DIE ALTEN TRINKER
Ende März. Kalt ist es draußen, ein frostiger Ostwind fegt um die Häuser und treibt leere Plastiktüten und anderen Müll durch die Straßen. Zeit für ne andächtige Pause, denk ich mir. Also rein in meine Lieblingskneipe und n
extra heißen Kaffee trinken. Ist kaum was los in dem Laden. Hermann, der Wirt, bewacht seine Gläser und Gäste. Tatsächlich sind schon welche da, obwohl es erst kurz vor Mittag ist.
Ich bestell meinen Kaffee, putze meine Brille blank und erkenne erst jetzt wer da noch so hockt.
Es sind die alten Trinker.
Manchmal kommen sie noch um ihren Halben zu leeren, zu quatschen und um sich gegenseitig liebevoll auf die Schippe zu nehmen. Das passiert immer seltener. Nicht mehr so einfach mit Mitte achtzig durch die Gegend zu ziehen. Aber sie geben sich Mühe. Man kommt eben doch nicht so leicht von
eingefahrenen Gewohnheiten los.
Ich mag sie.
Höre gerne ihren Geschichten zu.
Meist von damals, als sie in meinem jetzigen Alter waren, und ich noch ein kleiner Junge in kurzen Hosen und zu langen Haaren, an denen sich mein Vater immer störte.
Ja, ich höre gerne zu. Geschichten vom alten Sankt - Pauli, als der Kiez noch Kiez war, und Zuhälter und Nutten kleine Berühmtheiten waren. Während ich mich bemühte etwas anständiges zu lernen. Nicht sehr weit entfernt. Königsstraße ein paar hundert Meter rauf. Schule Struenseestraße.
„Der Finger - Peter war n Guter. Hat
mal vier freche Matrosen nacheinander auf ´s Pflaster geboxt. Hat dann gleich noch seine Alte vermöbelt weil er so in Fahrt war. Da musste der mit ner Knarre an Kopp erst mal gestoppt werden!“
„Hatte nie Ärger mit den Udl ´s, der Mistkerl.“
„Genau wie die anderen. Der Karate - Tommy, Lackschuh, die ganze Nutella - Gang.“
„Die hatten auch schmucke Deerns am Start. Die Titten - Biggie, die rote Madame, und die eine da, die immer Mariacron gesoffen hat. - Konnte einen Kerl in drei Minuten komplett leer pumpen!“
„Die waren aber auch noch mit Herz und
Seele bei der Sache. Konnte man sich glatt verlieben in die Puppen!“
„Erinnerst dich noch an die „Hühnerbein - Rosi“? Saß immer im Wienerwald vor nem fettigen Teller. Hat öfters mal zwischen zwei Keulen n Freier klar gemacht!“
„Jau! Ne echte Legende!“
„Und Polizei? Waren doch damals alle korrupt bei der Bullerei. Die sind doch vor lauter Gier ganz Blind geworden. Und gratis Vögeln konnten sie obendrein, die Mistbullen.“
„Sind ja mittlerweile alle weg. Tot, Pensioniert, zivil geworden, oder immer noch im Knast oder in ner Klappse.“
Wer früher aus dem Gefängnis kam
landete unweigerlich hier. Zwischen schummrigen Hinterzimmern, einsamen Hinterhöfen, verdreckten Absteigen und bunten Animier - Schuppen schien immer das große Glück zu warten. Das nächste große Ding. Der ultimative Coup. Meist blieb es bei kleinen Gaunereien. Touristennepp und Kippen sammeln.
Und dann die Nummer mit dem Freifahrtschein. Jeder der gerade aussem Knast kam bekam ne Gratisnummer bei der Hure seiner Wahl. Alles Quatsch, und äußerst selten. Schon damals waren die Luden geizig wie ne Horde Schotten. Die saßen lieber zusammen, mit ihren Pelzmänteln und der gebrauchten Rolex am Handgelenk, der Ami Schlitten vor
der Tür. Mit vom Koks ausgebrannten leeren Augen verzockten sie die Tageseinnahmen. Egal. Muss die Mausi morgen eben Doppelschicht fahren. Von nichts kommt nichts.
Verruchtes Kopfsteinpflaster Idyll. Hundescheiße und bunte Scherben neben den verkrumpelten Kondomen. Mit Neonlichtern geschminkte Straßen versprachen das große Vergnügen; das noch nie Gesehene und das Unvergessliche. Alles eine vergnügte Fassade, hinter der es doch nur um die letzten Einnahmen ging. Egal ob Bumslokal, Edel - Puff, Pommesbude, Stundenhotel, oder dem alteingesessenen Frisör mit Perücken - Verleih.
Der Abstieg begann dann sehr drastisch. Ende der siebziger, - Anfang achtziger Jahre. Die meist unbegründete Angst sich mit dem HIV Virus anzustecken ging um. Dazu noch die Rezession. Freier wurden knapp. Vergnügungssüchtige Wochenend - Pistengänger ebenso. Kneipen mussten dicht machen. Aus den Oben ohne Bars wurden Peepshows, Sexshops, Daddelhallen und exotische Fressbuden.
Ein mehr als übles Jahrzehnt mit blutigen Verteilungskämpfen um die Reste am Prostitutionsgeschäft. Es hagelte reichlich Tote, Verletzte und auf ewig Ausgeschlossene vom großen Business.
Nur langsam erholte sich dieser von den
skrupellosen Städtebau Managern vergessene Stadtteil.
Neue Clubs entstanden. Ein neues Publikum entwickelte sich. Szene Gänger mit hipper Lebenseinstellung und gut bezahlten Vollzeitjobs entdeckten die Möglichkeiten des trendigen Wochenendvergnügens mit Cocktail Lounge, House - Music Partys, Techno Zappelbuden, und DJ Beschallung und neuen synthetischen Drogen. Alles neu hinter den alten rissigen Fassaden wo hinter blickdichten Gardinen immer noch die alten Hausfrauen Wache schieben, während ihre Männer von der Vergangenheit träumen. Die alt Eingesessenen sind zur echt
authentischen Staffage für ein schnelles Handy Foto verkommen.
Oh ja, das alte gibt es immer noch. Auch die Knäste, die Zuhälter, Nutten, Kleinganoven und Koberer. Doch mehr und mehr wirkt es wie eine folkloristische Inszenierung. Die Luden wohnen jetzt in der unauffälligen Vorstadt in schmucken Häuschen mit besenreinem Vorgarten und ihr Geld wird jetzt in Aktienfonds angelegt. Man trifft nur noch selten einen. Abkassiert wird von entbehrlichen Strohmännern in modischen Sportsachen. Natürlich gibt es auch noch Nutten. Die wird es immer geben. Doch es ist austauschbares Fleisch, ohne Persönlichkeit oder
Charakter. Seelenlose Dienstleisterinnen. Und die alten Kneipen und Kaschemmen gibt es auch noch vereinzelt. Üble Löcher mit abgewetztem Linoleumboden, leicht zu reinigen, falls sich ein Volltrunkener mal wieder in die eigene Hose pisst oder kotzt, wo tatsächlich noch zusammen gerechnet 180 Jahre Knast vor der Theke stehen und in ihr Flaschenbier flüstern. Immer auf der Suche nach dem ganz großen Ding, dass sie endlich auf die Füße bringt.
Doch auch diese heimeligen Heimstätten des ungehemmten Suffs werden immer weniger. Genauso wie die alten Trinker und ihre Geschichten. Denen werde ich sicherlich
nachtrauern.
Text: 06/2018 harryaltona
Cover: Pixabay