Die Flasche
Der kleine Paul, sieben Jahre alt, spazierte am Strand. Er sammelte Muscheln und fand die Wellen, die an dem nassen Untergrund ausliefen, interessant und jedes Strandholz löste Entzücken aus. Früh morgens begab er sich auf die Pirsch.
Schließlich erspähte er eine Flasche, die schon halb vergraben im Sand nur ihren Hals vorwitzig herausstreckte. Sie zeichnete sich vor allem durch zwei Dinge aus. Sie war dreckig und alt, also ein äußerst begehrenswertes Objekt für Paul. Die Flasche war außerdem grünlich braun, bauchig. Ein versiegelter Korken saß auf dem Hals.
Dunkelrot war der Kopf, mit Patina überzogen, wie es altes Wachs so an sich hatte. Paul untersuchte das Kleinod, hielt es gegen das Licht der aufgehenden Sonne. Die Flasche beinhaltete offensichtlich eine Flüssigkeit. "Könnte Wasser sein", schloss Paul. "Aber halt", da schwamm etwas in der Sauce. Es könnte Papier sein. Paul raffte seine Beute an sich und ließ seine Füßchen tanzen, um zurückzueilen.
"Mami, Mami, sieh mal, was ich gefunden habe."
Mutter Uschi packte gerade zusammen. Es waren die üblichen Strand-Utensilien. Das Handtuch, der Badeanzug und der Sonnenhut bevölkerten ihren einen Unterarm.
"Toll, Pauli. Nimm doch unsere Strandtasche
mit." Sie schlüpfte in die Flipflops und stampfte durch den lockeren Sand los.
Da hatte sich Paul aber mehr erwartet, etwas mehr Begeisterung.
"Die ist echt klasse und total alt, Mami, siehst du nicht?" "Jetzt komm Paul und schmeiß das olle Ding weg. Du holst dir nur was!"
Das Ding wanderte indessen heimlich in den Korb und Paul stelzte mit den restlichen Kleinigkeiten nach.
"Wegschmeißen! Hat sie denn nicht mehr alle?"
In der Ferienwohnung nach dem Strandaufenthalt angekommen, musste der Fund gerettet werden, bevor Uschi noch auf doofe Gedanken kam. Heimlich versteckte er die Flasche unter dem Bett.
In der Nacht schlief Paul ruhig und fest, während die Flasche unter dem Bett vor sich hin lümmelte. Sie strahlte ein bläuliches, irisierendes Licht aus, aber das bemerkte keiner, außer der Hauskatze des Pensionsbetreibers, die erschreckt das Weite suchte.
Schließlich waren sie wieder aus dem Urlaub an der Ostsee zurückgekehrt und der Schulalltag traf Paul. Er traf aber auch Philipp wieder, Philipp, the Freak, the Ultimate Nerd. Der gleichaltrige Phil war Computer versessen. Paul und Phil saßen in dessen Computer Kabuff, der Garage, welche die Eltern ihrem Sprössling überlassen hatten, damit er sich entwickeln könne. Paul wusste,
dass Phils Eltern die Enklave des Sprösslings akzeptierten und nicht etwa störend vorbeischauen würden. Daher zog er nun die Flasche, sein Geheimnis heraus.
"Was sagst du dazu, Phil", glänzten die Augen von Paul. Phil stülpte die dicke Brille wieder richtig auf die Nase.
"Is‘ ne alte Flasche, na und? Vergorenes Zeugs, vielleicht einmal Sekt, oder Schampus."
"Guck doch mal genauer! Hast du schon mal einen Sekt gesehen, der mit rotem Wachs verplombt ist? Du kennst doch dieses Drahtgerüst, das sonst so bei Sekt drauf ist. Ist das vielleicht so was? Nee!"
Phils Finger tänzelten auf der Tastatur. "Früher, also echt früher, da wurden Flaschen
verplombt", berichtete er und sah auf den Bildschirm, "sagt zumindest der Browser duckduckgo."
"Also echt alt?"
"Klar! Nur eine olle Flaschenpost, was sonst?"
"Da ist auch was drin", betonte Paul.
"Logisch ist da was drin, aber ein Brief oder so etwas ist es eindeutig nicht. Hab ich gleich gesehen. Das schimmert zu sehr."
"Was kann es sein?"
Phil zuckte die Achseln, glotzte durch die Brille.
"Nich' so einfach zu sagen. Es gibt da so Einiges, was es sein könnte."
"Was denn", fuhr Paul neugierig auf.
"Kommt auf das Alter an. Könnte irgend so eine Schweinerei aus dem ersten oder
zweiten Weltkrieg sein. So eine Art Brandbombe."
"Mit klarem Wasser?"
"Nitro", ließ Phil verächtlich fallen. "Nitroglyzerin?"
"Ich weiß es nicht, Alter."
"Sollten wir nicht mal nachsehen? Ich meine, es könnte ja ein Geheimnis dahinter stecken." Die Neugier übermannte Beide. Paul zog sein Klappmesser aus der Jeans und fummelte an dem roten Wachs herum. Er schnitt es ein wenig auf, aber kurz darauf schloss es sich wieder. Merkwürdig.
"Nano", meinte Phil bestimmt. "Irgendwie Nano Technik. Kennt man auch von anderen Materialien. Sie formen sich wieder in die ursprüngliche Gestalt zurück. Is oller Star
Wars Dödelkram."
Da die Flasche keine Computertechnik besaß, wie auch, verlor Phil allmählich das Interesse.
"Das ist doof, Kinderscheiße", sagte er. "Träum' weiter von irgendwelchen Piraten, oder irgendeiner Schatzkarte, oder was das immer da drin sein soll. Pillepalle", schnaubte er und schnippte ordentlich vor Ärger an den Flaschenhals. Die Flasche geriet in eine Drehung und strahlte plötzlich dieses blaue, irisierende Licht aus. Die Beiden staunten Bauklötze. "Sacra", entfuhr es unserem selbsternannten Einstein.
Paul fiel lediglich die Kinnlade herunter. Mit dem Turnschuh stoppte er die Drehung, das Licht verlosch. Phil kniete nun vor dem Objekt, ganz der Wissenschaftler.
"Weißt du was? Das ist gar keine Flasche. Das ist kein Glas, sieht nur so aus."
Vorsichtig nahm Paul das ungeheuerliche Ding in die Hand.
"Pass bloß auf!" Phil hatte sein Selbstbewusstsein einigermaßen eingebüßt und gewisse Furcht machte sich bei ihm breit. "Mensch, Memme, ich habe das Ding schon öfters in der Hand gehabt. Einmal ist es mir sogar weggerutscht und auf den Boden gefallen."
"Nicht zerbrochen?"
Paul wurde nachdenklich.
"Nee, jetzt, wo du es sagst. Sie war nur zerdrückt, war aber danach wieder völlig ganz."
Sie schauten sich an.
"Drück' doch mal." "Spinnst du?"
Phil hatte eine Idee. "Nimm mal die Handschuhe, die sind aus so einem Asbestmaterial, oder so. Vater nimmt sie immer, wenn er am Hochofen in der Firma hantiert." Paul nahm die Handschuhe und drückte. Nichts geschah.
"Ich mach‘s ohne", verkündete Paul mutig. Tatsächlich verformte sich der Flaschenkörper unter der lebendigen Handwärme, bis Paul sie fast in der Mitte soweit zerdrückt hatte, dass zwei Teile aus der Hand ragten. Mit einer entschlossenen Zunge zwischen den Zähnen drückte Paul weiter zu. Die Flasche teilte sich und strahlte das blaue Licht aus. Eine Schockwelle flutete durch den Raum. Das Poster von Steve Jobs fiel von der Wand, der
Computer ging aus, der Flachbildschirm wurde unwirklich blau. Die beiden Helden fanden sich auf dem Hosenboden wieder.
"Was war das denn", fragte Phil benommen. "Schau, zwei Teile und beide haben noch dieses schwimmende Stück drin."
Sie staunten. Die beiden Teile lagen in einiger Entfernung am Boden. Paul wollte sie einsammeln, aber sobald sich die beiden Flaschenteile einander näherten, begann dieses blaue Licht aufzuglimmen. Paul verdrehte nun die Teile zueinander und der Farbton veränderte sich.
"Schau auf den Bildschirm", rief Phil, "es zeigt was! Mensch Paul, das ist ein Code, eine Botschaft!"
Es entstanden unwirkliche, fantastische Bilder
mit einer Tiefe und Realität, wie man es sich nicht vorstellen konnte. Die ganze Garage schien sich wie eine unwirkliche Fremdwelt aufzutun.
Und während sie Unglaubliches auf dem Bildschirm erleben konnten, da erklang schon die Feuerwehr, stürmte die Garage und riss die beiden Jungs aus der Gefahrenzone. Löschschaum füllte die Garage, bis jegliches Leuchten erloschen war. Es dauerte, denn immer wieder fuhren Blitze aus dem Schaumteppich, kleine Detonationen ließen den Ort erbeben.
Die Kinder waren gerettet.
Der Einsatzleiter sprach mit Phils Vater.
"Die ganze Garage hat violett geleuchtet, aber es musste ein Feuer sein, was sonst",
berichtete er. "Es war ganz furchtbar. Ein Gleißen, irre! Hedwig, meine Frau konnte ich gerade noch zurückhalten. Sie wäre sonst in das Inferno gesprungen."
"Gut, dass sie uns gerufen haben."
"Die Kinder", brach Phils Vater zusammen. Der Feuerwehrmann tätschelte.
Dann resümierten die Ärzte, dass die armen Jungs an einem posttraumatischen Schock litten. Sie konnten sich an nichts erinnern. Die Garage war dem Erdboden gleich gemacht.
Phils Vater grummelte auf der Bare, dass Phil in Zukunft nicht mehr so freie Hand für seinen Computerspleen bekommen würde, zittern aber musste er immer noch. Uschi, die Mutter von Paul war verständigt worden und zeichnete sich nun durch eine gewisse
Hysterie aus. Die Kinder samt ihren Müttern wurden in das nächste Krankenhaus gebracht.
Phils Vater stammelte etwas von einer Mission, die ihm auferlegt sei und redete irre. Auch er bedurfte dringend der ärztlichen Notaufnahme.
In der Garage hatten sich die beiden Teile wieder zusammen gefunden und lagen als unscheinbare Flasche am Boden. Sie waren nicht verbrannt.
Schade, dass niemand in der Lage war die Botschaft einer fremden Zivilisation zu entziffern. Eine Sonde, die weit über 100.000 Jahre ihrer Reise hinter sich gebracht hatte, lag friedlich da, von Schaum, abgebranntem Schutt umgeben.
Vielleicht würde sie schließlich in einem Schredder entsorgt werden.