Kurzgeschichte
Ist das noch mein Leben?

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"Ist das noch mein Leben?"
Veröffentlicht am 12. Januar 2018, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

19 Jahre, Möchtegern-Schriftstellerin
Ist das noch mein Leben?

Ist das noch mein Leben?

Schweißgebadet schlug ich die Augen auf. Meine Gedanken waberten wie Wackelpudding durch meinen Kopf, träge und unklar suchten sie sich ihren Weg in mein Bewusstsein. So dauerte es einige Sekunden, bevor ich realisierte, wo ich mich befand. An dem Ort, den ich hasste wie nichts anderes auf der Welt nämlich: Dem Bürozimmer meiner Eltern. Nur waren sie nicht anwesend. Nein, stattdessen drängte eine junge Frau sich ins Blickfeld, die schwarzen Haare zu einem strengen Dutt hinaufgesteckt. Der Gesichtsausdruck, den sie trug war säuerlich mit einer Spur von Arroganz. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte ich bereits beschlossen, dass ich sie

nicht leiden konnte. Ganz anders sah das mit dem Jungen aus, der neben dem Schreibtisch die Arme verschränkt hatte. Suchend glitt sein Blick durch den Raum, während ein Schwall von unfreundlichen Worten auf ihn herabprasselte. Sein abgewandter Kopf äffte die harsche Rede der Frau nach. „... und wieder hast du es nicht auf die Reihe bekommen, auch nur eine, hörst du mich eine deiner Noten nicht zu vermasseln. Die vier in Englisch und die fünf in Mathe... Katastrophal! Was soll nur einmal aus dir werden? Einem undankbaren und faulen Schmarotzer wie dir schließt die Zukunft alle Tore. Hätte ich mich damals nur zurückgelehnt

und...“ „Ich habe eine glatte eins in Kunst!“, schleuderte der Junge ihr entgegen. „Ach Kunst, ja? Glaubst du, damit ließe ich etwas anfangen? Wovon gedenkst du zu leben, junger Mann?“ Kunst... Auch ich liebte es, feine Pinsel zwischen den Fingern übers Blatt gleiten zu lassen, bis daraus die Abbildung einer Landschaft entstand oder der Bleistift das Gesicht eines Mitschülers zauberte. Plötzlich platzte die Tür auf, abrupt verstummten der Junge und die Frau, die wohl seine Mutter war und ein schwarzer Schatten baute sich vor ihnen auf, das Gesicht gezeichnet in den Farben der japanischen Flagge. „Luce, einer unserer

Klienten möchte uns sprechen. Er sagt, es sei dringend.“ Ich zuckte zusammen. Luce war der Name, bei dem sie alle mich riefen. Alle ausgeschlossen meiner Eltern. Egal wie oft ich sie anflehte, mich bei meinem Spitznamen zu nennen, sie blieben bei „Lucinda-Marianne. Sturköpfig wie eh und je die beiden. Doch was konnte man schon machen? Abwarten und ihrer sorgsamen Wache über mich leise entschlüpfen. „Bruce, siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“ „Ja, aber...“ „Nein, Bruce! Fahr doch zum Teufel, was scheren mich die Klienten, die bald deine

sein werden?“ Nun zeigte auch der Mann keine Zurückhaltung mehr. Sein nicht allzu unattraktives Gesicht verfinsterte sich, um den sehr unattraktiven Zügen seines Charakters Freiraum zu geben. „Es reicht, Lucinda! Nicht einmal, nicht ein einziges Mal habe ich davon geredet, die Kanzlei alleine weiterzuführen.“ „Das liegt wohl daran, dass deine Zunge das Wort „Scheidung nicht einmal kosten möchte!“ „Weil ich dich liebe, Luce, weil ich dich mehr liebe als der Fisch das Meer!“ „Deine bescheuerten Liebesbekundungen können mir gestohlen bleiben. Weder bist du fähig, ein Anwalt zu sein, noch ein

Kind zu erziehen. Alles bleibt an mir hängen und dein einst so gutes Aussehen verliert sich mit dem Alter.“ Ich hielt es an der Zeit dafür, einmal auf mich aufmerksam zu machen. Äußerst ungern war ich bei den Auseinandersetzungen anderer Personen zugegen, auch wenn ich noch immer nicht sagen konnte, wie es überhaupt zu dieser Situation hatte kommen können. „Entschuldigen sie bitte, also ich äh, ich wollte nicht stören und eigentlich weiß ich auch gar nicht, wie ich an diesen Ort gelangt bin, aber, ähm also äh...“ Der einzige, der reagierte war der Junge. Er warf einen kurzen Blick in meine Richtung, bevor er sich wieder seinen

munter weiterstreitenden Eltern zuwandte. In seinen Augen schimmerten die Tränen. Ich versuchte es ein zweites Mal, diesmal lauter. „Ich weiß ja wirklich nicht, wie das passieren konnte, aber dürfte ich sie kurz darauf aufmerksam machen, dass Unbeteiligte zugegen sind?“ Wieder nicht der Hauch einer Reaktion. „Hallo? Hallo? Hallo?“ Das dritte Mal brüllte ich sie fast an. Unsicher schlängelte ich mich zwischen den Anwesenden hindurch, deren Stimmen aufeinander einprasselten wie Platzregen. Eine böse Ahnung beschlich mich. Als ich das Schild auf dem Schreibtisch sah,

gefroren mir die Glieder. Nein, nein, es konnte nicht sein! Das alles musste ein böser Albtraum sein. Warum dann fühlte es sich so real an? Lucinda Riley, sagte das Schild. Lucinda Riley. Mein Name. Die Frau besaß meine dicken schwarzen Haare, meine engen dunkelbraunen Augen und selbst von den Augenringen, die von langen Nächten zeugten, war sie nicht verschont geblieben. Diese Frau sah nicht nur aus wie ich, sie hieß nicht nur wie ich, sie war ich. Schweißgebadet schlug ich die Augen auf. Eine dicke Schicht von Stoff umgab mich, die Decken in die ich mich stets einzuwickeln pflegte. Es war hellichter

Tag und das Fenster stand weit offen. Was war geschehen? Wieso waren dort diese Bilder, diese Erinnerungen? War es nur ein Traum gewesen? Ich in der Zukunft 1, der ultimative Albtraum? Würde Episode 2 bald folgen oder würden enttäuschte Kinogänger dafür sorgen, dass der Film keine Fortsetzung fand? Spaß beiseite, ich hatte etwas gesehen und dieses etwas waren nicht bloß die nächtlichen Hirngespinste eines arbeitenden und verarbeitenden Hirns gewesen. Es war real, ich spürte es. Oder würde einmal real sein. Welch grausame Zukunft es mir gezeigt hatte! Alles, was ich so krampfhaft

verhindern wollte, hatte ich bekommen. Einen Job wie der meiner Eltern, öde und ohne Bewegung, Beschäftigung mit Menschen und ihren Nichtigen Problemen. Einen Sohn, der mir jetzt so ähnlich war, den ich mir genauso vorstellte und der eine Mutter besaß, die ihn nicht akzeptieren konnte, wie er war. Ich war zu meinen eigenen Eltern geworden. Intolerant und stur. Dazu kam der Ehemann, den ich seiner puren Attraktivität wegen geheiratet hatte. Was für eine Version meines Ichs stellte diese Zukunft bloß dar? Würde es jemals soweit kommen? Was, wenn dieser Weg mir bereits gepflastert worden war? Hatte ich überhaupt ein Mitspracherecht,

was mein Leben, meine Zukunft betraf? Ich musste etwas ändern. Ich musste mich ändern, an mir arbeiten, mich jeden Tag, jede Sekunde versichern, dass ich noch war, wer ich sein wollte. Konnte ich das schaffen? Wer weiß. Wer kann schon in die Zukunft sehen.

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Leah2000
19 Jahre, Möchtegern-Schriftstellerin

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Lynny Liebe Lea2000, nicht schlecht. Hast Dir viel Gedanken gemacht. Wir sollten uns wirklich jeden Tag Gedanken darüber machen, ob wir noch der sind, der wir sein möchten, damit uns der Alltagstrott, die Gewohnheit und das Leben nicht zu Marionetten machen, sondern wir authentisch bleiben!
Gut geschrieben,
Lieben Gruß,
Lynny
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