NICHTSCHWIMMER
An einem lauen Sommermorgen, noch vor Sonnenaufgang, spülte die Flut den Kadaver auf den Strand. Dort blieb er für kurze Zeit unentdeckt. Bis eine hungrige Schar Möwen ihn erblickte und sich auf ihn stürzte um sich das Beste heraus zu picken.
Etwas später, die Sonne stand schon am Himmel, wurde die kreischende Bande von einem zotteligen braunen Hund
aufgescheucht, der hier mit seinem Zweibeiner einen frühen Spaziergang absolvierte. Der Hund knurrte den fliehenden Möwen hinterher, schnupperte ausgiebig an dem toten Fleisch, stupste es mit seiner Schnauze an, um dann laut nach seinem Gefährten zu bellen.
Der Mann hatte einen verträumten Blick, eine qualmende Zigarette in der Hand und ahnte nichts sonderlich aufregendes als er dem Gebell folgte und auf den toten Körper stieß.
„Verdammte Scheiße,“ entfuhr es ihm als er erkannte was da vor seinen Füßen lag. Nachdem er seinen Hund angeleint hatte, tüchtig ausgespuckt hatte und vorsichtshalber zwei Meter Abstand
genommen hatte, zückte er sein Mobiltelefon und rief bei der Polizei an um seinen unfreiwilligen Fund zu melden. Unsicher darüber ob diese Maßnahme ausreichend war, informierte er auch noch die Feuerwehr, einen Notarzt und die Seenotrettung.
Dann wartete er in angemessener Entfernung und zog heftig an seiner Zigarette. Und als er die Kippe elegant in den noch feuchten Sand geschnippt hatte, konnte er auch schon die ersten Sirenen hören. Gut erkennbar postierte er sich ein paar Meter Strand aufwärts und fing an mit seinen Armen zu wedeln. Sein Hund jaulte mit den Sirenen um die Wette.
Als erste traf die Polizei ein, gefolgt von einem Rettungswagen und der Feuerwehr. Der Mann erklärte die Situation, führte die Uniformierten dann zu seinem Fund. Er hinterließ dann noch in vorbildlicher Weise seine Personalien, um dann schnell nach Hause zu eilen um seine schlafende Ehefrau zu wecken. Die war sicherlich nicht sehr erfreut darüber aus dem Schlaf gerissen zu werden, wie an jedem morgen, doch immerhin hatte er diesmal eine spannende Geschichte mitgebracht.
Unterdessen hatte am Fundort eine rege Diskussion über die Frage der Zuständigkeiten der Anwesenden begonnen. Man war sich so gar nicht
einig wer nun hier das Sagen hatte. Alle reklamierten das Recht auf den ersten Zugriff für sich allein. Laut wurde gestritten, Anweisungen und Dienstvorschriften wurden hin und her gebrüllt. Ein besonnener Sanitäter breitete eine Decke über den toten Leib, um dann noch lauter seine Kollegen zu unterstützen. Und die Möwen kreuzten über ihnen durch den sonnigen Himmel.
Mittlerweile hatte sich eine ansehnliche Meute Schaulustiger eingefunden. Männer, Frauen und Kinder jeden Alters starrten wie behext auf den Leib unter der Decke. Smartphones wurden hervor geholt und hemmungslos wurden Bilder eingefangen, gespeichert und versandt.
Doch die Meute murrte: Man sah ja praktisch nichts! Sie gierten nach mehr; tiefe Fleischwunden wären ihnen recht. Blut wäre toll, Knochensplitter, Zähne, Hirnmasse! Alles wollten sie sehen, festhalten und sich so schön gruseln beim erinnern.
Ein rücksichtsloser hässlicher Kerl mit roter Knollennase und einem eitrigen Geschwür im Nacken machte Ernst. Flink wie ein hungriger Haifisch lupfte er die Decke weg, schmiss sie hinter sich.
Nun lag der ertrunkene Körper vor ihnen: Nackt und bleich und aufgedunsen!
Wächserne Haut spannte sich über blutloses aufgeschwemmtes Fleisch. Die Zähne gefletscht unter starren farblosen
Lippen. Leere schwarze Löcher wo einst die Augen leuchteten. Die Genitalien verschrumpelt. Das ehemalige Gesicht kaum noch als solches zu erkennen.
„Einfach schamlos so zu sterben!“ Ereiferte sich ein älterer Mann mit Rotz in der Nase und der heimlichen Vorliebe für getragene Damenunterwäsche, der eifrig fotografierte.
„Vielleicht ein Nichtschwimmer.“ Mutmaßte ein anderer Kerl hinter seinem surrenden Smartphone.
„Jetzt ist er ´s auf jeden Fall!“ Stellte ein jugendlicher Witzbold dem gerade die ersten Schamhaare wuchsen ungeniert fest. Ein paar Leute lachten, nicht gerade zurückhaltend, mächtig stolz über seinen
treffenden Spruch grinste der jugendliche Komiker in die Menge, knipste ihre lächelnden Grimassen hinter den Mobiltelefonen.
Die Objektive wurden scharf gestellt. Kein Haar, kein Sandkorn, keine noch so kleine Falte auf dem leblosen Körper entging ihrem neugierigen Starren. Und mit höchstwahrscheinlicher Gewissheit verschwendete keiner der Anwesenden einen kümmerlichen Gedanken an die Tatsache, dass dieser tote Körper mit dem ganzen leblosen Fleisch einst ein Mitglied ihrer selbst war: Ein atmender Mensch, lebensfroh und zuversichtlich. Eine liebenswerte Person voller schöner Erinnerungen, farbenfrohen Träumen
und rechtschaffen harmlosen Plänen, die nun auf immer unerledigt blieben. Stattdessen diente nun sein totes wabbeliges Fleisch der Erregung billiger Gemüter, die sich zitternd dem geilen Grusel der Bilder hingaben.
Als ein kleines Mädchen versuchte den toten Mann zu berühren, und ihre Mutter sie mit den Worten: „Das ist Igittigitt!“ schnell wegzog von der Leiche, löste sich die Versammlung langsam auf.
Rückblickend vermochte niemand der Helfer Auskunft darüber zu geben woher diese Blutgierige Bande gekommen war, oder wohin sie verschwunden sind. Was blieb waren die
Bilder.
Text: harryaltona
Cover: harryaltona