über sie wachte und Lizzie dabei zusah, wie sie für ihn kämpfte. Sie wollte ihn stolz machen. „Margot, ich habe ein Licht gesehen." Die Worte verliessen wie Nebel ihre Lippen und lösten eine Welle von Gefühle in ihr aus. Sie hatte diese Begegnung noch niemandem erzählt und auf eine merkwürdige Weise empfand sie es wichtig, die Worte auszusprechen. „Als ich fast das Bewusstsein im brennenden Haus verloren haben – ich habe ein Licht gesehen. Es war warm und schön. Es kam immer näher auf mich zu. Ich wollte es umarmen. Ich dachte, es sei

ein Engel. Es hat gesagt, dass er mich für immer liebe!" „Vater!", sprach Margot und blickte sie warmherzig an. Auch ihre Augen waren mit Tränen benetzt, aber in leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Margot wusste, dass Lizzie halluzinierte, und sich diese Sache nur ausdachte. Aber sie wusste auch, dass genau diese Erinnerung, das Einzige war, was Lizzie Kraft und Hoffnung gab. „Vater war bei dir!" Bei diesen Worten brach die Mauer um Lizzies Herzen und all die verdrängten Gefühlen fluteten wie eine Sturzwelle durch ihren Körper. Trauer überrollte sie und die Tränen

rannten nur noch so über ihre geröteten Wangen. „Ich vermisse ihn so schrecklich!", hauchte Lizzie, „Wieso musste er von uns gehen!" Margot konnte ihre Tränen nun ebenfalls nicht mehr zurückhalten. Eng umschloss sie ihre kleinen Schwestern in ihren Armen, strich über ihre roten Haare und versuchte bei ihr zu sein. Weinend lagen die beiden Schwestern sich in den Armen. Über ihnen die Sterne, unter ihnen die Hölle – vor ihnen eine düstere Zukunft. Familie blieb für immer.

Kapitel 7 - Rettende Flucht


Oktober, 1769 / E

ngland Die Zeit verging wie zähflüssiger Schleim und Tag für Tag wurde Lizzie schwächer und kränklicher. Tagsüber kämpfte sie sich durch die immer härter werdende Arbeit und in der Nacht lag sie weinend und fiebernd auf den Pritschen. Man konnte es nicht Leben nennen. Es war ein Dahinsiechen. Ein Warten auf einen besseren Tag, auf einen schöneren Morgen, auf weniger Schläge, auf mehr Schlaf.

Seit dem Gespräch mit Margot war ihre schützende Mauer, ihre Maske, die sie seit dem Brand trug, zerbrochen. Nun war sie nackt, ihr Herz, ihre Gefühle schutzlos ausgeliefert. Es schmerzte, aber war dennoch die einzige Möglichkeit, der schwarze Nebel zu verarbeiten und loszulassen. Lizzie betete viel und sprach mit ihrem Vater, als stände er neben ihr. Schlimme Fieberträume plagten sie seit ein paar Nächte, wodurch der Vorhang zwischen Traum und Realität immer mehr verblasste. Es schien fast so, als würde sie diese schicksalhafte Nacht immer wieder durchleben, immer wieder um ihr

Leben kämpfen, ehe sie schweissgebadet neben ihrer Schwester aufwachte. Die Existenz verblasste Atemzug für Atemzug. Ihre Familienmitglieder beobachteten ihren immer zerbrechlich werdender Zustand mit einem skeptischen Auge und hielten es dennoch nicht für nötig einzugreifen. Möge Lizzie auf ihre Art und Weise trauern. Die ganze Familie schien sich an ihren neuen Lebensstandard langsam zu gewöhnen, obwohl sie sich alle innerlich ein besseres Leben wünschten. Die Arbeit war hart, das Essen spärlich, die Betten knochenhart und der Lohn mickrig. Aber was wollten sie mehr.

Lieber hatten sie eine Arbeitsstelle, als auf der Strasse zu leben und an einer Entzündung zu sterben. Sie waren sich im Klaren, dass sie nichts mehr hatten und nie mehr etwas haben werden. Das Leben als eine verwaiste Familie ohne Ernährer war schier unmöglich. Doch Fortuna hatte andere Pläne mit ihnen. Rückblickend konnte man von grossem Glück sprechen, dass das Schicksal dieser normalen Familie viele Menschenherzen berührt hatte. Die Geschichte breitete sich wie die Pest von Dorf zu Dorf aus, schon bald wusste jeder von dem tragischen Brand. So kam es, dass ihr Umstand bis nach London kam und eine warmherzige Frau sich

ihrem Schicksal annahm. Und dies war der Anfang, der wahre Beginn, als das Rad zu drehen begonnen und Lizzies Leben ins Rollen gebracht hatte. Wäre die Familie in der Fabrik geblieben, hätte sie ein normales Schicksal getroffen, wie viele Menschen vor ihnen. Doch mit der Reise betraten sie ihren eigenen Pfad, ihre eigene Lebensgeschichte. Es war die Nacht, als der erste Schnee über England einbrach und draussen klirrende Kälte herrschte. Grob wurde sie von ihrer Mutter aus dem Schlaf

geweckt, indem sie mit aufgebrachter Stimme auf sie einredete und sie an den Schultern rüttelte. Lizzie brauchte einen Moment, um aus den klebrigen Armen des Schlafens zu kommen, ehe sie ihren Worten folgen konnte. Ihre Mutter erzählte ihr nicht viel, aber dennoch genug, um Lizzies Herz höher schlagen zu lassen. Es dauerte nicht einmal zwei Minuten, schon hatte sie sich lautlos angezogen und wartete mit klopfendem Herzen vor der Türe des Schlafgemachs. Niemand schien ihr Plan zu bemerken, nur ein paar Kinder lugten neugierig hinter ihren Bettdecken hervor. Margot, Anna und Maya standen ebenfalls bereits vor der

Tür und warteten nur noch auf ihre Mutter, die gerade klangheimlich Kleiderstücke von ihrer Bettnachbarin klaute. Fragend blickte Lizzie ihre ältere Schwester an, doch diese hielt nur den Finger vor ihren Mund und umfasste ihre Hand, die glühend heiss war. Margot blickte Lizzie kurz besorgt an, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Mutter schenkte, die nun alles zusammengepackt hatte und ihre Frisur für den Kampf richtete. Auf das Zeichen ihrer Mutter band Lizzie den Mantel enger um ihren schlotternden Körper und zog die schwarze Kapuze tief in ihr Gesicht. Erst jetzt begriff sie

langsam, was diese Flucht für Konsequenzen mit sich bringen könnte. Wenn sie erwischt werden – erbarme sich der Herrgott. Doch die Hoffnung war grösser als die Angst und was konnten sie schon verlieren? Dann ging alles ganz schnell. Die Frauen huschten wie Schatten durch die verwinkelten Gänge der Fabrik, wichen den Aufpassern aus und liefen gezielt zum Ausgang zu. Jeder Schritt, den sie taten, schien geplant und perfekt ausgeklügelt zu sein. Lizzie konnte es sich langsam ausmalen, was Mutter mit ihren Worten meinte, aber sie zweifelte daran. Es erschien ihr unmöglich, fast schon idealistisch. Bei jedem Geräusch

zuckte sie ängstlich zusammen und rechnete damit, dass sie geschnappt und bestraft werden. Ihr Herz beschleunigte sich Schritt für Schritt und dennoch keimte in ihr die Hoffnung. Zu ihrem Erstaunen erreichten sie, ohne erwischt zu werden, die verriegelt und verrammelte Eingangstür, wo auch noch der Nachtwärter stand und genau auf solche Ausreisser vorbereitet war. Ihre Hoffnung und Euphorie sank schlagartig. Ein enttäuschtes Seufzen entwich ihren spröden Lippen und sie blieb resigniert stehen. Gerade als Lizzie dachte, dass sie nun gescheitert waren, drehte sich ihre Mutter zu ihnen um. „Wenn ich euch ein Zeichen gebe, dann

geht leise raus und dreht euch nicht wieder um!" Auf ihren Befehl versteckten sich die Mädchen zwischen den Regalen, währendem ihre Mutter unerschrocken und stark, wie sie schon immer war, auf den Nachtwächter zuging. Lizzie konnte nicht weg schauen. Es wirkte so surreal. Gespannt beobachtete sie, wie ihre Mutter kurz mit dem Nachtmann diskutierte, sie etwas unter ihrem Mantel hindurch schob, ehe sie ihren Töchtern zu winkte. Skeptisch und vorsichtig folgte Lizzie ihren Schwestern, ihre Hände zu Fäuste geballt. Sie traute der Situation immer noch nicht. Wieso sollte der

Nachtwächter sie einfach gehen lassen? Wie war das möglich? Doch die Türe in die Freiheit war offen, ihre Mutter stand bereits ungeduldig draussen und wies ihre Kinder mit zischenden Worten zur Eile. Zuerst zögernd, dann aber immer schneller und schneller trugen sie ihre Beine durch den langen Gang. Ihre Schritte hallten im Takt ihres Herzschlages an den Wänden wieder. Die Umwelt verzog sich zu grau, schwarzen Schlieren, das Licht in ihrem Blickfeld. Sie konnte die frische Luft bereits auf ihrer Haut spüren und die Freiheit riechen. Die Schmerzen in ihrem Körper verblassten, die Schreie verstummten. Es

fühlte sich an wie in einem Traum. Taumelnd trat sie in die Nacht hinaus. Schier erschlagen von er Kälte blieb sie stehen und schnappte nach Luft. Ihre verstaubten Lungen füllten sich mit frischem Sauerstoff und eine Welle von Energie durchströmte ihre Adern. Das Licht des Mondes sickerte zwischen den Wolken hindurch und beleuchtete für einen kurzen Moment die Gestalten, die vor ihr standen. Die Zeit schien für einen Moment still zu stehen. Vier Gestalten huschten auf die drei Pferde, die wie göttliche Wesen majestätisch dastanden und unruhig mit den Hufen scharrten. Zwei weitere

Silhouetten lösten sich vom Schatten und traten in schnellen Schritten auf Lizzie zu. Wie paralysiert verharrte sie am Anfang der Treppe und starrte auf sie hinunter. Der Wind wehte durch ihre roten Haare, bauschte ihr schwarzes Kleid auf und säuselte verführerische Worte in ihre Ohren. Rückblickend hätte Lizzie schwören können, dass diese Erinnerungen auf einen Fiebertraum basierten - so surreal und traumhaft waren die Szenen. Doch es war die Realität. „George! Samuel!", hauchte Lizzie unter Tränen, ehe sie sich schluchzend in die Arme ihrer Brüder warf. Wärme durchströmte sie, als sie den

beruhigenden Geruch der Beiden umhüllte und das erste Mal seit langem, empfand sie so etwas wie Hoffnung. Sie konnte ihr Glück nicht fassen. Ihr ganzer Körper zitterte und ihr Herz schlug wild gegen ihre Brust. Immer wieder gruben sich ihre Finger prüfend um ihre Arme, ob sie auch wirklich da waren. Und sie waren es. In Fleisch und Blut standen sie vor ihr, zwar ein wenig abgemagert, aber gesund wie eh und je. „Ich dachte, ihr hättet uns verlassen!", flüsterte Lizzie mit zitternder Stimme und strich sich die Tränen aus den Augen. Samuel lachte bitter auf und schüttelte den

Kopf. „Schwesterherz, das würden wir niemals tun!", antwortete er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Wir haben die letzten Wochen nichts anderes getan, als diese Reise zu planen." „Nun kommt, wir müssen los!", wies George sie an und nickte mit seinem Kopf in Richtung der Pferde. „Es wird Zeit, dass wir euch an einen besseren Ort bringen!" Mit ihren letzten Kräften schwang sich Lizzie mit Hilfe von Samuel auf das tänzelnde Pferd und kuschelte sich an den warmen Körper ihres älteren Bruders. Als alle bereit waren, schnalzte George mit der Zunge und gab dem Pferd

die Sporen. Wiehernd stiegen sie auf die Hinterbeine, ehe sie durch das offene Tor in die Freiheit hinaus galoppierten. Ein letztes Mal blickte Lizzie noch auf die steinerne Fabrik, mit den hässlich, kleinen Fenster und den Efeu überwucherten Wänden zurück. Ihre Augen funkelten triumphierend und die Flamme in ihrem Herzen züngelte brüllend auf. Eine angenehme Wärme der Stärke breitete sich in ihrem Körper aus und beflügelte ihre Sinne. Sie haben es geschafft! Sie waren frei! Sie ritten durch die ganze Nacht, bis zum Sonnenaufgang. Noch nie hatte Lizzie

einen solch alltäglichen Moment so intensiv und wohltuend empfunden. Die Farben liessen ihre ergraute Seele erblühen und die prickelnde Kälte ihre Müdigkeit verblassen. Kleine Schneeflocken wirbelten durch den immer heller werdende Himmel und glitzerten verlockend im Licht der Sonne. Wie Edelsteine legten sie sich auf Lizzies Haar und Kleid, ehe sie mit einem leisen Seufzen dahin schmolzen. Lachend streckte sie ihre Zunge hinaus und versuchte den Zuckerschnee zu fangen, wie sie es als Kind immer tat. Es wirkte so surreal, fast schon kitschig. Die Landschaft zog an ihnen vorbei und trotz dem Schwächegefühl, dass Lizzie

seit ein paar Tagen empfand, erfreute sie sich über alles, was ihren Weg kreuzte. Jeder Baum, jeder Strauch, jedes Schaf und jedes noch so kleine Lebewesen erfüllte Lizzie mit Glück und Euphorie. Sie hatte es so schrecklich vermisst. Das Gefühl, wenn der kalte Wind an den Haaren riss, den ganzen Körper umspielte und einem die Tränen in die Augen jagte. Das Schnauben der Pferde, die Geschwindigkeit – die Freiheit, in den Tag hineinzureiten. Ihre Arme umschlangen fest ihren Bruder Samuel, hielten sich an ihm fest und obwohl sie nicht wusste, wohin die Reise ging und was die Zukunft mit sich brachte, fühlte sie sich sicher und

geborgen. Nun waren sie wieder vereint und das war die Hauptsache. Vor einem grossen Gasthaus blieben sie stehen und stiegen zu Lizzies Erstaunen ab. Das Gebäude war gross, Dutzende von Fenster wiesen auf die vielen Räume und Zimmer hin. Und trotz seiner teilweisen abblätterten Fassade, zerbrochenen Fenster und losen Steinen wirkten es einladend und gemütlich. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Die Gegend kam ihr in keiner Weise bekannt vor. Grosse Felder, mit kurz abgehackten Pflanzenresten, die trostlos verfaulten, erstreckten sich um das grosse Haus, bis weit in den Horizont und wurden nur ab und zu durch einen

kleinen Wald oder grosse Hecken unterbrochen. Für manche mag diese Landschaft eintönig, gar langweilig erscheinen, aber Lizzie fühlte sich sogleich in Sicherheit. Die Ruhe und die Abgeschiedenheit tat ihrem aufgewühlten Geist gut und liess ihre Sinne für einen kurzen Moment ruhen. Deutlich konnte sie die Müdigkeit spüren, die sich nun immer schwerer und schwerer um ihren Körper legte und ein bleiendes Gefühl in ihrem Kopf hinterliess. Sie hoffte sehr, dass sie hier kurz rasten würden und sie nur für wenige Minute in ein warmes Bett fallen konnte, um kurz ein Nickerchen zu halten.

„Du glühst ja förmlich!", rief Samuel entsetzt, als sie seine Hand umfasste, um vom Pferd zu steigen. „Das ist nur die Aufregung", nuschelte Lizzie leise, als ihre eiskalten Füsse den matschigen Boden berührten und sie das Kribbeln aus ihren Beinen schüttelte. Sie wollte ihren Bruder nicht noch mehr verunsichern. Sie durfte nicht krank werden. Nicht jetzt! Samuel warf seinem Bruder einen vielsagenden Blick zu, der nur mit den Schultern zuckte. George schien ebenfalls müde zu sein und sein verbitterter Ausdruck hatte sich im Vergleich zu früher noch verstärkt. Tiefe

Augenringe zierten seinen stieren Blick und seine sonst so gepflegten Haare standen ihm in alle Richtungen. Lizzie konnte es sich gut vorstellen, wie sehr er unter dem Tod seines Vaters litt und wie die Bürde, die Familie zu ernähre, nun auf seinen Schultern lastete. Er wollte den Anforderungen gerecht werden, und zerbrach selbst daran. „Nun kommt – uns bleibt nicht viel Zeit!", sprach George und blickte seine Frauen ermahnend an. „Und verhaltet euch leise und unauffällig. Wir wollen keinen Ärger!" Das musste er den Mädchen nicht zweimal sagen. Sofort brach ihr aufgeregtes Geschnatter ab und alle

verfielen in neugieriges Schweigen. Zusammen mit George betraten sie die Herberge. Im Vergleich zu draussen herrschten ihr angenehme Temperaturen und es verging nicht eine Minute, schon zogen die Mädchen ihre Mäntel aus und standen in ihren einfachen Kleider im Raum. Ein angenehmer Geruch nach Kohle, frisch gebackenem Brot und Speck strich durch die Gänge und aus der Küche hörte man bereits fröhliches Gepfeife. Eine ältere Frau wusch in schnellen Bewegungen den hölzernen Boden, sammelte leere Krüge und Teller zusammen und bediente die wenigen Gäste, die zu dieser frühen Stunde

bereits wach waren und ihren Tee schlürften. Die Decke war tief, die Räume klein und die Fenster winzig. Nur wenig Licht drang in das Innere des Hauses, das nur von einigen Kerzen beleuchtet wurde. An den Wänden hingen Jagdtrophähen, vergilbte Zeichnungen, alte Apparaturen und weiterer Plunder, der mit einer dicken Schicht Staub bedeckt war. Das Gasthaus schien trotz der einsamen Lage reichlich belegt zu sein und Lizzie fragte sich wieso. Wer kam freiwillig in diese Einöde und vor allem, was taten sie hier? Auch George schien den alten Mann, der zwar auf den ersten Blick

furchteinflössend mit seiner muskulösen Statur und der Glatze, wirkte, bereits zu kennen. Die beiden unterhielten sich angeregt, ehe sich George mit einem matten Lächeln zu seinen Schwestern umdrehte und ihnen einen Schlüssel in die Hand drückte. „Geht nach oben und ruht euch aus. Wir werden euch zum Mittagessen wieder holen. Und benehmt euch!", befahl er ihnen und warf Lizzie einen beunruhigten Blick zu. Dankbar nahm Margot den Schlüssel entgegen und scheuchte ihre kleinen Schwestern die Treppe hoch. „Erzähl mir doch bitte, was los ist!", wisperte Lizzie, als sie sich todmüde in

das grosse Bett legte und sich neben ihre drei Schwestern kuschelte. Die beiden Kleinen schliefen bereits seelenruhig und sahen aus wie kleine Engel. Auch Lizzie spürte, wie sie immer tiefer von der Müdigkeit eingenommen wurde, aber zuvor musste sie es wissen. Sie konnte mit dem Unwissen nicht mehr umgehen. Sie musste wissen, was los ist, wo die Reise hinging und wie dies alles möglich war. Margot seufzte leise und blickte Lizzie aus besorgtem Blick an. Natürlich hatte sie es gemerkt, wie ihre jüngere Schwester immer kränklicher wurde und fieberte. Dennoch wusste sie auch, dass sie nicht auf sie Rücksicht nehmen

konnten. Eine solche Chance bot sich nicht noch einmal und wer weiss, ob sie überhaupt heil ankommen würden. Die Zeit drängte. Margot hoffte und betete jeden Abend, seit dem ihre Mutter ihr den Plan anvertraut hatte, dass die Stadt ihnen ein neues Zuhause bietet. „Wir reisen nach London!"

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Über den Autor

Aya_limea
Ich bin ein 20-jähriges Individuum, auch genannt Mensch, welches auf dem Planet Erde ein Zuhause gefunden hat. Ich verweile bereits seit 6 Jahren auf Wattpad und teile mein Geschriebenes mit dem Internet. Schreiben ist meine grösste Leidenschaft, welches ich mehr oder weniger ernsthaft verfolgen möchte. Ich bin ein Schreiberling aus vollem Herzen, so wappne dich auf ein Chaos an Geschichten, denn jede Idee wird hier niedergeschrieben und gedeiht vor sich hin.
Ebenfalls liebe ich es zu philosophiere, diskutieren und sich über alles mögliche auszutauschen. Ich bin ein absoluter Teetrinker, Bücherfreak und Tagträumer.

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Bleistift 
"Die Leiden der Nachtigall..."
Es gibt eine magische Zahl und diese Zahl heißt Einhundert.
Wenn ich nach 100 gelesenen Seiten keinen Zugang zu einem
Buch finden kann, dann werde ich es kaum je weiterlesen...
Leider muss ich in diesem Fall sagen, denn die Form der Erzählung,
die Beschreibung der jeweiligen Situtationen um die Kind-Frau
Lizzie ist zwar exzellent gewählt und sehr anschaulich dargestellt,
während die Handlung allerdings eher unscheinbar daherplätschert
und beim Leser nur wenig Spannung erzeugt, den weiteren Fortgang
der Dinge wirklich erfahren zu wollen.
Dieses vom Autor beim Leser bewußt erzeugte Gefühl,
es nennt sich 'Spannungsbogen' und genau jenes Antriebs-Element
vermisse ich in diesem Buch leider recht schmerzlich.
Positiv überrascht bin ich jedoch von der feinsinnigen Wortwahl
und der bildmäßigen Beschreibung, die wie ein Film im Kopf abläuft.
Der landläufig dafür verwendete Begriff nennt sich 'Kopfkino'
und das funktioniert in deinem Buch, "Die Leiden der Nachtigall..."
erstaunlich gut...
Auch das Cover ist von Dir hervorragend gestaltet worden... ...smile*
LG
Louis :-)

Vor langer Zeit - Antworten
Buhuuuh Gut geschrieben ( was ich las ) + schönes stimmmiges Cover! :)
Vor langer Zeit - Antworten
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