Journalismus & Glosse
Seveso

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"Das weisse Gift"
Veröffentlicht am 25. Juli 2018, 26 Seiten
Kategorie Journalismus & Glosse
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Über den Autor:

Ich versuche mit guten Geschichten zu unterhalten. Hoffentlich glückt es. Ich bin Jahrgang 1958, in München geboren. Seit meiner Kindheit schreibe ich, habe aber nie eine Profession daraus gemacht. Meine zarten Versuche mal eine meiner Geschichten bei einem Verlag zu veröffentlichen sind gescheitert. Hier gibt es eine Auswahl von Kurzgeschichten aller Art. Sie sind in ihrer Kürze dem Internet und e-pub Medium angepasst.
Das weisse Gift

Seveso

Vorbemerkung

1976 ereignete sich der schlimmste Chemie-Unfall Europas.

Das Unglück ist in Vergessenheit geraten.

Die kriminellen Prinzipien der Politiker, Behörden und geldgeilen Industriemagnaten bleiben gleich, sind keine neuen, unmoralischen Maßstäbe. Schon damals wurde gelogen, dass sich die Balken biegen.

Da ich die unterschiedlichsten Aspekte der Katastrophe beleuchten wollte, teilte ich die Recherche in vier Bände auf. Ich bemühte mich die Ereignisse packend zu erzählen.


Copyright: g.v.Tetzeli

Cover: G.v.Tetzeli

Seveso, der Unfall

Das Städtchen Seveso liegt in Italien etwa auf der Hälfte des Weges zwischen Como am Comer See und der Metropole Mailand, also zirka 20 Kilometer von ihr entfernt. Am Montag, den 12.07.1976 lag eine Katze am Straßenrand im Sterben. Sie wird wohl einen Vogel gefressen haben, der vergiftet war. Vergiftet? Womit? Es ist auch nicht die erste Katze in jenem Sommer, die dalag und starb. Die Einwohner waren alarmiert. Sie brachten das in Verbindung mit dem weißen Staub, der von der nahegelegenen Fabrik Icmesa herabgeregnet war. Samstagmittag, den 10. Juli 1976 geriet durch Unachtsamkeit eine Reaktion bei der

Herstellung von Trichlorphenol außer Kontrolle. Aus einem Druckbehälter verpufften 2 Kilo einer Substanz, die schon Milligramm Weise tödlich wirkt, TCDD, Tetrachlordibenzodioxin, vereinfacht schlicht Dioxin genannt. Es war auch keine eigentliche Explosion. Es gab ein zischendes Geräusch, wie von einem Zug. Später sah der Boden dort am Kaminrohr im Gelände schwarz aus, wie Öl. Am Freitag, den 09.07.1976 besprach der Direktor des übergeordneten Konsortiums Givaudan, ein Schweizer Duftstoffhersteller, in der Firma Icmesa den Plan für die Woche und wie üblich sollte Trichlorphenol produziert werden(TCP). Jörg Sambeth hieß der Givaudan Direktor und er machte später noch

von sich reden. Wie geplant, wurde mit der Beheizung des Reaktorkessels 101 am 09. Juli, also noch am selben Tag begonnen. Gegen Abend war der Reaktor heiß genug, um zu arbeiten. Am Samstag, den 10. Juli, 2:30 Uhr nachts, war die gewünschte Reaktion beendet. Die Nachtschicht ging nach Hause, der Reaktor war immer noch sehr heiß. Der in der Frühschicht neu erschienene Operator sah den Abschluss der Reaktion und schaltete das Rührwerk im Kessel 101 aus. Ohne Umschichtung musste es folglich zu einem Wärmestau kommen (mehr als 158 Grad C). Die fröhlich eingetroffenen Mitarbeiter des Reinigungs- und Wartungspersonals merkten nichts. Am Samstag um 12:30 begann die chemische

Reaktion, weil die Lake nicht mehr durchmischt wurde. Der Druck und die Temperatur stiegen rapide an, die Explosion erfolgte gnadenlos, das sogenannte thermische Durchgehen. Genau um 12:37 löste wegen des Überdrucks ein Sicherheitsventil aus, damit der Reaktor nicht wie eine geplatzte Bombe in die Luft flog. Der Überdruck entlud sich unweit des Kessels auf dem Gelände von Icmesa über eine Art Schornstein. Ein eigentlich vorgeschriebenes Überlaufbecken, um einen eventuellen Überdruck abzufangen, gab es nicht.


Die Bedingungen, unter denen so gefährliche Produktions-Ketten betrieben wurden, waren dort allgemein mehr als fahrlässig, geradezu unverantwortlich.

Während an Sicherheitseinrichtungen gespart wurde, Arbeiter ungenügend ausgebildet waren, wurde die Produktion bis zur Grenze fortwährend gesteigert. Die Belegschaft wechselte außerdem ständig die Abteilungen, denn sie waren hohen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Ein Arbeiter berichtete später folgendes: „Wenn eine Glühbirne der Beleuchtungsanlage unserer Abteilung kaputt war, musste man erst einmal Dampf unter Druck austreten lassen, um die giftigen Rauchwolken, die sich ständig unter dem Dach sammelten, zu entfernen, bevor einer von uns mit einer Leiter die Glühbirne wechseln durfte.“


Erst um 13:45 Uhr traf fachkundiges Personal ein und konnte den Reaktor auf eine unkritische Temperatur herunterfahren. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 1.800 Hektar Land auf Jahre vergiftet. Dieses qualifizierte Personal musste jemand beordert haben, genauso wie dieser Jemand von der logischen Verpuffung des Dioxins gewusst haben muss. Über solch einen extremen Zwischenfall war bestimmt schon am Montag, den 12 Juli, Direktor Jörg Sambeth unterrichtet worden.

Nach diesem Ereignis, am darauffolgenden Tag, den Montag, mussten die 163 Angestellten weiter arbeiten. Einem Angestellten fiel auf, wie eine Taube tot zu

Boden fiel. Er vermutete aber, dass sie mit einer Hochspannungsleitung in Berührung gekommen war. Diese Taube blieb nicht der einzige Vogel, der vom Himmel fiel. Die ganze Woche lang produzierte Icmesa weiter, lediglich der Bau B des Werksgeländes wurde außer Betrieb gesetzt. Die Konzernführung schwieg, obwohl schon ein Offizieller von irgendeiner Behörde die Örtlichkeit auf dem Chemie Gelände untersuchte. Die Arbeiter sollten dort lediglich bitte nichts anfassen.

Erst nach einer Woche sprachen die Carabinieri den Dax Direktor an. Sie holten ihn aus einer Konferenz. Es waren der Direktor von Icmesa Zwehl zusammen mit seinem Produktionschef Paolo Paoletti. Noch

eine weitere Woche konnte das Gift wirken, bevor die Behörden aktiv wurden. Die Gegend wurde abgesperrt und Einwohner evakuiert. Die Firma Icmesa, ein Tochterunternehmen der Givaudan, gehörte dem Schweizer Chemiekonzern Hoffmann- La Roche.

Dort war man über den Unfall und dessen

Schwere genauestens informiert. Eine Karte mit genauen Messzahlen für jeden Quadrant des gesamten Gebietes um Seveso – im Original mit deutsche Beschriftung - wurde den italienischen Behörden erst am 20. Juli zur Verfügung gestellt. Sie zeigte exakt die vom Wind getragenen Niederschläge und Mengen von Dioxin an. Wer war denn da so gründlich gewesen? Und in welchem Auftrag? Es folgten wochenlang Diskussionen und viele Schriftwechsel, ehe daraus die Konsequenzen gezogen wurden.


Seit Ende des Zweiten Weltkrieges produzierte Icmesa zwischen Gemüsegärten und den kleinen Möbelbetrieben in Brianza, wie diese Gegend in der Lombardei benannt

wird, Chemikalien für Möbelpolituren. Eine Ansiedlung von chemischer Industrie war in diesem gut besiedelten Gebiet niemals geplant, aber die staatliche Aufsicht drückte alle Augen zu, angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen. Stempel und Unterschriften wurden wie Konfetti verteilt, selbst wenn es sich um so gefährliche Stoffe, wie Trichlorphenol handelte. Dies brauchte man, wenn man Desinfektions-, Entlaubungs- und Insektenvernichtungsmittel herstellen wollte. Darauf komme ich noch im Band II.

Der finanzkräftige Großkonzern La Roche bot eben eine garantierte Beschäftigung von rund 200 Arbeitskräften. Außerdem vergütete er großzügig die Schäden durch entwichene, giftige Abgase, kleine Unstimmigkeiten, die in

schöner, gespenstischer Regelmäßigkeit vorkamen, wurden von allen bestochenen Ämtern verschleiert. Anzeigen nützten nichts, sie gingen allenfalls ihren an Umwegen reichen Lauf durch die Amtsstuben, bis sie dort verpufften.

Dieser 10 Juli, so unbemerkt sich der sonnige Tag gab, wurde zur Umweltkatastrophe. Besonders frappant war, dass die Werksleitung den Unfall in geradezu widerlicher Weise herunterspielte. Der erste, verschwommene, ungenaue Bericht erfolgte erst nach 7 Tagen. Man konnte nicht mehr verheimlichen, dass 14 Kinder mit schweren Hautausschlägen in das Krankenhaus mit Chlor-Akne eingeliefert wurden. Zu zwei in dieser Woche vorgekommenen Todesfällen

äußerte sich Direktor Adolf Jann, Chef von Hoffmann La Roche selbst (also wusste er schon zu diesem Zeitpunkt von einer Problematik!): „Die Frau, die leider gestorben ist, litt unter Asthma. Der Bub, der mit Leberschäden ins Spital eingeliefert wurde, hatte Gelbsucht. Beide Fälle haben mit der Icmesa nichts zu tun.“

Mit welcher samtweicher, Arroganz verspritzender Stimmlage Direktor Jann diese verlogene Aussage verkündete, da geht mir das Messer in der Hose auf.


(Chlor-Akne - hinterlässt für immer Narben)

Die Pflanzen verwelkten. Der Bürgermeister von Medal und der von Seveso begnügen sich vorerst damit, eine Verordnung heraus zu geben, nämlich kein Gemüse mehr zu ernten, nicht zu verzehren und bitteschön sich die Hände gründlich zu waschen. Das war es.

(Tiere werden verbuddelt)

Ach ja, das Schwimmbad ließ man auch schließen. Erst 14 Tage nach dem Unfall erfolgte die Evakuierung. Das Gebiet wurde von Soldaten abgesperrt, die Schutzanzüge für chemische Kampfführung trugen. Eine Zone A durfte überhaupt nicht, eine Zone B nur sehr beschränkt betreten werden. Die

Streitkräfte fuhren Patrouillen, wie im Ernstfall eines Gaskrieges.

Eine Wellblechabsperrung schloss ein Gebiet von 15 ha hermetisch ab. Die Wand war gelb, wie die Flagge der Cholera auf Schiffen. Im verseuchten Gebiet arbeiteten nun Vergiftungstrupps. Der Feind war unsichtbar und nistete sich überall ein, in Häusern, in

Blättern, im Straßenstaub. Die Giftigkeit bleibt unvermindert 5 Jahre erhalten, ohne irgendwelche Einbußen der Intensivität. Die Filter der Atemmasken waren nach vier Stunden verbraucht, die Vollverkleidung versuchte die Belastung der Räummannschaften so gering wie möglich zu halten. Messbar war und ist die Belastung im Gegensatz zur atomaren Strahlenbelastung leider nicht. Es gibt keinen Geigerzähler für Dioxin. Daher wurden für die Einsätze extrem gesunde Menschen gesucht. Die Entgiftungsspezialisten mussten nach ihrem Einsatz selbst entgiftet werden. Das Gift konnte sich an aller Kleidung, an der Haut festsetzen. Mehrere Waschstationen waren daher zu durchlaufen.

Insgesamt kamen mehr als 3000 Nutztiere durch Vergiftung um.

Vor allem solche, die von kontamierten Gras fraßen. Zu Tausenden sind Katzen, Kaninchen, Vögel und Hunde verendet, nun traf es auch Kühe und Kälbchen, Schafe.


Vorsichtshalber Notschlachtete man alle. Wie

soll man nun 40.000 Stück Vieh so tief und sicher in der Erde verscharren? Natürlich tief genug, damit ihre Kontamination keinen Schaden mehr anrichten konnte. Insgesamt mussten 80.000 Tiere dran glauben, also praktisch der Gesamtbestand der Zonen A und B. Über die genetischen Folgen für die Menschen gab und gibt es keine Klarheit. An einer Belastung zweifelt niemand. Kritische Folgen können auch erst in der nächsten Generationen auftreten. Chromosomale Veränderungen vererben sich aber praktisch bis in die Ewigkeit, breiten sich immer weiter aus, soweit das Individuum lebensfähig bleibt. Direkte Todesraten stiegen aber nicht.


Zuerst dachte man an die finanziell günstigste

Lösung. Alles verbrennen! Da bebte der Volkszorn. Man würde das Gift dabei nur in die Luft verteilen. Professoren, Wissenschaftler und Politiker stritten sich um die Lösung, welche nun die beste Methode der Entsorgung sei. So zögerten sich Aktionen weiter hinaus. Schließlich einigte man sich auf Abtragen, Verpacken, Vergraben. Das betraf alle Dinge über der Erde und die Erde selbst in Zone A. Stand immer noch die Frage im Raum:

Abtragen bis zu welcher Tiefe? Und wie viel abertausende Tonnen macht das?

Kundgebungen fanden statt. Der Unmut richtete sich vor allem gegen die aufreizende Langsamkeit der Behörden genauso, wie

gegen den bösen Multi La Roche. Im nach hineingesehen nicht ganz fair. Frage: Wäre dies Unglück einer italienischen Firma widerfahren, hätte sie, oder gar der Italienische Staat über 200 Millionen (DM) für Dekontaminierung locker gemacht? Kaum! Für jedes Kilo Dioxin 70 Millionen, ein gar stolzer Preis.


Einen noch höheren Preis zahlte Paolo Paoletti. Er, der Produktionsleiter der Icmesa, wurde von einem Mitglied der italienischen linksradikalen Terroristenorganisation Prima Linea in Monza erschossen. Das geschah am 2. Februar 1980. Paoletti ist ironischerweise das einzige verbürgte, offizielle Opfer des Giftskandals.

Mailänder Gymnasiasten brachten mit Plakaten ihre Freude zum Ausdruck, dass ihn die gerechte Strafe ereilt hätte. Und so wurden riesige Gruben ausgehoben, mit unverwüstlichen Spezialfolien ausgekleidet, um ca. 30 Pfund Dioxin mit ungeheurem, kontaminiertem „Begleitmaterial“ liebevoll zu verpacken.


Die besonders stark kontaminiertenTeile wurden in Spezialfässer verpackt und sollten einer besonderen Endlösung entgegen gehen (Seveso Band II).

Und nach über einem Jahrzehnt gab es in Seveso wunderschöne Gemüsegärten, weil

es so viel Triclophenol im Boden gab (buchstäblich nicht das Gelbe vom Ei). Auch die Blumen erfreuten sich ungewöhnlicher Pracht. Essbar war das vorzeige Gemüse allerdings nicht. Immerhin schien sich die Natur wunderbar selbst zu regulieren.


Inzwischen sind die Evakuierten zurückgekehrt, sprechen nicht gern über das Unglück und geben sich damit ab, dass ein kleines Unwohlsein nicht gleich eine Panik ausbrechen lassen muss. Wo früher die Fabrik stand, da glänzt nun ein Sportzentrum und aus dem verseuchten Gelände wurde ein gar prächtig gediehener Park. Heute ist friedlicher Alltag eingekehrt. Die ganze Katastrophe hatte kein einziges,

offizielles Menschenleben durch Vergiftung gekostet, lief eigentlich verhältnismäßig harmlos aus.


Und irgendwann wird Seveso wieder ein Name einer Stadt sein, wie andere auch, ohne dass sie einen schauderhaften Anklang hat.  

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welpenweste
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Hoffentlich glückt es.
Ich bin Jahrgang 1958, in München geboren.
Seit meiner Kindheit schreibe ich, habe aber nie eine Profession daraus gemacht. Meine zarten Versuche mal eine meiner Geschichten bei einem Verlag zu veröffentlichen sind gescheitert.

Hier gibt es eine Auswahl von Kurzgeschichten aller Art. Sie sind in ihrer Kürze dem Internet und e-pub Medium angepasst.

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Bleistift 
"Seveso..."
Ich kann mich noch recht genau daran erinnern,
auch dass die Informationen zu diesem
Katastrophenverlauf nur ziemlich spärlich
und "ausgewählt" über die Medien verbreitet
wurden. In der offiziellen Lesart heißt es dann
immer, die freigesetzten Soffe sind zwar ungefährlich,
aber die Anwohner-Bevölkerung wird dringend gebeten,
die Fenster und die Türen fest geschlossen zu halten...
Super Recherche und ich bin schon mal sehr
auf den II. Band deiner Geschichte gespannt!
beste Güße
Louis
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welpenweste Teil II kommt in Kürze!
Danke für Dein Lob.
Herzlich
Günter
Vor langer Zeit - Antworten
Annabel Oh, das liest sich sehr dramatisch, so wie es auch ist. Gute Recherche
Vor langer Zeit - Antworten
welpenweste Ich bin immer wieder mehr als froh, wenn Leser meine Recherche, die z. Teil nicht einfach war, zu schätzen wissen. Und ich hoffe, dass ich es entsprechend dargebracht habe, ohne Langeweile aufkommen zu lassen.
Vielen Dank für das Lesen
Günter
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