Fantasy & Horror
Aliens auf dem Dachboden

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"Mama wird nicht mehr mit uns essen"
Veröffentlicht am 15. August 2018, 100 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Mama wird nicht mehr mit uns essen

Aliens auf dem Dachboden

Ein Esszimmer ohne Fenster. Dolf hatte sie alle mit Brettern verbarrikadiert, wegen der Aliens die auf dem Dachboden saßen. Nur durch schmale Spalten zwischen den Balken fielen noch feine Linien Abendrots auf den gedeckten Esstisch.

„Können wir Kerzen anzünden, Dolf?“

Die Frage seines Stiefsohns war berechtigt. In ein paar Minuten würde es in diesem Raum so düster sein, dass die Kinder die eigene Hand vor Augen kaum erkennen konnten. Dolf hatte versprochen ihnen alles zu erzählen. Heute Nacht. Die ganze Geschichte. Er trug die Verantwortung für das Debakel auf dem Dachboden. Er trug die

Verantwortung, wie er es in den zwölf Jahren seiner Ehe immer getan hatte. Aber er wollte die Geschichte erst nach dem Essen erzählen.

Rudolf Eder antwortete seinem Stiefsohn nicht. Er starrte den Dampfschwaden hinterher, die aus dem Kochtopf vor ihm stiegen. Pellkartoffeln. Gesalzene Butter. Hinter dem Dampf Davids dickes Mopsgesicht.

Dolf nickte. David rückte eilig seinen Stuhl zurück. Das Quietschen unterbrach die Stille, die wie ein Mobile aus schweren, dunklen Wollmänteln über dem Esszimmertisch hing. Man hörte die nackten Füße des Jungen über den Flur

huschen.

Warum muss der Mops immer so rennen, dachte Dolf, ein Hinterherschreien unterdrückend.

Agatha, die Jüngere von Dolfs Töchtern, weinte und rieb sich die Äuglein.

Seine Töchter brauchten ihn jetzt. Mehr als jemals zuvor. Er liebte sie. Dolf musste jetzt der Leuchtturm dieser Familie sein und diesen kleinen heranwachsenden Menschen die Sicherheit garantieren, die ihnen zustand.

Menschen, dachte Dolf. Ein ulkiges Wort. Menschen. Man kann es so leicht dahin nuscheln: Mensch'n. Sind wir nicht alle nur Mensch'n?

Er merkte, dass seine Mundwinkel ein Lächeln formten und verkniff es sich dann, so gut es eben ging.

Seine Hände zitterten, als er darüber nachdachte, sich jetzt einfach eine Zigarette anzuzünden. Er hätte jetzt so gerne eine geraucht. Wie seine beiden Mädchen da saßen mit ihren geknickten Köpfchen und den Zöpfchen. So klein und so traurig. Doch er wusste genau, dass er auch zu weinen anfangen würde, wenn er sie jetzt in den Arm nahm und das durfte er auf keinen Fall. Nicht jetzt. Ein Leuchtturm ist nahe am Wasser gebaut, weint aber dennoch nicht.

Käthe nahm ihre kleine Schwester jetzt in den Arm und gab ihr einen Kuss auf

die Stirn.

Dolf stand auf und ging zum Esszimmerschrank. Er nahm sechs Teller aus dem Regal. Nein! Nicht sechs.

Er stellte einen der Teller wieder zurück ins Regal und hoffte gerade, dass seine Kinder ihn nicht gesehen hatten. Als er sich umdrehte, blickten sie ihn an. Die kleine Aga und Käthe.

Jetzt wurden auch Käthes Augen glasig. Aga, von den Tränen ihrer großen Schwester beflügelt, plärrte los wie ein Rasensprenger.

„Ich will Mama wiederhaben!“, rief die Kleine und dann immer und immer wieder: „Mama-mama-mama“

In Dolfs Augen drehte sich das Licht im

Raum. Das passierte ihm in letzter Zeit oft. Etwas kochte wie saurer Sud in seinem Magen, schäumte hoch in seine Schultern, wieder hinunter in die Arme und kitzelte ihn dann in den Fäusten. Er wollte die Teller werfen. Einen nach dem Anderen. Er wollte die perlweißen Kackteller gegen die perlweißen Kackwände werfen und seine Gehörgänge mit brechendem Porzellan überschallen. Dann würden seine Töchter bestimmt leise sein. Dann wäre wieder Ruhe.

Dolf schritt mit steifem Kreuz voran, wie ein Ober der seine Gäste bedient, platzierte einen Teller an jeden Platz und sagte dann: „Erst wird gegessen, Liebes.“

Daraufhin setzte er sich.

Nackte Füße tappsten wieder über die Dielen im Flur. David war zurück, seinen Pullover zu einer Bauchtasche hochgekrempelt, die bis zum Überlaufen mit dicken Wachskerzen gefüllt war. Hastig fing er an, sie im Esszimmer zu verteilen, als Dolf seinen Sohn mit einem Schlag auf die Tischkante unterbrach.

Der dicke Junge hielt an, die Hände um seinen Pulloverbeutel geschlungen wie ein kleines Känguru. Die Mädchen schwiegen jetzt.

„Eine reicht aus, Mops.“

Die Lippen des Jungen formten eine schmale Trotzsichel.

Verdammt, hör einfach auf mich, wenn

du weißt, was besser für dich ist, dachte Dolf und biss sich dabei ein wenig auf die Zunge.

„David“, sein Unterkiefer wanderte energisch hin und her. Das tat Rudolf Eder immer, wenn er einen Fluch unterdrückte. „Eine macht genug Dunkelheit aus, David. Stell eine auf den Tisch und komm essen.“

Sein Stiefsohn entkrempelte seine Beuteltasche und die schweren Kerzen schlugen mit einem Trommelwirbel auf den Boden. Manche zerbrachen in der Mitte, andere kullerten bis zu Dolfs Füßen unter den Tisch. Eine von ihnen schnappte sich David im Vorbeigehen und platzierte sie so neben Dolfs Teller,

dass das Geschirr klirrte. Dann ließ sein Stiefsohn sich auf den Stuhl fallen und steckte die Hände tief in die Taschen. Am Bauch seines Pullovers klebten bunte Wachsflecken.

Dieser Sud in meinen Fäusten brennt, David. Und deine Schwabbelwange ist so schön rosa. Oh, wenn du wüsstest, wie sehr mir die Knöchel brennen, Mops. Dolf unterdrückte das Verlangen seinem Stiefsohn eine zu scheuern. Stattdessen holte er ein Sturmfeuerzeug aus seiner Weste und zündete die Kerze an.

„Zufrieden, Mops?“, fragte er. Das kleine Licht brannte auf dem Docht und Dolf schob die Kerze zur Mitte des Tisches. Sie spiegelte sich in jedem Augenpaar

der Kinder wieder. Sie trugen alle das Bernstein ihrer Mutter im Kopf. Außer David. Seine Mopsaugen waren einfach blass und blau.

„Willst du das Tischgebet sprechen, Mops?“, Dolf stellte die Frage absichtlich an seinen Stiefsohn.

Na los, du kleiner Moppel. Treib es zu weit, bitte! Sei ein großer Mops. Sag, dass du mich hasst.

„Nein“, antwortete David und stand auf. Dolf sah dem Jungen verblüfft hinterher, wie er eilig zum Esszimmerschrank lief. Er öffnete ihn und stellte sich auf die Zehenspitzen um an das oberste Regal anzukommen.

„Mops, wir haben genug Teller“, begann

Dolf, doch er wusste schon, dass der Junge nicht aufhören würde. Er wollte den letzten Teller. Den Teller seiner Mutter. Der Junge reckte sich, so hoch er konnte, doch seine kurzen Finger reichten nur knapp bis an den Rand des Fachs.

„Mops. Setzen. Sofort.“ Dolfs Stimme zitterte leicht. Er faltete die Hände vor seinem Gesicht und schloss die Augen.

Ich muss ihn schlagen. Er will es nicht anders.

Hinter seinen Augen brannte ihm kochendes Essig. Er musste jetzt eingreifen. Der Junge brauchte eine Lehrstunde in Sachen Erziehung. Was seine Mutter an ihm vergeigt hatte,

musste er jetzt ausbügeln. Wer nicht hören will muss fühlen.

„David! Verdammt nochmal!“

Sein Stiefsohn weinte. Er war zu klein und kam nicht an. Er ließ den Kopf hängen und wimmerte kaum hörbar.

Das reicht, du kleiner Mistkäfer! Warum willst du nicht auf mich hören? Na warte.

Dolf richtete sich zu voller Größe auf. Aga und Käthe blickten ihm ängstlich hinterher. Mit nur zwei Schritten war er bei David, der gerade einmal halb so groß war wie er. Er hob den drahtigen Arm, der vor Kraft so pulsierte, vor Energie geradezu leuchtete. Der Junge drehte sich nicht einmal zu ihm um, sondern schluchzte nur laut.

Warum willst du nicht auf deinen Vater hören? Warum willst du denn nie auf mich hören?!

„Wir wollen auch Mamas Teller“, quiekte es am Esstisch hinter Dolf. Es war Käthe. Dolfs Hand blieb in der Luft hängen.

„Mamas Teller. Mamas“, plapperte die kleine Agatha ihrer großen Schwester nach. Der Moppel kleckerte Krokodilstränen auf den Teppich.

Rudolf Eder senkte seine Hand und legte sie seinem Stiefsohn auf die Schulter.

„Setz dich jetzt bitte an den Esstisch, Mops.“ Mit der anderen Hand griff er nach dem einsamen Teller im Regal und schloss dann den Schrank. Er reichte ihn

seinem Stiefsohn und schubste ihn Richtung Tisch. David tappste eilig wieder zurück und platzierte seinen kostbaren Schatz an den freien Platz am anderen Kopfende des Esstisches. Ein Platz, der nicht wieder besetzt werden würde.

Dann aßen sie. Jeder bekam seine Portion Pellkartoffeln mit gesalzener Butter. Keiner sprach. Doch selbst nachdem sie fertig waren, fühlte sich Rudolfs Bauch noch immer leer und unbefriedigt an.

Ich mache Fehler, dachte ein kleiner, verkümmerter Teil in ihm. Ich bin doch auch nur ein Mensch und Mensch'n machen doch Fehler.

Es war an der Zeit. Sie hatten gegessen. Käthe, Aga und David hatten ihre Teller von sich geschoben und starrten jetzt alle gemeinsam ihren Vater an. Dolf fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. Er richtete sich auf, zu dem Leuchturm der er war, und holte tief Luft. 

It's showtime!

„Es ist an der Zeit, euch zu erzählen, warum eure Mutter nicht mehr mit uns essen kann. Sie wird auch in Zukunft nicht mehr mit uns essen. Glaube ich zumindest. Denn letzte Nacht … “

Der Wind zog durch die Ritzen der Bretter an den Fenstern. Die Kinder hingen an seinen Lippen und warteten gespannt, auf was auch immer jetzt

kommen mochte.

Dolf räusperte sich. „ … Eure Mutter wurde letzte Nacht entführt.“

Aga zog eine so besorgte Schmolllippe, wie es nur Kleinkinder in dem Alter taten. Käthe klappte der Mund auf.

And the show must go on!

„Eure Frau Mama wurde gestern Nacht von Aliens entführt und auf den Dachboden unseres Hauses verschleppt.“

Draußen donnerte es. Aga und Käthe wechselten fassunglose Blicke. Aga schlug sogar ihre kleinen Hände vor den Mund. David verschränkte die Arme.

„Es ist euch allen ab sofort und ohne Widerworte strengstens verboten, sich der Dachbodenluke auf zehn Schritte zu

nähren. Niemand von euch darf mehr dort hoch, solange die Aliens noch dort oben sitzen. Desweiteren ist es ebenso verboten, auch nur Irgendjemandem den ihr kennt, von den Aliens zu erzählen. Ihr werdet ebenfalls Niemandem verraten, wo sich eure Mutter befindet oder dass sie entführt worden ist.“

Ein zweites Donnern, diesmal dicht vor ihrem Haus. Die Mädchen zuckten zusammen.

„Es gibt keine Aliens“, sagte David leise und unglaublich nüchtern für sein Alter. „Wo ist Mama, Rudolf?“

Du kleiner vorlauter Bastard! Bei Gott, das war das letzte Mal dass du mich unterbrochen hast!

„Du sollst mich Papa nennen, Mops. Und eure Mutter hat ebenfalls nicht an Aliens geglaubt. Du siehst ja, wo sie das nun hingebracht hat. Sie wurde entführt. Und jetzt halt deinen Mund, solange ich rede. Verstehst du denn den Ernst der Lage nicht, Mops? Willst du so enden wie deine Mama, Mops? Hilflos festgehalten, unter den langen Klauenfingern von furchtbaren Aliens?“

Dolf hob den Zeigefinger in das Gesicht seines Stiefsohns. „Wenn sie dich einmal erwischt haben, kommst du nie wieder zurück. Dann benutzen sie dich für ihre kleinen Tests.“

Davids Miene verzog sich in zwei verschiedene Richtungen. Sie blieb

irgendwo zwischen Verärgerung und Verständnislosigkeit. Tränen liefen ihm über die Wangen, doch er schwieg jetzt.

Seine große Käthe meldete sich zu Wort: „Was machen die Aliens denn mit Mama?“

„Experimente“, antwortete Dolf trocken. „Sie machen unzählige Tests mit ihr, weil sie wissen wollen, wie wir Menschen ticken. Sie kennen uns nicht und haben wahrscheinlich genau so viel Angst vor uns, wie wir vor Ihnen.“

„Was für Exkrimente?“, fragte die kleine Aga.

„Experimente, Liebes. Naja sie … “ , Dolf dachte angestrengt nach: „ … sie schießen wohl bestimmt Fotos von

Mama. Mit sehr modernen, großen Polaroidkameras, die laut klicken und blinken. Und dann … dann messen sie etwas aus mit ihren grünen Maßbändern, die im Dunkeln leuchten. Dann tippen sie mit wiederlich langen, schmalen Fingern Berichte dort oben an ihren Tatstaturen, ja und … und drucken die dann aus. Mit sehr lauten … Wasserstoffdruckern.“

„Wasserstoffdruckern?“, fragte Aga mit großen Augen.

„Sehr gefährliche Drucker, meine Liebe“, antwortete Dolf und hob die Brauen.

„Und spielen sie dort oben das Theremin, wenn ihnen langweilig wird?“, fragte David.

„Das reicht. Ab ins Bett, Mops“, sagte

Dolf.

„Wo ist Mama, Dolf?“

Dolf packte die brennende Kerze auf dem Tisch und warf sie gegen die Wand hinter dem Jungen. David duckte sich und vergrub den Kopf unter den Armen. Heißes Wachs klebte an Dolfs rauen Fingern, aber er ließ sich den Schmerz nicht anmerken.

„Es heißt Papa. Und du gehst jetzt sofort ins Bett. Du machst deinen Schwestern Angst.“

Er starrte jede seiner Töchter abwechselnd in die kleinen Bernsteinaugen. Draußen regnete es allmählich. Dann ging Rudolf Eder an eines der Fenster und legte sein Auge an

einen Spalt.

„Verdammte Aliens“, sagte er.

„Papa ich hab Angst“, sagte Aga und umarmte ihre Schwester.

„Ich werde heute Nacht hinauf gehen und mit den Außerirdischen verhandeln.“

„Tu das nicht Papa!“, schrie Käthe besorgt, so dass die kleine Aga ängstlich zusammenzuckte.

„Doch, Katharina. Es muss sein. Ich werde versuchen eure Mutter zu retten und wieder nach unten zu bringen, damit wir wieder gemeinsam an einem Tisch zu Abend essen können. Es ist sehr gefährlich für uns alle, denn die Außerirdischen sind …  listig.“

„Listig wie Füchse?“, fragte Aga.

„Noch listiger, Kleine. Sie werden nicht wollen, dass eure Mutter wieder nach unten kommt und alles Mögliche versuchen mich daran zu hindern. Sie werden mich mit ihren Blastern tasern oder meine Gedanken lesen oder schlimmer.“

Käthe schrie, als Dolf das Wort schlimmer besonders schaurig betonte.

„Deshalb werdet ihr jetzt alle zu Bett gehen und ich werde eure Türen verriegeln, damit euch nichts geschieht. Ich werde sie morgen früh wieder öffnen. Im Morgengrauen werden wir alle schlauer sein. Und vielleicht sitzt eure Mutter ja schon morgen wieder mit uns an einem Tisch.“

„Ich hasse dich“, sagte David leise.

„Was war das?“ Dolf drehte den Kopf langsam über die Schulter.

„Ich hasse dich. Du bist nicht mein Vater. Du bist ein Lügner und du bist nicht mein Vater und ich will mit Ma reden.“

Dann sprang David auf, rannte zum Flur hinaus und knallte seine Zimmertür zu.

Dolf zwang sich dazu, ihm nicht hinterherzurennen.

Stille legte sich wieder über das Esszimmer. Die Mädchen sahen sich besorgt an.

„Wie sehen die Aliens aus, Papa?“, fragte Käthe.

„Ich weiß nicht recht, Schatz. Ich glaube

sie sind sehr groß und dünn. Sie haben große Köpfe und tiefschwarze Augen, wie die Knopfaugen deiner Ronja-Räubertochter-Puppe. Aber mehr müsst ihr nicht wissen. Putzt euch jetzt die Zähne und dann ab ins Bett!“

Die Mädchen huschten los. Die kleine Aga blieb im Türrahmen stehen und zupfte sich dann an einem ihrer Zöpfe.

Dolf rückte die Stühle sorgfältig an den Esstisch und stapelte das benutze Geschirr zusammen.

„Papa?“

„Ja, Liebes?“

„Glaubst du, du kannst Mami retten, Papa?“ Aga biss sich auf die Lippen und starrte ihn traurig an.

Der Anblick machte etwas mit Dolf. Er fühlte sich plötzlich so schuldig. Irgendetwas zerriss tief ihn ihm drin. Er konnte es sogar hören. Es klang wie das Reißen von sehr dünnem Stoff.

„Ja“, sagte Rudolf Eder und zwang sich ein Lächeln auf. „Ja. Vielleicht kann ich das.“

Die Kinder waren zu Bett gegangen, die Türen fest verschlossen. Dolf saß in seinem Lieblingssessel im Wohnzimmer und starrte aus der geöffneten Verandatür hinaus in die Nacht. Es donnerte irgendwo in der Ferne. Schmale, weiße Linien zuckten hin und wieder hinter den  Wolkendecken. Doch jedem Lichtblitz

folgten lange Zeiten Stille, bevor es krachte. Das Unwetter zog weiter.

In der rechten Hand schwenkte Dolf eine halbe Mass Gin, in konzentrischen Kreisen. Als das Gewitter begann, war die Mass noch voll gewesen. Er blickte an die Wanduhr hinter sich. Zehn nach Eins.

Ich hab die Geisterstunde verpasst, dachte sich Dolf lächelnd und nahm einen großen Schluck puren Gin.

Das Lächeln verschwand abrupt von seinen Lippen, als wenn Dolfs Vernunft seine Mundwinkel auf frischer Tat ertappt hatten, wie sie etwas furchtbar Verbotenes taten.

Wie kannst du nur Lächeln, Dummkopf?

Wie kannst du jetzt nur Lächeln, du herzloser Bastard? Du hast ein Herz aus Stein. Deine Frau ... Martha ist ... von Aliens entführt worden.

Und in diesem Moment verfiel Rudolf Eder in einen so gewaltigen Lachanfall, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Er wollte nicht lachen, aber er konnte einfach nicht mehr an sich halten. Er gellte und keuchte los, spuckte sich Gin über die Oberschenkel, hielt sich die Brust und krümmte sich so weit nach vorne, dass er seinen Masskrug auf dem Teppich veschüttete. Diese ganze Lüge war so absurd gewesen, dass sie nur von einem Kasperle im Handpuppentheater hätte stammen können.

„Von Aliens entführt. Für ihre kleinen Experimente.“

Martha ist tot. Martha Eder, die eine Frau, die Liebe meines Lebens, ist seit gestern Morgen ein 68 Kilogramm schweres Stück weißes Fleisch, das auf dem Dachboden liegt.

Ein weiterer Schluck Gin und ein Donnern über den Feldern.

Einen Tag lang ist sie jetzt dort oben. Und macht sich keine Mühe herunter zu kommen.

Dolf hob seine Mass an und der Gin lief ihm über die Wangen.

Es war Mord! Sie wurde kaltblütig ermordet, Dolfi. Gestern Morgen. Und jetzt pass mal gut auf alter Junge und

spitz die Ohren. Martha Eder. Ermordet in ihren eigenen vier Wänden. Von dir, Dolfi. Oh ja! Vorhang auf! Bühne frei für den Star des Abends! Hier kommt der Mann, auf den sie alle gewartet hatten. Der Killer von Gressow. Der Mann mit dem Eisengriff. Schmeißen sie die Hände zusammen für Rudolf Eder!

Die Menge tobt.

Und Sie, meine leichtgläubigen Gäste, haben tatsächlich geglaubt, es wäre der Gärtner oder vielleicht der Butler!

Lautes Gelächter bis in die hintersten Reihen.

Oh nein. Da wanderten sie hoffnungslos auf dem Holzweg, meine Damen und Herren. Es war niemand geringeres als Rudolf Eder, ihr eigener Ehemann! Und jetzt einen großen Applaus, wenn ich bitten darf!

Flutlicht fällt auf den einsamen Mann auf der Bühne.

Alles still. Die Sitzreihen sind leer. Wind pfeift.

Dolf verging das breite Grinsen in seinem Lieblingssessel und er starrte ins Leere. Er hatte versucht zu weinen. Er hatte die letzten Stunden versucht ernsthafte Trauer zu empfinden. Er hatte

sie gar nicht umbringen wollen. Als rotes Blut über seinen Daumennagel lief, hatte er ihren Hals losgelassen. Dolf war nicht mit der Absicht zu morden, auf den Dachboden gestiegen. Welcher halbwegs zurechnungsfähige Mann tut sowas schon? Seine Augenlider klebten noch immer von den getrockneten Tränen. Aber nachdem Dolf für drei Minuten geweint hatte, waren jegliche Gefühle zu den Akten gelegt. Drei Minuten hatte er gebraucht. Drei Minuten wie ein leckendes Abflussrohr. Dann puff. Tot. Nichts weiter.

Die gewünschte Person ist unter der gewählten Rufnummer nicht zu erreichen. Bitte hinterlassen sie eine

Nachricht nach dem Ton. Biep:

Ja, Hallo? Ist das zufällig die Nummer von Rudolfs Gefühlen? Hmm. Also falls ja, hier spricht ähmm ... Dolf ... Dolf Eder persönlich! Ja ... also ich stehe hier am Bahnhof und wollte eigentlich von euch abgeholt werden, wie ursprünglich ja auch ausgemacht. Nun ja, hier ist Niemand. Und mit Niemand meine ich wirklich keine Menschenseele. Ich bin mutterseelenallein auf diesem beschissenem Bahnhof. Wo seid ihr, zum Henker? Tut mir Leid. Das sollte nicht böse gemeint sein. Aber ... wirklich niemand? Also wenn ihr das gehört habt, kommt doch bitte vorbei und nehmt mich mit, ja? Grüße.

Nicht nur dass dieser intime Moment nackter Trauer gerade mal so lang gewesen war, wie die Werbung zwischen den Samstagabendspielfilmen. Nein. Da war nichts mehr. Keine Trauer mehr. Keine Freude. Er fühlte sich leer. Er fühlte wie eine heiße Pellkartoffel in seinem Magen lag.

Er hatte Martha am gestrigen Morgen auf dem Dachboden erwürgt. Beide Daumen in die Luftröhre gedrückt und igendwie so lange gepresst, bis das Hupen des Schulbusses von Draußen ihn geweckt hatte. Er wusste nicht, wie lange er dort oben über seiner Frau gehockt hatte.

„Papa, wir müssen los“, hatte Käthe von unten gerufen und Dolf hatte ihr nach

einigen ewigen Sekunden geantwortet: „Habt einen schönen Tag, Kinder!“

Eine kühle Brise wehte durch die Verandatür. Dolf fröstelte es an den nackten Zehen. Er stand auf und schloss die Tür. Dann leerte er seine Mass und ging zur Küchentheke hinüber, um sich nachzuschenken.

Sämtliche Fenster des Hauses hatte Dolf am Nachmittag mit Brettern vernagelt. Eigentlich wären nur die Fenster seiner Kinder nötig gewesen, damit sie ihn nicht sehen konnten, wie er das Grab für Martha aushob. Aber es passte zu seiner Geschichte mit den Aliens, wenn er alle Fenster versperrte. Die Fenster im

Wohnzimmer und Esszimmer waren lediglich schlampig verkleidet. Teilweise eine Hand breit Platz zwischen jedem Holzbrett. Die Bretter an den Fenstern seiner Kinder jedoch, waren so dicht beieinander wie gepflegte Zahnreihen. Er hatte die Bretter, die am besten ineinandergriffen, sorgfältig zusammengesucht, um den maximalen Sichtschutz zu gewähren. Die übrig gebliebenen Planken lagen immer noch im Flur.

Es war an der Zeit, Martha hinunterzutragen. Bevor sie noch zu stinken beginnen würde. Dolf lachte.

Auf schwankenden Sohlen überprüfte er

nocheinmal jede Zimmertür seiner Kinder. Man konnte die Mädchen leise atmen hören, wenn man ein Ohr an die Tür legte. Käthe und Aga schliefen zusammen in einem Zimmer, der Mops jedoch allein. Davids Zimmer war früher einmal die Speisekammer gewesen.

Mehr als zutreffend, dachte sich Dolf und hielt sich den Bauch vor Lachen.

Man hörte von diesem kleinen Raum aus nachts die Heizkörper, weshalb die Mädchen dort nicht schlafen sollten.

Als Dolf die Tür seines Stiefsohns überprüfte, hörte er nichts. Er drückte das Ohr an die Tür. Aber das Holz der ehemaligen Speisekammertür war dicker als die Zimmertüren der Mädchen.

Vorsichtig zog er den dicken Schlüssel für die Speisekammer aus seiner Hosentasche und steckte ihn ins Schlüsselloch. Nur falls der Junge versuchen sollte hindurchzuluschern.

Was war das?

Dolf stand auf Mitte des Flurs und blickte hoch zur Treppe, die in den ersten Stock führte. Die Härchen in seinem Nacken hatten sich aufgestellt. Kühler Schweiß klebte an seiner Stirn. Irgendetwas hatte ihn beunruhigt. Er hatte etwas gehört.

David Eder zog sich die Decke bis unter die Nase. Sein Vater hatte das Fenster in seinem Zimmer zwar mit Brettern

vernagelt, das Mondlicht schien jedoch durch die Zwischenräume hindurch und leuchtete über den Fußboden.

Hin und wieder fuhren Schatten über die Ritzen, als wenn lange Gestalten an seinem Fenster vorbeigingen. Er hörte das Schlurfen von nackten Schritten auf Laub, das Geräusch feuchter Fischbäuche, die sich auf den Rasen legten. Ein Marsch von schwarzen Schießbudenfiguren, die immer und immer wieder über die gleiche Theke am Fenster huschten. Weitere Silhuetten schlichen an seinem Fenster vorbei. Es kamen immer mehr. Mittlerweile waren es ein Dutzend. David zog sich die Decke über die Augen.

Ein Donnern rollte durch die Nacht, wie der Klang von Lastkraftwagen die eine Klippe hinunterstürzten.

Dolf schreckte zusammen und blickte die Treppe hinauf. Es war erst ganz leise gewesen. So leise, dass er es nur unterbewusst wahrgenommen hatte. Doch jetzt hörte er es deutlich und ein Schauder lief ihm durchs Mark. Es kam von oben. Es war kein Geräusch, sondern eine Melodie. Eine Melodie, die immer lauter wurde. Vom ersten Stock.

Dolf krallte seine Finger ins Treppengeländer und lauschte.

Es hörte sich in etwa so an wie eine menschliche Stimme. Fast so schön und gleichmäßig, wie nur ausgebildte

Opernsänger sie zu Stande bringen konnten. Und doch war es schräg und klang nicht gut, eher mechanisch. Es war kein lebendiges Wesen, was diese Melodie erzeugte. Es klang wie ...

Dies sind die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise, das mit seiner 400 Mann starken Besatzung 5 Jahre unterwegs ist, um fremde Galaxien zu erforschen.

Es klang wie ein Theremin. Dieser schräge Singsang kam von einem Theremin. Jemand spielt Theremin dort oben. Ein Instrument aus den Dreißigern, welches einen so fremdartigen Klang erzeugen konnte, dass es fast ausschließlich für Science-Fiction Filme genutzt wurde. Die Titelmelodie von Star

Trek wurde immer mit diesem Instrument gespielt.

Aber wer zum Teufel sollte da oben in seinem Haus Theremin spielen?

Dann Stille. Ein beruhigendes Donnern in unwirklicher Ferne.

Dolf Eder schritt langsam die Stufen hinauf.

An diesem Abend kehrte Rudolf Eder in seinen Lieblingssessel zurück und leerte dort den Rest der Flasche Gin, ohne seine tote Frau vom Dachboden hinunter zu tragen und im Garten zu begraben.

Was in den wenigen Minuten passierte, nachdem er die Treppe hinaufgestiegen war, hatte Dolf dazu veranlasst,

schnurstracks wie ein Schlafwandler ins Erdgeschoss zurückzukehren.

Jetzt, wo Dolf mit zu Klauen geformten Fingern und weit aufgerissen Augen, wie ein Wahnsinniger in seinem Sessel saß, die Füße aus der Verandatür hinausragend, damit sie vom Regen abkühlten, überkam ihn endlich die tröstende Müdigkeit, die sein Verstand so dringend benötigte. Ihm kamen die letzten Minuten so surreal vor, wie die vagen Erinnerungen an einen Traum.

Er hatte den Flur im ersten Stock betreten und gelauscht. Nichts außer dem Unwetter war mehr zu hören gewesen. Die Leiter zur Dachbodenluke hatte vor ihm gestanden. Als sein Blick

hinaufgewandert war, zur Luke an der Decke, hatte er nichts als die Finsternis des Dachbodens dadurch erkennen können. Gerade als er sich einigermaßen beruhigt hatte und die seltsame Melodie seinem angeknackstem Gemütszustand zugeschrieben hatte - man erwürgt nicht gerade jeden Tag seine eigene Ehefrau - gerade als er sich überlegt hatte, vielleicht doch jetzt seinen Plan in die Tat umzusetzen und die Leiche vom Dachboden zu beseitigen, gerade als er entschlossen auf die Leiter zum Dachboden zugehen wollte, geschah folgendes:

Das Theremin spielte wieder und es

spielte einen schönen Marsch und es spielte auf dem Dachboden und während irgendetwas auf dem Dachboden das Theremin spielte, fuhr die Leiter langsam hinauf, so als wäre sie federleicht und die Sprossen wanderten durch Geisterhand in die Höhe durch die schmale Luke und die Leiter verschwand in ihrem schwarzen Rechteck an der Decke und das Theremin spielte weiter und ein gleißend-heller Blitz drang aus dem Schwarz an der Decke und man hörte eine alte Polaroidkamera mit der Zunge schnalzen und ein Foto fiel aus dem Loch hinab auf den Boden vor Dolfs Füßen und auf dem Foto, was nun am Boden lag, sah Dolf sich selbst, wie er

im Flur stand und mit leeren Augen zur Decke blickte, wie ein Rehkitz, dass im Scheinwerferlicht der Mondscheibe eine Herzattacke durchlebt und stirbt und dann

drehte sich Dolf auf der Stelle um, um seinen Rausch im Wohnzimmer auszuschlafen.

Der Morgen brach an. David konnte es an den feinen Linien erkennen, die durch die Rillen seines verbarrikadierten Fensters strahlten. Er strampelte sich die Decke vom Körper und sprang aus dem Bett. Er hatte in der Nacht seltsame Geräusche gehört, die nicht besonders einfach zuzuordnen waren.

Sein Stiefvater hatte gelacht, ohne Zweifel. Aber wieso hatte er gelacht? Vielleicht hatte er Mama wirklich retten können.

Was waren das für Schatten an seinem Fenster gewesen?

David glaubte zwar nicht daran, dass seine Mutter von Aliens entführt worden war, aber er konnte auch nicht verstehen, wieso ihr Stiefvater sie so belügen sollte. Ihn vielleicht, ja. Dolf liebte David nicht und David konnte seinen Stiefvater nicht ausstehen. Möglicherweise war dies alles nur einer seiner schlimmen Scherze, die Dolf desöfteren mit ihm trieb. Früher hatte Dolf einmal versucht ihm weiszumachen, dass der Inhalt seines

Sparschweins verschwunden war, weil Münzgeld angeblich verschwindet, wenn man schlecht über seine Eltern denkt. Und David hatte geweint und sich am darauffolgenden Tag schluchzend bei seiner Mutter für seine bösen Gedanken entschuldigt.

Es hatte großen Ärger zwischen Ma und Dolf gegeben und der Spiegel im Wohnzimmer war zu Bruch gegangen, aber sein Stiefvater hatte ihm das Münzgeld zurückgegeben.

Dolf war auch daran Schuld, dass Davids Hund Toni nicht mehr da war. Sein Stiefvater hatte ihn überfahren und lange Zeit niemandem davon erzählt.

Ma hatte lange mit David darüber

gesprochen und ihm erklärt, dass es ein Versehen gewesen sein musste. Trotzdem hasste David den alten Mann.

Dolf stank ständig so fürchterlich, wenn er aus seinem Geräteschuppen kam. Das lag an dem Zeug, was er da drinnen trank, hatte ihm seine Mutter erklärt.

David hätte sich sehr gut vorstellen können, dass sein Stiefvater ihn belogen hatte. Er konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen, wieso er auch Aga und Käthe hätte belügen sollen. Er liebte die Mädchen viel mehr als David. Sie waren seine echten Töchter. Vielleicht stimmte es also sogar wirklich, was sein alter Herr diesmal erzählt hatte. War es möglich? Was wenn seine Mutter

wirklich von großen, grünen Wesen mit großen, schwarzen Pupillen auf den Dachboden entführt worden war.

Sein Stiefvater hatte schließlich alle Fenster im Haus mit Brettern vernagelt und ihre Türen verriegelt. Hatte er diese Nacht mit den Aliens verhandelt?

David schritt eilig zur großen Tür und lauschte. Nichts war zu hören.

Vielleicht hatte sein Stiefvater so laut gelacht, weil er so glücklich gewesen war, Ma wieder zu sehen. Und der Gedanke, dass Davids Ma wieder da sein könnte, erfüllte den Jungen mit solch einer immensen Freude, dass er an der Türklinke rüttelte, um hinauszurennen.

Seine Tür war immer noch verschlossen.

Angst überkam ihn.

„Pa?“, rief er.

David realisierte in diesem Moment, dass er seinen Stiefvater das erste Mal in all den Jahren Pa genannt hatte, als die Tür sich nicht bewegen ließ.

Dolf erwachte in seinem Sessel, weil die Vögel draußen so laut zwitscherten. Ein Güterzug war ihm über die Stirn gerollt und sowohl Hemd als auch Unterhose waren durchgeschwitzt. Seine Jeans lag draußen. Er hatte sie irgendwann von sich gestreift, erinnerte sich aber kaum noch daran. Mit knackendem Rücken erhob er sich träge von seinem Platz und schloss die Verandatür.

Gähnend schlurfte er in die Küche und kochte sich einen Kaffee auf. Als er mit der dampfenden Kaffeetasse vor dem Küchenfenster stand, reichte sein Horizont nicht weiter, als bis zu dem Holzbrett vor seiner Stirn.

Innerhalb eines verstörten Blinzelns waren die Erinnerungen von gestern Nacht wieder da. Seine tote Frau, die verbarrikadierten Fenster, die Geschichte von den Aliens und dem Dachboden.

Er winkelte seinen kompletten Oberkörper leicht nach hinten und blickte durch die Küchentür in den Flur und zur Treppe hinauf.

War das gestern wirklich passiert? Nein. Was genau war gestern überhaupt

passiert?

Das Klopfen an der Zimmertür seiner Töchter riss Dolf aus seinen Gedanken.

„Papa“, riefen sie ängstlich. „Papa, bist du am Leben? Hast du die Aliens besiegt?“ Es war Agas Stimme. Dann Käthe: „Papa, wenn du da bist, lass uns bitte wieder raus. Ich muss mal.“

Eilig ging Dolf zur Tür, legte die Hand auf die Klinke, zog den Schlüssel aus seiner Tasche, steckte ihn ins Schloss und hielt dann inne. Wäre die Tür ein Spiegel gewesen, hätte er seine geröteten, weit aufgerissenen Augen gesehen und wäre erschrocken zurückgetreten.

Was genau ist gestern Nacht passiert?

„Papa, bist du das?“, fragte Aga.

„Ja, meine Liebe. Ich bin es, Schatz“, sagte er zögernd.

Eine harte Gänsehaut breitete sich über seine Unterarme aus.

„Hast du Mama gerettet, Pa? Hast du mit den Aliens verhandelt?“, fragte Käthe.

„Hast du sie bekämpft?“, fagte Aga aufgeregt.

Dolf wusste nicht, was er antworten sollte. Seine Lüge war dabei aus den Fugen zu geraten und doch war sie ihm in diesem Moment irgendwie wahrhaftiger geworden, als er es überhaupt vertragen konnte. Sein Blick wanderte wieder zur Treppe. Er überlegte kurz und entschloss sich dazu, die

Wahrheit zu sagen.

„Nein“, antwortete er.

Als keines der Mädchen darauf etwas zu erwidern schien, fügte er schnell hinzu: „Noch nicht, meine Lieben.“

„Lässt du uns raus, Papa? Käthe muss mal.“

„Nein“, antwortete er wieder und ließ den Schlüssel stecken. „Das geht jetzt noch nicht. Ich … muss nochmal hoch, denke ich.“

„Aber Papa … „

„Mach in deine Flasche, Liebling. Du darfst in deine Flasche machen. Das ist unter den Umständen nichts Schlimmes.“

Rudolf Eder legte seine brummende Stirn an die Tür und schloss die Augen.

Das war doch alles nicht echt, oder? Nichts davon. Du warst sturzbesoffen, du Vollidiot. Du musst Martha jetzt von da oben runterholen und in den Garten bringen. Dann vergräbst du sie und lässt die Kinder wieder raus. Es ist noch nicht zu spät.

„Was ist mit dem Foto, Papa?“

Dolf machte die Augen wieder auf und hob den Kopf.

„Welches Foto, Schatz?“

„Das Foto lag heute Morgen vor unserem Fenster.“

„Jemand hat es durch die Ritzen im Holz geschoben. Waren das die Aliens, Pa?“

Ein Foto wurde unter der Tür hindurchgeschoben. Dolf blickte zu

Boden und hatte das Gefühl einen Brechreiz unterdrücken zu müssen. Er schluckte und hob es dann widerwillig auf.

Auf dem Foto war er selbst zu sehen, wie er mit schlaff herabhängenden Armen oben im Hausflur stand und zur Decke hinaufstarrte. Seine Pupillen waren rot wie die Augen eines Teufels.

Das kann nicht wirklich wahr sein. Das kann wirklich nicht wirklich passiert sein?

„Waren das die Aliens, Papa?“, fragte Käthe.

„Mit den Polarkameras?“, fügte Aga hinzu.

Dolf zeriss das Bild in zwei Hälften,

zerknüllte beide und warf sie weg.

„Polaroidkameras, Liebes. Es heißt Polaroid, wegen der Polarisation der Folien … ach, vergiss es. Vergesst das Foto. Ich muss wieder auf den Dachboden.“

Dolf lief zur Treppe. Er sah noch, dass die übrigen Holzplanken nicht mehr im Flur lagen. An der Tür seines Stiefsohns klopfte jemand und David rief ängstlich: „Papa? Papa wo ist Mama?“

Papa? Warum nennst du mich jetzt Papa? Warum nennst du mich ausgerechnet jetzt Papa?

Jetzt, wo er das Wort zum ersten Mal aus dem Mund seines Stiefsohns hörte, schabte es an ihm wie ein Stein im

Schuh.

Dolf trat wütend gegen die dicke Speisekammertür.

„Nenn mich nicht Papa, Mops. Ich bin Dolf. Und das wird sich nie ändern.“

Dann rannte er die Stufen hinauf in den ersten Stock und ignorierte die Stimmen seiner Kinder hinter sich.

Oben angekommen hörte er das Tippen von Tastaturen.

Zögernd schritt er über den Flur des ersten Stocks und lauschte.

Schnelle Fingerspitzen stachen über ihm pausenlos auf klackende Tasten ein und tippten endlose goliatheske Texte ab. Das Getippe war laut und klang wütend. Es

kam vom Dachboden.

Dolf sah hoch zur Luke hoch. Die Dachbodenluke war von oberhalb der Decke mit Holzlatten zugenagelt worden. Einige krummgeschlagene Nägel lagen noch auf dem Boden im Flur.

Irgendwer tippte dort oben Wörter auf einer Tatstatur und leise Stimmen flüsterten dabei Worte, die wie ein unverständliches Aufeinanderfolgen von Glottisschlägen im Hals knackten.

Dolf betrachtete den dichten Holzverschlag oberhalb der Luke.

Da ist Jemand auf meinem Dachboden, dachte er. Jemand hat meinen Dachboden verbarrikadiert, genau wie ich die Fenster meiner Kinder verbarrikadiert

habe.

Das Getippe hörte kurz auf. Schwere Stiefel schritten hin und her, die von der Nordseite des Dachbodens zur Südseite gingen. Man sah Staub von der Decke fallen, wo die Füße auftraten.

„Hey!“, rief Rudolf zornig gegen die Deckenbalken. „HEY. Wer ist da oben? Das ist mein Haus.“

Die Schritte blieben stehen, als ob jemand lauschte.

„Das ist Hausfriedensbruch. Wer sind sie? Wenn sie nicht umgehend da runter kommen, dann rufe ich die Polizei!“

Du willst die Polizei rufen, Dolfi? Und dann? Ihnen erzählen, dass Fremde auf deinem Dachboden rumlaufen? Auf dem

Dachboden, auf dem deine von dir erwürgte Frau liegt? Mit deinen Fingernageladrücken in der Gurgel?

Die Schritte gingen weiter. Das Getippe fuhr hastig fort. Die Stimmen knackten wieder munter.

Dolf rannte in sein Schlafzimmer. Es war sein Schlafzimmer, in dem er sich immer verkriechen musste, wenn Martha ihn aus dem Ehebett gescheucht hatte, weil er zu viel getrunken hatte.

Er trat auf einen Nagel am Boden und stolperte fast durch die Tür. Eilig riss er die Vorhangstange über dem Fenster herunter und entledigte sich der scharlachroten Gardinen.

Mit der Vorhangstange bewaffnet lief er

zurück in den Flur und sah dabei aus, wie ein römischer Centurio mit wirrem Haar und ungewaschenen Bermuda-Dreieck-Unterhosen.

Wütend schlug er mit seiner Vorhanglanze auf die Dachbodenluke ein und schrie dabei Flüche gegen die Holzplanken.

„Euch werde ich Beine machen. Wer auch immer ihr seid. Kommt da runter!“

Er hieb immer und immer wieder auf ein und das selbe Brett ein. Die Stimmen schienen ihn jetzt auszulachen. Ja, mehrere Leute lachten dort oben mit knackenden Lauten. Manche gaben sogar belustigt Beifall und trommelten mit den Füßen auf den Boden, um ihn

anzufeuern.

Dolf schrie ein Zorngebrüll an die Decke und bemerkte dann euphorisch, dass ein Brett sich tatsächlich lockerte. Der Nagel hob sich aus dem Holz und die Planke schleuderte hoch. Es rumpelte im Dachgeschoss.

Das Tippen hörte wieder auf. Keiner lachte mehr. Kein Beifall. Ein letztes Klacken, als wenn ein unsicherer Finger noch schnell auf Enter gedrückt hatte, um seinen Text zu speichern und dann war es still.

Das hat gesessen. Jetzt bekommt ihr langsam Schiss, nicht wahr?

„Wenn ihr nicht sofort freiwillig da runter kommt, drehe ich euch allen

einzelnd den Hals um und verscharre euch im Garten!“

Oben, in dem freigeschlagenem Loch der Barrikade, leuchtete jetzt etwas im Dunkeln auf. Dolf hielt ein und beäugte es. Es war ein grünes Fluoreszieren, wie von einer neongrünen Tiefseemuräne, die sich langsam durch das Loch schlängelte.

Dolf lockerte den Griff um seinen Speer aus rostfreiem Stahl.

„Was macht ihr da?“, fragte er unsicher. „Was soll denn das jetzt werden?“

Die fluoreszierende Tiefseeschlange sank träge aus dem Loch hinab und Dolf machte einen ängstlichen Schritt zurück, bis sein Rücken die Wand berührte.

„Was ist das?“, fragte er wieder. Die

grüne Muräne war gar keine Mräne. Es war ein langes, neongrünes Band mit Ziffern und Querstrichen auf beiden Seiten, die sich wie ein lebendiges Ding zu bewegen schienen, während sie tiefer sank und allmählich den Teppichboden im Flur erreichte.

„Das ist bloß ein Maßband“, sagte er.

Es hing jetzt genau neben seiner Vorhangstange.

Dolf betrachtete die Einheiten auf dem Maßband. Sie stiegen an von 10 Zentimetern, 20 Zentimetern, 30 Zentimetern bis hoch zur Spitze seiner Vorhangstange, an der nicht etwa 200 Zentimeter stand, wie es eigentlich der Fall hätte sein müssen, sondern in roter

Druckschrift die Warnung: Zu lang! stand.

Dann schlängelte sich das grüne Maßband tatsächlich wie ein lebendes Tier um die rostfreie Stahlstange und zog sie mit einem heftigen Ruck durch das Loch der Dachbodenluke.

Dolf versuchte vergebens nach der Stange zu greifen, aber seine Hände waren zu verschwitzt.

Überrumpelt und wütend sprang er an die Decke und hämmerte abwechselnd mit beiden Fäusten an die Holzbretter.

Oben auf dem Boden lachten die Leute. Es war genau so ein knackendes Lachen wie das der Flüsterstimmen zuvor.

Dolf sank auf die Knie und schüttelte

verwirrt mit dem Kopf.

Das gibt es nicht. Soetwas gibt es gar nicht. Was soll ich nur tun?

Sein Kopf dröhnte immer noch von der vergangenen Nacht. Ein Geistesblitz kam ihm, der ihm helfen konnte wieder Herr der Lage zu werden. Es gab nicht nur den einen Weg zum Dachgeschoss des Hauses.

Das Dachfenster. Das kleine, runde Fenster zum Dachboden. Es ist breit genug, um hindurchzuklettern. Vielleicht nicht breit genug, für einen erwachsenen Mensch'n wie mich. Aber breit genug für einen kleineren Menschen.

Dolf rannte die Treppe hinunter, zwei Stufen auf einmal nehmend. Dolf

stolperte. Dolf brach sich das linke Handgelenk, als er auf die Dielen im Erdgeschoss fiel. Dolf klatschte mit dem Kinn auf den Fußboden und biss sich ein Zehntel seiner Zunge ab. Dolf blieb liegen und alles Licht drehte sich in seinen Augen. Dolf verlor das Bewusstsein, während die Aliens über ihm lauthals lachten.

Dolf erwachte, als die Sonne schon tief am Horizont stand und die Möbel im Haus weite Schatten über ihn warfen. Er drehte sich auf den Rücken. Seine Hand war angeschwollen wie ein Ballon und sein Kiefer schmerzte beim Kauen.

Als er sich im Hausflur umsah, bemerkte

er die offene Tür zum Zimmer seiner Töchter.

Ohne auf den stechenden Schmerz zu achten, stützte er sich auf seinem riesigen Handgelenk ab und kam auf die Beine.

„Aga, Käthe?“, rief er, als ob er eine dicke Mullbinde im Mund hatte. Er spie das Stückchen Zunge aus und Blut.

Niemand antwortete. Dolf hechtete zur Tür seiner Töchter. Ihr Zimmer war leer. Die Tür war aufgebrochen, als ob ein Tritt sie aus den Angeln gelöst hatte.

Oder als ob ein Blaster sie aufgeschossen hatte, dachte sich Dolf.

Dann sah er die Schleifspuren. Fingernägel hatten sich in den Holzboden

gebohrt und hatten Kratzer auf den Dielen hinterlassen, die bis hinauf in den ersten Stock führten. Er verfolgte sie wimmernd. Die Kratzspuren endeten unterhalb der zugenagelten Dachbodenluke.

„Aga? Bist du da oben? Katharina!“

Wieder keine Antwort. Nur das eilige Tippen von eifrigen Fingern auf einer Tastatur.

Dolf schrie und rannte wieder hinunter zur Tür seines Stiefsohns.

Warum ist seine Tür denn noch verschlossen? Warum haben sie die Mädchen als erstes geholt? Warum nicht ihn?

Er hämmerte mit den Fäusten auf die

Speisekammertür ein und schrie: „Mach auf, du Hundesohn. Ich brauche dich. Komm raus!“

Eine Stimme antwortete: „Pa? Bist du da? Ich habe schreckliche Geräusche gehört. Was passiert da draußen?“

Dolf ignorierte seine Fragen. „Wenn du nicht gleich aufmachst, dann trete ich die Tür ein.“

Sein Stiefsohn näherte sich der Zimmertür. „Papa, du hast die Tür verschlossen. Ich kann sie nicht öffnen!“

Dolf unterlies sein Hämmern an der Tür und fasste sich mit der Hand an die Stirn.

Wo sind deine Gedanken, Dolfi. Du musst klar denken. Wo ist dein

verdammtes Leuchtturmlicht?

Er drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür. Sein dicker Stiefsohn stand vor ihm. Er war blass im Gesicht und wirkte jämmerlich ängstlich.

„Was ist passiert, Pa? Wo ist Mama?“

„Halt dein Maul!“, schrie Dolf und packte den Jungen mit beiden Händen am Hals. „Du sollst mich nicht Papa nennen! Nie wieder.“ Der Junge bekam keine Luft mehr.

„Du musst mir jetzt helfen, meine Töchter und deine Mutter zu retten, hörst du? Du musst mir jetzt helfen!“

Dolf drückte den Hals des Jungen so sehr zusammen, dass der Mops ihm nicht antworten konnte.

Im Dachgeschoss knackte Aliengelächter und Rudolf Eder geriet völlig außer Rand und Band.

David versuchte zu nicken und krallte dann seine kleinen Fingern um die Pranken seines Stiefvaters.

„Du musst mir helfen!“, schrie Dolf ihn an. „Ich schiebe dich durch das Dachfenster in den Dachboden. Du passt sicher hindurch. Und dann schnappst du dir deine Schwestern und rettest sie durchs Dachbodenfenster. Verstanden?“

David antwortete nicht. Er lief lila an und nickte immer noch dämlich.

Dolf hatte seinen Stiefsohn losgelassen und auf das Dach des

Werkzeugschuppens gehoben, der sich an der Hauswand befand. Der Junge hatte kein einziges Wort auf dem Weg gesagt. Dann hatte Dolf das runde Dachbodenfenster geöffnet. Seine gesunde Hand war immer noch blutüberströmt und er hinterlies fast schwarz-rote Fingerabdrücke auf der Scheibe.

„Du gehst rein, sprichst mit niemandem, packst Aga oder Käthe und bringst sie zum Fenster. Dann zieh ich euch raus.“

David antwortete nicht, aber er wirkte jetzt noch blasser als zuvor. Seine Augen waren so groß und leer.

Dolf hob den übergewichtigen Jungen an und hievte ihn auf Zehenspitzen durchs

Dachfenster. Er hörte, wie David zu Boden fiel wie ein Sack Kartoffeln.

Als Dolf durch das Dachbodenfenster lugte, sah er nur Dunkelheit und nichts dahinter.

„Siehst du sie schon?“, fragte er seinen Stiefsohn, bekam aber keine Antwort.

Die Dunkelheit tanzte im Kellerloch und Dolf erkannte kleine, prickelnde Lichter in seinem Blickfeld, nach der Anstrengung seinen Stiefsohn hochzuheben.

„Mops, hast du sie?“ Keine knackenden Stimmen waren auf dem Dachboden zu vernehmen. Auch keine tippenden Tastaturen oder dergleichen.

Dolf streckte seinen Kopf durch das

Fenster und sah sich in dem nachtschwarzem Raum um.

„Mops, bist du noch da? David?“

Im Dunkeln war etwas. Ein Schemen stand in der Mitte des Dachbodens, schwach erkennbar hinter den trüben Lichtstrahlen der Dachbodenluke. Eine lange, schwarze Gestalt, die nur dort stand und zum Dachbodenfenster schaute.

Dolf biss beide Zahnreihen heftig zusammen.

„Wer bist du?“, rief er in die Dunkelheit. „Wer seid ihr und was wollt ihr?“

Die Gestalt antwortete ihm nicht. Ihre Arme reichten bis zu den Kniekehlen und ihre Finger bis hinunter zu den Waden.

Dann hob sie einen ihrer langen Arme und zeigte auf Rudolf Eder.

Ein dröhnendes Geräusch erklang neben dem Fenster und Dolf sah eine bunt-blinkende Maschine auf einer kleinen Kommode rattern. Aus der Maschine rollte eine endlos lange Schriftrolle mit schiefen Wortreihen darauf hinaus.

Das Stück Papier wurde immer länger und kam in Dolfs Reichweite. Er streckte einen Arm durchs Fenster, griff danach und zog sie zu sich heran.

Als er die Schriftrolle näher betrachtete, bemerkte er die Überschrift des Dokuments und lachte laut. Sie hieß: Wasserstoffdruck auf Din A-Myriade.

„Wasserstoffdrucker, ja?“, fragte er die

Gestalt.

Er sah sie nicken und ihre Augen funkelten im Dämmerlicht.

„Das ich nicht lache.“, antwortete er selbst und las weiter.

Weibliches-Testobjekt-unzureichend-Nicht-genügend-Wahnsinnsmoleküle-Weibliches-Objekt-als-Mensch-identifiziert-Problematisch.

Kleines-Weibliches-Testobjekt-unzureichend-Nicht-genügend-Wahnsinnsmoleküle-Weibliches-Objekt-als-Mensch-identifiziert-Ebenfalls-problematisch.

Größeres-Weibliches-Testobjekt-unzureichend-Nicht-genügend Wahnsinnsmoleküle-Weibliches-Obekt-als-Mensch-identifiziert-Nach-wie-vor-Problematisch.

Männliches-Testobjekt-erfolgversprechend-Aber-nicht-genügend-Wahnsinnsmoleküle-Männliches-Testobjekt-immer-noch-als-Mensch-identifizierbar-Nein-Nein-Nein-So-wird-das-doch-nichts-Freunde.

Dolf las weiter, während der Wasserstoffdrucker einen immer länger werdenden Text ausstieß und Dolf sich langsam, mit dem wachsenden Papier in den Händen, immer weiter vom Fenster entfernte. Er hing bereits wie Michael

Jackson in einem Neunzig-Grad-Winkel am auf dem Geräteschuppen und klammerte sich an dem stetig ausdruckendem Papier fest.

Fazit-Benötigen-größeres-männliches-Testobjekt-mit-genügend Wahnsinnsmolekülen-in-diesem-Haus.

Suchvorschlag-eingeleitet-Ergebnis-Rudolf Eder-Der-Mann-mit-den-Eisenhänden-Der-Würger-von-Gressow-Mögliche Mensch'n-Moleküle-vermutet-Oberste-Priorität-Erfassung-von-Mensch'n-Molekülen-Mensch'n-Moleküle-enthalten-genug-Wahnsinns-Moleküle-Rudolf-Eder-ist-vermutlich-einer-solcher-Mensch'n.

Das Papier riss an dieser Stelle und Dolf

fiel hinab auf das harte Wellblechdach des Geräteschuppens. Die Stimmen auf dem Dachboden lachten wieder knackend und irgendwer schlug das Fenster zu.

Rudolf Eder las die letzten Worte auf dem Wasserstoffdruck nocheinmal und hielt sie sich dicht vor die Augen.

„Ihr wollt mich? Dann holt micht doch! Ich habe genug Wahnsinnsmoleküle? Ich zeige euch meine verdammte Mensch'nlichkeit, wenn ihr sie so sehr haben wollt!“

Dolf hustete laut, als das Feuer im ersten Stock brannte. Er hatte die Holzplanken von sämtlichen Fenstern heruntergerissen, sie unter der

Dachbodenluke zu einem Haufen zusammengescharrt und angesteckt.

Die Flammen tanzten lichterloh und züngelten an das Loch in der Decke.

„Mensch'n brennen, wenn man sie anzündet. Brennen Aliens auch, wenn man sie ansteckt?“, rief er in die Höhe des Dachbodens und hustete wieder.

Oben tippten keine Aliens mehr aber irgendjemand spielte wieder einen Trauermarsch auf dem Theremin, wahrscheinlich um ihn zu provozieren.

Dolf hustete sich die Seele aus dem Leib und ihm wurde schwarz vor Augen. Mit dem Ärmel über der Nase machte er sich an den Treppenabstieg. Eine gewaltige Wärme stieg ihm in den Rücken. Die

Flammen frassen sich bereits an der Tapete hinauf und verbreiteten eine sengende Höllenhitze im Obergeschoss.

„Tod allen Aliens!“, rief Herr Eder im Hinabgehen und blickte über die Schulter. „Das ist für Agatha!“

Das Theremin spielte weiter seine heitere Melodie.

Er schritt weitere Stufen hinab. „Und das ist für Katharina.“

Das Theremin auf dem Dachboden lachte über ihn.

„Und das ist für Mops … ich meine, das ist für meinen David.“

Das Theremin schellte in die Höhe, als wenn der Moment eines albernen Musicals jetzt sehr dramatisch wäre.

Niemand schrie auf dem Dachboden. Keine Klagelaute von sterbenden Aliens. Nur ein Theremin.

„Und das ist für Martha!“, rief Dolf aufgeregt und rannte dann durch den Hausflur aus der Haustür hinaus und fragte sich im selben Moment.

„Martha?“

Dolf rannte in den Garten zu den Johannisbeersträuchern und blieb stehen. Das Dachgeschoss des Hauses hatte sich in eine flammende Zipfelmütze verwandelt. Orange Teufelszungen leckten am Sternenfirmament und verschwanden dann sogleich wieder hinter den Dachschindeln. Es war ein heißes Spektakel. Das ganze Haus

loderte jetzt wie ein angestecktes Zeitungsknäuel.

„Ich habe Martha umgebracht. Nicht die Aliens.“, sagte er laut und sprach zu niemandem außer sich selbst.

„Ich habe Martha umgebracht.“

In diesem Moment brach ein großes Stück Dach in sich zusammen und eine Feuersbrunst schoss wie eine riesige, rote Faust aus dem klaffenden Loch. Etliche Dachschindeln flogen in die Höhe und landeten auf dem Rasen.

Jetzt krochen Gestalten aus der feurigen Öffnung im Dach. Sie hangelten sich gelassen aus dem Loch und hockten sich dann auf die freigelegten Giebel. Wie Vögel saßen sie dort und schauten hinab

zu Dolf Eder. Es wurden immer mehr schlanke, grüne Gestalten mit langen Armen und langen Fingern und alle setzten sich zusammen, als ob sie miteinander schwatzend teure Logenplätze für ein Theaterstück einnahmen.

Dann hockten sie alle auf dem Dach. Mindestens vierundzwanzig unheimliche Silhuetten, die im Schein des Hausbrands aufleuchteteten und wie Dämonen grinsten, als sie auf Dolf hinabschauten.

Unten in der Küche explodierte etwas und ein zugenageltes Fenster wurde von Brettern befreit. Das Fenster zum Esszimmer zerbarst und die Holzplanken knackten laut, als sie in Stücke gerissen

wurden.

Die Aliens lachten laut und applaudierten.

„Was wollt ihr?“, schrie Dolf ihnen zu.

Alle Aliens hoben zugleich ihren rechten, unterarmlangen Zeigefinger an und deuteten auf Rudolf Eder.

Weitere Figuren kletterten aus dem Loch, aus dem Flammen leckten wie gierige Zungen.

Es war eine Frau die herauskam und sich zu den Aliens setzte. Dolf kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und versuchte die Gestalt zu erkennen. Es war Martha. Ohne Zweifel.

Dann kroch ein Junge aus dem Loch und zwei Mädchen folgten ihm. Sie hockten

sich neben ihre Mutter und neben den Rest der Aliens auf dem brennenden Dach.

„Martha!“, rief Dolf wie von Sinnen. Und dann: „Agatha, Katharina, David! Ihr seid noch am Leben?“

Seine Familie saß dicht beieinander. Ein Alien legte den Arm um seine Frau und sie lehnte sich an ihn. Ein anderes Alien nahm Aga auf den Schoß und streichelte sie liebevoll an der Schulter.

„Nein“, antwortete Martha Eder. Ihre Stimme war schwach wie knisterndes Laub. Seine Kinder schüttelten parallel mit den Köpfen.

„Bitte“, schrie Dolf zu seiner Familie auf dem Dach hinauf. „Es tut mir so Leid.

Ich wollte dich nicht umbringen. Verzeih mir.“

„Ich verzeihe dir nicht, Dolf“, sagte seine Frau. „Ich liebe dich über alles, aber ich verzeihe dir nicht, dass du mich umgebracht hast. Manche Dinge kann man nicht verzeihen.“

Dolf nickte und sah auf seine Füße. „Ich verstehe schon. Mehr verdiene ich wohl nicht.“

„Ich verzeihe dir, Papa!“, schrie die kleine Aga und das Alien erschrak vor ihrer armschwingenden Gestitkulation.

„Ruhig, Aga“, rief Käthe und sah sie böse an.

„Was verzeihst du mir?“, fragte Dolf.

Aga lachte und das Alien, auf dessen

Schoß sie saß, lachte glücklich mit.

„Ich verzeihe dir, dass du mich umgebracht hast, Papa, und Käthe und David. Ich liebe dich trotzdem, Papa.“

Im Wohnzimmer schlugen Flammen aus dem verbarrikadierten Fenster und stoben wie wahnsinnige Finger aus den Rillen im Holzverschlag.

Käthe schlug ihrer Schwester auf den Oberschenkel und gab einen energischen Pssst-Laut von sich.

„Das waren die Aliens, Aga. Hast du vergessen? Die Aliens haben uns alle umgebracht und uns auf den Dachboden verschleppt.“

Einige Aliens sahen sich bedrückt an und zuckten dann mit den Schultern.

„Ja, die Aliens“, sagte David und hob seinen rechten Daumen über der geschlossenen Hand zu Dolf. „Was auf dem Dachboden passiert, bleibt auf dem Dachboden, nicht wahr Pa? Ich meinte Dolf, sorry!“

„Es ist okay, wenn du mich Pa nennst, Junge“, rief Dolf seinem Stiefsohn zu. Er bemerkte, dass er weinte, weil Tränen ihm in den Mund liefen.

„Dafür ist es doch jetzt eh schon zu spät, Dolf“, antwortete ihm sein Stiefsohn und hob seinen Daumen noch etwas höher.

Eiskalte Finger schlossen sich nun um Rudolfs Unterarme und er sah, wie zwei besonders große, kräftige Aliens neben ihm standen.

„Wir lieben dich trotzdem“, rief seine Familie ihm im Gleichklang zu, als die Aliens Dolf in Richtung Haus führten.

„Ich liebe euch auch“, antwortete er und die Hitze im Haus brannte ihm den Schweiß aus der Stirn, als er von den Aliens durch die Verandatür gezwängt wurde. Alle Aliens lachten jetzt laut mir ihren knackenden Stimmen. Auch seine Frau lachte und seine Kinder lachten und sein Stiefsohn lachte.

Der Boden war so heiß, dass seine nackte Haut sich mit jedem Schritt von den Füßen löste und kleben blieb.

Dolf schrie vor Schmerzen und lachte dann in die Gesichter seiner beiden Begleiter. Einer der Aliens lächelte mit.

Der andere blieb ausruckslos.

Was für ein Langweiler, dachte sich Dolf.

Stumm führten sie ihn die Treppe hinauf. Ihre Augen waren so schwarz wie Brunnenschächte und ihre Köpfe waren aufgebläht wie faule Wassermelonen.

Rudolfs Unterhemd begann zu brennen, als sie den Flur im ersten Stock erreichten. Seine Haut zog sich unter dem Stoff zusammen wie die Oberfläche von faltigen Elefantenrüsseln.

Dolf schrie. Die Aliens schrien mit ihm und führten ihn weiter.

Jetzt stieg das Feuer von seinem Unterhemd hinauf zu seinen Nackenhaaren.

Als sein Kopf brannte, bekam Dolf schlimme Kopfschmerzen. Es fühlte sich so an, als ob seine Kopfhaut in eine Zitrone gebissen hätte und sich allmählich zusammenzog.

Die Holzblockade an der Dachbodenluke war in sich zusammen gefallen und die Dachbodenleiter fuhr wie durch Zauberhand zurück hinunter in den Flur.

Das eine Alien schwang jetzt Dolfs Oberkörper über die muskulöse Schulter. Das andere hievte die Beine über den Oberarm und zusammen trugen sie ihn die Dachbodenleiter hinauf.

„Ich nehme es euch nicht übel, dass ihr meine Familie umgebracht habt“, schrie Dolf in das muschellose Ohr des

vorderen Aliens. Das Alien nickte nur und stieg weiter die Leiter hinauf.

„Wisst ihr nochmal damals, als ihr meiner Mutter das Kissen auf den Kopf gedrückt habt und meinen Vater in den Baggersee gestoßen habt? „

Das hintere Alien zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Ach, nicht so wild“, sagte Dolf und hustete Ruß und Blut an die Decke, als er durch die Dachbodenluke gehoben wurde.

Die Aliens ließen ihn und los und Dolf sanke mit beiden Knien auf die Glut der brennenden Dachbodendielen.

Martha lag vor ihm. Er legte sich seitlich neben sie. Seine Wange berührte den Boden und blieb schmatzend haften, als

er den Kopf hob. David lag auch hier, der dicke Mops. Und Agatha, die kleine Aga. Und Katharina, die sorgsame Käthe.

Er war mit ihnen allen vereint auf dem Dachboden und seine Hoden knackten wie Popcorn, als das Feuer seine Beine verschlang.

Die Aliens glotzten alle durch das Loch im Dach und ihre Köpfe drängten sich um den besten Platz, damit sie Rudolf Eder brennen sehen konnten.

Rudolf legte den Arm unter den Kopf seiner toten Frau und versuchte mit dem anderen Arm seine Kinder an sich heranzuziehen.

„Immer diese Aliens auf dem Dachboden“, sagte er und die Haut an

seinem Unterkiefer schmolz, während ihm plakatgelbe Flammen aus dem Mund stießen. Er schrie laut auf, wenn die Schmerzen zu stark wurden. Ein Augapfel platzte und lief ihm über das Gesicht. Das Dach brach über Dolf zusammen und füllte seinen Mund mit heißer Asche, als er sagte: „Bringen ständig irgendwelche Mensch'n um. Diese Aliens.“

Die oberen Stockwerke des Hauses krachten in die unteren und die Grillen zirpten leise auf bizarre Art und Weise, als das Knistern der Flammen sämtliche Aliens in die Nacht hinaus vertrieb. Das Haus brannte bis zum Morgengrauen. Bis nichts mehr davon übrig war.

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