Kurzgeschichte
Die Wahrheit über meine Mutter

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"Je mehr Details ans Tageslicht kommen, desto mehr packt ihn die Wut"
Veröffentlicht am 03. Februar 2018, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Elena Okhremenko - Fotolia.com
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Je mehr Details ans Tageslicht kommen, desto mehr packt ihn die Wut

Die Wahrheit über meine Mutter

Titel

Jetzt bin ich endlich achtzehn und kann mich auch auf die Suche nach der Wahrheit machen. Uns, das heißt meinem Bruder und mir, wurde gesagt, das wir ins Heim kamen, weil unsere Eltern kein Geld haben. Eine dreiste Lüge. Meine Eltern hatten beide gesagt, das das nicht wahr ist. Die wahren Gründe konnten sie uns aber nicht erklären. Angeblich waren wir noch zu jung, um die Wahrheit verstehen zu können. Nachdem wir ein Jahr im Kinderheim gelebt haben, siedelten wir in eine andere Stadt und lebten fortan im

SOS-Kinderdorf. Dort war es schöner, als im Heim. Dafür sahen wir unsere Eltern seltener. Meinem Bruder fiel es manchmal gar nicht auf, weil er häufig in seiner eigenen Welt lebte, dem Reich der Phantasie. Damals nervte es mich oft gewaltig. Jetzt denke ich, das er sich damit geschützt hatte. Kurz nach dem wir im Dorf eingezogen waren, besuchten uns unsere Eltern jeden zweiten Samstag. Damals waren sie noch gemeinsam gekommen. Jeden zweiten Sonntag haben wir telefoniert. Eines Tages hatte sich alles geändert. Plötzlich kamen sie mitten in der Woche. Da wir Kinder in die Schule gingen und bis zum frühen Nachmittag Unterricht hatten,

blieb uns nicht mehr viel von den Besuchen. Wie gesagt, lebten wir in einer anderen Stadt. Nachdem die Besuchstage mitten in die Woche verschoben worden waren, hatten wir etwa zwei Stunden mit unseren Eltern. Das bedeutet, wir sahen unsere Eltern etwa vier Stunden im Monat. Die sonntäglichen Anrufe blieben bestehen. Aber es kam vor, das wir Sonntags unterwegs waren und erst spät zurück kamen. Vor allem in der Ferienzeit, kam das häufig vor. Meine Eltern erfuhren erst von unseren Unternehmungen, wenn sie uns die Woche drauf besuchen kamen. Die Besuche meines Vaters nahmen abrupt ab. Er hatte uns immer mal wieder

einen Brief geschrieben und uns mitgeteilt, wie es ihm so geht und was er so macht. Ansonsten hörten wir nichts mehr von ihm. Aus seinen Briefen weiß ich, das es in erster Linie mit unserer Mutter zu tun hatte. Aber auch mit seiner Arbeit, die er hasste und gleichzeitig liebte. Des weiteren hatte er von Erinnerungen geschrieben, die ihn immer wieder einholten, wenn er uns besuchen kam. Meine Mutter versprach viel und hielt wenig. Anfangs war ich enttäuscht und traurig zugleich gewesen, wenn sie ihr Versprechen nicht wahr gemacht hatte. Irgendwann hörte ich auf, ihr zu glauben. Ich fing auch an, mich von ihr zu

distanzieren und ihr aus dem Weg zu gehen, wenn sie uns besuchen kam. Sie wollte nicht, das wir sie anlügen, machte uns aber leere Versprechungen. Ich schrieb meinem Vater nie zurück. Ein paar mal hatte ich einen Brief angefangen, ihn aber gleich wieder verworfen. Dann habe ich es völlig aufgegeben. Wenn ich ihn nach den Gründen gefragt hätte, ich glaube, er hätte mir die nackte Wahrheit präsentiert. Ansatzweise stand ja was in seinen Briefen. Genaueres wollte er mir aber nie schreiben. Seine Begründung war: „Die Wahrheit interessiert eh keinem. Habs oft versucht und wurde stets daran gehindert, die Wahrheit

auszusprechen. Ich bin das Arschloch und eure Mutter der Engel.“ Zweimal im Jahr gab es einen sogenannten Hilfeplangespräch. Dafür wurden wir extra aus der Schule genommen, obwohl wir in das Gespräch gar nicht wirklich integriert wurden. Wenn es direkt um uns Kinder ging, mussten wir den Raum verlassen. Ich sah keinen Sinn darin, extra dafür die Schule säumen zu müssen. Ebenso wenig meine Eltern. Vor allem meinem Vater regte es auf, denn als wir noch bei unserer Mutter wohnten, hatte er eine Umschulung angefangen. Die Frau vom Jugendamt hatte ihm gesagt, das er die Schule nicht so wichtig nehmen, sich stattdessen mehr

um uns kümmern soll. Wir Kinder lebten bei unserer Mutter und so sollte es auch bleiben. Mein Vater hatte nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt, uns zu bekommen. Es hieß von Anfang an, entweder meine Mutter schafft es, oder die Kinder sind für immer weg. Je mehr ich über alles nachdachte, desto mehr Erinnerungen kamen hoch und brachten Licht ins Dunkel. Während mein Vater sich um uns kümmerte, verbrachte meine Mutter sehr viel Zeit im Bett, mit ihrer Freundin oder vor dem Laptop. Manchmal waren wir nachts wach geworden. Dann liefen wir ins Schlafzimmer unserer Mutter. Dort lag sie nackt mit einem anderen Mann, der

auch nichts anhatte. Heute weiß ich, das sie miteinander Sex hatten. Das hatte sie jede Nacht und immer war es mit einem anderen. Die Wahrheit, über meine Mutter, ist in mir und kommt gerade ans Tageslicht. Details kommen zum Vorschein, die sich in das Gesamtgebilde perfekt einfügen. Wie, zum Beispiel, die Nachmittage, wenn ihre Freundin bei uns zu Besuch kam. Damals war mir das irgendwie nicht aufgefallen. Jetzt sehe ich es vor mir, als würde es gerade geschehen. Meine Mutter und ihre Freundin unterhalten sich über irgendwas Langweiliges. Ich will zu ihr und sie schubst mich einfach weg, wie eine lästige

Fliege. Aus den Briefen meines Vaters weiß ich, das er kaum Kontakt zu uns haben durfte, weil meine Mutter mit uns zu ihrer Mutter ging, und das jeden Tag, von frühmorgens bis spätabends, obwohl ja meine Mutter ihre Mutter nicht leiden konnte und meinen Vater liebte. Verstehe einer meine Mutter. Der Hammer ist, das sie mit meinem Vater beim Jugendamt gewesen war, um Anzeige zu erstatten, weil ihre Schwester angefasst wurde. Als sie noch Kind war, wurde sie missbraucht. Ebenso ihre andere Schwester, die deswegen eine Weile in Irland gelebt hatte. Getrunken wurde dort jeden Tag. Wegen all dem wollte mein

Vater nicht, das meine Mutter mit uns dort hingeht. Doch ihr war es egal, was mein Vater wollte. Als er sie einmal geohrfeigt hatte, weil sie ihm uns wieder einmal vorenthalten hatte, obwohl sie immer wieder beteuerte, das sie das nie tun würde, zeigte sie ihn bei der Polizei an und stellte ihn überall als Schläger hin. Niemanden wollte seine Version der Geschichte hören. Er war der Buhmann. Jemand, der eine Frau schlug. Das sie ihn häufig geschlagen hatte, einfach so, weil ihr danach war, interessierte keinem. Meine Erinnerungsfetzen und die Briefe meines Vaters fügen sich perfekt zusammen und ergeben ein Gesamtbild.

Ich erinnere mich noch genau, wie er sie als verlogene Schlampe betitelt hatte. Nun ergibt es für mich einen Sinn. Mein Vater hat nie behauptet ein Engel zu sein. Immer wieder hatte er sich für seine Fehler entschuldigt. Ich habe auch nicht vor, ihn in den Himmel zu heben. Er hat es aber auch nicht verdient, der Buhmann zu sein. Als meine Mutter meinen Bruder, über Nacht, weggab, hatte er ein Machtwort gesprochen, doch sie hatte ihn ignoriert. Jedes mal aufs Neue, wenn ihre damalige beste Freundin ankam und meinen Bruder über Nacht weggab, regte er sich darüber auf und sie ignorierte ihn. Vom Jugendamt hatte sie die Auflage bekommen, meinen Bruder

nicht wegzugeben und machte es prompt wieder. Hatte sie Anschiss dafür bekommen? Nein. Mein Vater wurde oft niedergemacht. So sehr er sich auch mit uns Mühe gab, sie fanden immer irgendwas, was ihnen missfiel und bauschten es zu einer Weltkatastrophe auf. Meine Mutter hat auch ihren Beitrag dazu geleistet, in dem sie ihn schlecht machte, wenn sie miese Laune hatte. Mir wird immer mehr klar, warum er uns nicht mehr besuchen kam. Ich will auch nichts mehr mit ihr zu tun haben. Je mehr ich über alles nachdenke und je mehr Details ans Tageslicht kommen, desto wütender werde ich. Mich packt die blanke Wut, wenn ich dran denke,

wohin uns unsere Mutter gebracht hatte. Welcher Gefahr sie uns ausgesetzt hatte. Als ob nur Mädchen missbraucht werden würden. Wie groß war die Gefahr, das wir von dem Alkohol trinken? Sie beschwerte sich regelmäßig über den Vater meines Vaters, das er so viel trinkt, schleppte uns aber jeden Tag in eine Trinkerhalle, wo die pädophile Gefahr lauerte. Das kann ich meiner Mutter nicht verzeihen. Mein Vater wusste ganz genau, warum er nicht wollte, das sie dort hingeht. Aber niemand wollte ihm Gehör schenken.

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