Jonestown
Kommt ein Vogel geflogen,
setzt sich nieder auf mein´ Fuß,
hat ein Zettel im Schnabel,
von der Mutter ein´ Gruß.
Esmeralda saß unter einer Palme, um der Hitze zu entfliehen. Zwar spendete der Baum Schatten, gegen die Luftfeuchtigkeit half es nichts. 35 Grad im Schatten war sozusagen eine Erholung. Ihre Zehen waren aufgerissen. Schwere, körperliche Arbeit zeigte ihre Krallen. Blessuren und der beginnende Zerfall des Körpers hatte sie hingenommen. Der Messias gab ihr Kraft. Und während sie sich erschöpft zurücklehnte, nahm ein
Schmetterling auf ihrer großen, nackten, aufgerissenen Zehe Platz. Eine Weile beobachtete sie ihn wie einen Freund, wie er farbenfroh mit den Flügeln fächerte und Fröhlichkeit ausstrahlte. Wie sehr hätte sie sich gewünscht so ungebunden zu sein, einfach abfliegen zu können. Im Schatten erkannte sie auch die Vögel, welche sich über die hart erarbeitete Aussaat hermachten.
Ein großes Areal des Urwalds war gerodet worden und mit primitivsten Mitteln hatten die unabhängigen, freien Bürger von Jonestown dafür zu sorgen, dass die Enklave mitten im Urwald Guyanas unabhängig blieb und sich autark ernähren konnten.
Der Messias hatte sie vor dem dritten Weltkrieg gerettet, vor der atomaren
Vernichtung der Menschheit, wie er verkündet hatte.
Deswegen war sie ihm zu unendlichen Dank verpflichtet.
Wie ein Vogel der Befreiung war er über sie gekommen, schon als sie ihm in den "People Temple" gefolgt waren, seiner Organisation in Indianapolis.
Und diese Verpflichtung forderte der Guru auch jetzt von seinen Untertanen.
Reverent Jim Jones würde sie allerdings heute nicht sexuell behelligen. Insoweit war dieser 17. November wenigstens am Abend nicht ekelhaft. Heute würden Fiona, Helga und Christine dran sein.
Dass sich ein Vogel zu ihren Füßen gesetzt hätte, das wagte sie sich gar nicht weiter zu
auszudenken. Sie müsste sonst vielleicht zusehen, wie der Flugkünstler von den schwer bewaffneten Wachen, die am Zaun des großen Geländes herum lungerten, ihn vom Himmel geholt hätten. Wieder blickte sie auf ihre zerschundenen Füße.
Einen Hoffnungsschimmer hatte sie dennoch.
Heute Abend würde ein echter Vogel herbei fliegen. Sie wusste das aus den Verkündigungen der Lautsprecher, die überall im Camp als einzige Informationsquelle zur Verfügung standen. Sie hatte nicht nur ihr eigenes Hab und Gut verloren, genauer gesagt der Kommune, also Father Jones übereignet, sie war auch abgeschnitten von der schlechten Welt. Die allgegenwärtigen
Lautsprecher, die der Gehirnwäsche dienten, hatten eindringlich vor den Ankömmlingen, den gefährlichen Alien, gewarnt.
Heute aber könnte der ankommende Vogel, das Flugzeug aus der USA, einen Brief im Schnabel hinter den Propellern dabei haben. Wie unglaublich glücklich wäre sie, wenn die Mutter ihr geschrieben hätte. Wie würde sie den Brief verschlingen, an ihr Herz halten. Grüße von der geliebten Mutter, die so fern und unerreichbar war. Sie sei geküsst!
Ach, so fern ist die Heimat,
und so fremd bin ich hier;
und es fragt hier kein Bruder,
keine Schwester nach mir.
Mitten im Dschungel Guyanas befand sich 1978 Jonestown, das gelobte Land. Es floss nicht gerade Milch und Honig, aber es gab einige Hütten mit relativ festen Dächer. Ehemals Drogensüchtige aus den Ghettos, die sich hier ein neues Leben versprochen hatten, brauchten eine harte Hand. Den ausgeflippten Töchtern des Mittelstandes wurde harte Feldarbeit und noch härtere Liebe zu ihrem geistigen Führer verschrieben. Dort ließ sie der Guru tanzen, wie Marionetten, natürlich auf Befehl und in straffer Tagesorganisation eingebettet.
Im Endeffekt war dies eine Enklave ohne jeglicher staatlicher Kontrolle. Nur unter der Kontrolle des Messias.
Ihr Vermögen, ihre Rente hatten sie dem
selbsternannten Übermensch, dem Reverent überschrieben.
Neben ca. 800 Erwachsenen leben in der Kommune rund 200 Kinder.
Sie gingen zur Schule, während die Eltern unter tropischer Hitze Feldarbeit leisteten. Unterrichtsfächer waren Lesen und Schreiben, aber auch russisch und sie wurden mit revolutionären Parolen vollgestopft, quasi geimpft. Wie in der DDR wurden Denunzianten-Kinder belohnt. Niemand hatte Nachteiliges gegen den Messias zu äußern. Die Konsequenzen waren nämlich unerfreulich. Nicht nur von allen geächtet, sondern auch mit drakonischen Strafen belegt, war es besser sich anzupassen.
Jim Jones verhandelte mit dem russischen
Botschafter, weil dreckige, amerikanische Gerichte mit Zugriff auf das Paradies der Werktätigen drohten. Völlig überspannt! Völlig verdreht würden sie ihm tatsächlich Menschenraub vorwerfen wollen.
Jonestown lag in einem gänzlich unzugänglichen Gebiet mitten im Dschungel von Guyana.
Zur Grenze nach Venezuela gab es zu Fuß durch den unwegsamen Dschungel, obwohl gar nicht so weit entfernt, kein Durchkommen. Das Gebiet war eingezäunt und durch eine bis an die Zähne bewaffnete Miliz bewacht.
Im Flugzeug, das aus der Zivilisation heran stürmte, befanden sich der Kongressabgeordneter Leo Ryan, ein
Pressediplomat und acht Journalisten.
Sie waren herzlich unerwünscht, hatten sie doch die Ängste hunderter Familienangehöriger im Gepäck, die um ihre Töchter und Söhne besorgt waren. Sie würden in der Wildnis gefangen gehalten, vermutete man. Der Schnüffler und Politiker Ryan wollte den Gerüchten auf den Grund gehen und meinte bei so viel Presse keine Gefahr einzugehen.
Nach seiner Ankunft bekam er die Schokoladenseite der freien, frohen Menschen zu sehen. Es wurde bis in die Nacht gefeiert und man frönte ausgelassenem Tanz. Jones gab sich jovial und grundgütig.
Es herrschte eben keine
Klassendiskriminierung, sondern nur dankbare, selbstlose, dem Gehorsam gegenüber ihrem so charismatischen Führer ergebenen, freien und glücklichen Bewohner. An Wein mangelte es auch nicht.
Da wurde Jim Jones hinterbracht, dass einige seiner Schäflein Kontakt zu Ryan oder sogar den Reportern gesucht hatten. Es gab also doch welche, die das Camp der Erfüllung verlassen wollten.
Auch Ryan begann nun an der aufgebauten Glücksfassade zu zweifeln. Sollte man ihm etwas vorgemacht haben?
Esmeralda nutzte die Gelegenheit. Sie hatte vergeblich auf einen Brief ihrer Mutter gehofft. Der Vogel hatte kein Schriftstück für sie im
Gepäck gehabt. Sie wusste nicht, dass die Delegation keinerlei Schrift in das Camp einfuhren durften.
So sah sie jetzt ein, dass sie nur gegängelt wurde und es keine Brüder und Schwestern gab, sondern nur Individuen, die sich ihr eigenes Überleben durch Denunzierung und Hörigkeit zu einem bestialischen Irren erschlichen.
Sie steckte einem Reporter einen Zettel zu „Holt uns hier raus“.
Auch Paddy Paws warnte die Besucher, dass sie sich in höchster Lebensgefahr befänden. Tatsächlich wurde Ryan mit einem Messer von einem Fanatiker verletzt, aber zum Glück nur leicht. Man tat es es ab, als wäre es eben ein Verwirrender gewesen wäre. Das käme
schließlich überall vor.
Im Morgenrot des 18. Novembers 1978 schloss sich Esmeralda 15 weiteren Flüchtlingen an, die unter dem Schutz des Kongressabgeordneten Leon Ryan den Ort verlassen wollten, um in die USA zurückzufliegen. Man musste Mut haben sich dem Herrscher entziehen zu wollen, quasi zu desertieren.
Die Truppe begab sich zum zehn Kilometer entfernten Flugfeld von Port Kaituma.
Die Verräter an der Sache waren übrigens alle Weiße. Sollte es sich um eine Oberschicht handeln, die da die Schnauze voll hatten, obwohl alle gleich waren? Fest steht, dass die flüchtenden Frauen, wie Paddy und
Esmeralda Jim Jones als Lustobjekte gedient hatten.
Hab mich allweil vertröstet
auf die Sommerzeit;
und der Sommer ist kommen,
und ich bin noch so weit.
Am Flugfeld, gerade als die Gruppe in die Chessna einsteigen wollte, rollte ein Traktor mit Hänger heran. Es war 20 Minuten nach 16:00 Uhr an diesem Samstag. Aus dem Hänger erhoben sich zwei Personen mit Gewehren, die sofort das Feuer eröffneten. Auch im Schatten, als Flüchtling getarnt, befand sich ein Attentäter, der mit einem Revolver um sich schoss.
Fünf Menschen starben, mehrere waren schwer verletzt. Die Toten waren der Kongressabgeordnete Ryan, der NBC-Reporter Don Harris, der Kameramann Bob Brown, der Fotograf Greg Robinson und die Jonestown-Bewohnerin Paddy Paws. Der Pilot konnte noch die Maschine starten und 10 Flüchtlinge aufnehmen.
Esmeralda lag schwer verletzt am Boden. Die Mörder hielten sie für tot.
Lieber Vogel, flieg' weiter,
nimm ein' Gruß mit und ein' Kuss,
denn ich kann dich nicht begleiten,
weil ich hier bleiben muss.
Die Attentäter kehrten in die Kommune Jonestown zurück.
Sie meldeten Vollzug. Nur wenige hatten abfliegen können.
Nun ordnete Jim Jones an, dass jeder Selbstmord zu begehen habe. Dazu wurden Getränke verteilt. Sie waren mit Zyankali vergiftet.
Solche Massen-Selbstmordaufrufe hatte es schon früher gegeben. Mehrfach, denn der Guru wollte sicher sein, dass seine Schützlinge devot genug waren, um für ihn in den Tod zu gehen. Diese Prüfungen sollten die Ergebenheit der Schützlinge sicher stellen und dem Messias den Spiegel der absoluten Unterwerfung vorhalten. Wer war unter Umständen von einer kritischen Haltung
infiziert? Diese Tests schafften Klarheit und waren "natürlich" Fake.
Aber diesmal war es bitterer Ernst.
Jeder bekam sein Glas. Die Kinder tranken zuerst und starben schnell, die Erwachsenen waren danach an der Reihe. Nach dem Trunk legten sie sich hin, um zu sterben.
Das taten sie dann auch.
Einige Widerspenstige wollten sich tatsächlich weigern mit Freuden einem solchen Tod ins Auge zu schauen..
Sie wurden sofort standrechtlich erschossen, oder mit Spritzen in den Rücken exekutiert.
Nur sechs, oder sieben Mann verfügten überhaupt über Waffen. Und entsprechende Medikament-Utensilien waren auch nur in der
Hand einiger Weniger. Klar, dass die Aufseher bis zum Schluss die Getränkeausgabe zu beaufsichtigen hatten, genauso wie Jim Jones selbst. Die Einzigen, die überhaupt die Chance hatten zu überleben.
Erst am Tage darauf, es war Sonntag am 19. November 1978, stellte sich heraus, dass es sich nicht um eine Massenflucht gehandelt
hatte, wie vermutet. Irgendein Journalist hatte dies in Umlauf gebracht.
Die Behörden in der Hauptstadt Guyanas hatten diese Annahme einfach blauäugig übernommen. Es war wohl irgendetwas im Gange, so munkelte man, nachdem die Cessna in Georgetown gelandet war. Die wenigen Insassen schwafelten von einem
Feuergefecht.
Bei einem prüfenden Überflug stellte man Entsetzliches fest:
Um die Baracken lagen hunderte und aberhunderte von Toten.
Louis Gurwitch, der schwerreiche Mann, wollte seit Monaten seine Tochter Esmeralda aus dem Camp heraushauen.
Selber Waffenexperte und Inhaber einer riesigen Detektei, hätte er zur Not auch Waffengewalt angewandt, um seine Untersuchung durchzusetzten.
Er kam allerdings erst am 20. November in Guyana an. Er durchstöberte am 22. das stinkende, von Leichen gepflasterte Gelände. Die Toten waren inzwischen drei Tage in der
tropischen Gluthitze und tropischem Regen gelegen, kaum noch erkennbar.
Esmeralda fand er nicht.
War sie vielleicht doch im Dschungel entkommen?
Jim Jones hingegen, der Messias, wurde gefunden. Er war in den Hinterkopf geschossen worden.
Es galt als ziemlich sicher, dass die Mörder Gang sich mit dem Schatz des Jim Jones, der mehrere Millionen Dollar betragen haben soll, in Richtung Venezuela aus dem Staub gemacht hatten.
Sie sind bis heute unerkannt und haben sicherlich gut betucht ein Leben in Saus und Braus genossen.
Esmeralda wurde auch nicht in der Gegend
des Flugfeldes gefunden.
Es war nicht anzunehmen, dass sie schwer verletzt überlebt hatte. Vielleicht hatte sie sich noch vom Flugfeld retten können. Den Rest dürfte die Natur des Dschungels erledigt haben, um es Milde auszudrücken.
Der Vater blieb in seinem Schmerz allein.
Die Liebste hinterließ nur ein Vermächtnis des Grauens:
Lieber Vogel, flieg' weiter,
nimm ein' Gruß mit und ein' Kuss,
denn ich kann dich nicht begleiten,
weil ich hier bleiben muss.
(Jim Jones) ---->
(über 1100 Tote!)