Romane & Erzählungen
Mondmädchen

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"Mondmädchen"
Veröffentlicht am 02. September 2017, 318 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Hallo :) ich heiße Isabella, bin 14 Jahre alt und schreibe seit gut zwei Jahren. In meinen Büchern verarbeite ich hauptsächlich meine Depressionen. Ich hoffe, ich kann hier noch einige Tipps bekommen ;)
Mondmädchen

Mondmädchen

Prolog

Das Auto ist zu schnell. Ich habe meinen Führerschein noch nicht, und eigentlich habe ich von solchen Sachen auch überhaupt keine Ahnung, aber selbst ich weiß, dass das Auto zu schnell ist. Die Bäume fliegen an uns vorbei und ich versuche, es Anton zu sagen: „Anton, du fährst zu schnell!“ Aber er lacht nur. Er ist betrunken. Kayla lacht auch. Kayla ist auch betrunken. Gleich kommt eine Kurve. „Die letzte Kurve, dann sind wir so gut wie zuhause“, denke ich erleichtert. Die Kurve kommt näher. Immer näher. Noch näher. Jetzt müsste Anton abbiegen. Tut er aber nicht.

Stattdessen kommt die Kurve noch näher. Und noch näher. An der Kurve steht ein Baum. Als Kayla und ich klein waren, sind wir immer auf diesem Baum herumgeklettert. Manchmal auch mit unseren Freunden. Okay, Kaylas Freunden. Jetzt kann ich in der Baumrinde das Herz erkennen, dass Kayla und ich hineingeritzt haben, als sie mit zwölf ihren ersten Freund hatte. Jetzt höre ich Kayla schreien. Anton schreit auch. Warum schreien sie? Im Rückspiegel sehe ich ein schwarzhaariges Mädchen mit weit aufgerissenem Mund. Sie schreit auch. Sie ist ich. Warum schreie ich? Ich rutsche nach vorne. Ein lauter Knall.

Und alles wird schwarz. Die Dunkelheit verschwindet. Ich sehe wieder etwas. Erst verschwommen, dann, ganz allmählich, immer deutlicher. Direkt vor meinem Gesicht ist Kaylas Gesicht. Sie sieht mich an. Ihr Mund ist leicht geöffnet. Sie riecht nach Kayla, vermischt mit ein ganz klein bisschen Alkohol. Oder andersherum, ich bin nicht sicher. Ich habe Kopfschmerzen. Und meine Ohren rauschen. Das haben sie noch nie getan. Es ist unangenehm. Ich sollte es Kayla sagen. Ja, Kayla könnte mir helfen. Kayla kann alles. „Kayla“, sage ich leise. Sie reagiert nicht. „Kayla!“, sage ich nochmal, jetzt lauter.

Sie reagiert nicht. „Kayla!“, nun schreie ich sie regelrecht an. „Kayla, Kayla, Kayla!!!“ Ich habe sie noch nie so angebrüllt. Das wird sie mir übel nehmen. Aber warum reagiert sie bloß nicht? Sie hilft mir doch sonst immer. Immer. Warum hilft sie mir denn jetzt nicht? „KAYLA!!“, schreie ich noch einmal. Dann breche ich in Tränen aus. Schwächling. Heulsuse. Dummkopf. Kayla sagt immer noch nichts. Meine Gedanken werden klarer. Der Boden ist feucht. Es hat nicht geregnet. Wir hatten einen Unfall. Das Feuchte ist Blut. Kayla ist auch feucht.

Kayla ist voller Blut. Kayla ist tot. Scheiß

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Der Mann hatte freundliche braune Augen. Freundliche braune Augen erinnerten mich an meinen Großvater, der starb, als ich elf war. Freundliche braune Augen wären ein Grund, ihm zu erzählen, was mit Kayla passiert ist. Aber erst würde er mich überzeugen müssen. Der andere Mann hatte mich nicht überzeugt. Die Praxis war hell. Hell und groß. Das war gut. Ich hatte immer Angst, wenn ich auf engstem Raum alleine mit irgendeinem mir unbekannten Menschen war. Denn ich wusste nicht, was mich erwartete, ich war der anderen Person

schutzlos ausgeliefert. Zumindest, wenn Kayla nicht da war. Und Kayla würde nie wieder da sein. Kayla war tot. Der Mann sah mich an. Seit dem Unfall sahen mich alle so komisch an. Manche (die meisten) mitleidig. Andere, zum Beispiel meine Eltern, vorwurfsvoll. Weil ich den Unfall überlebt hatte und Kayla nicht. Der Mann sah mich ganz anders an. Nicht mitleidig. Nicht vorwurfsvoll. Auch nicht neugierig, wie die strohblonde Frau von der Presse neulich. Aber auch nicht teilnahmslos wie die Polizisten, die ins Krankenhaus gekommen waren, sobald ich vernehmungsfähig gewesen war. Nein, der Mann sah mich irgendwie …

fürsorglich an. Wie ein guter Vater, der sich um sein krankes Kind kümmert. Beruhigend fürsorglich. So hatte mich zum letzten Mal mein Großvater angesehen. Der mit den freundlichen braunen Augen. Nicht einmal Kayla hatte mich je so angesehen. „Luna“, sagte er schließlich. „Was für ein schöner Name. Weißt du, was er bedeutet?“ Ich schüttelte den Kopf. „Luna bedeutet Mond“, erklärte der Mann. Mond. Wie schön. Luna bin ich. Luna heißt Mond. Ich stellte mir vor, wie es wäre, der Mond zu sein. Ich wäre weit weg von all dem hier. Ich wäre geheimnisvoll. Und groß. Und ich hätte

nicht vor knapp vier Wochen meine Zwillingsschwester verloren. Es wäre schön, der Mond zu sein. Der Mann sah mich immer noch an. „Du bist 16?“, fragte er. Ich nickte, immer noch ein wenig benommen von der Vorstellung in meinem Kopf. Der Vorstellung, der Mond zu sein. „Gut“, er lächelte. „Setz dich doch.“ Ich setzte mich auf den beige gepolsterten Stuhl vor dem großen, vollen Schreibtisch. Bei dem anderen Mann war der Schreibtisch riesig gewesen. Nein, nicht riesig, gigantisch. Gigantisch und aus dunklem Mahagoniholz. Und schrecklich leer. Aber egal. Jetzt war es vorbei. Der neue Mann wirkte bis jetzt eigentlich ganz in

Ordnung. Mit seinen freundlichen braunen Augen

2

Meine Schwester Kayla hatte lange, honigblonde Haare und strahlende, himmelblaue Augen gehabt, sie war groß und schlank gewesen, und wenn sie gelacht hatte, hatte man gedacht, die Sonne ginge auf. Sie hatte immer gute Noten geschrieben, sie war höflich, freundlich und humorvoll gewesen, und alle hatten sie geliebt. Zu Recht. Ich hatte sie auch geliebt. Sie war immer für mich dagewesen, hatte ihre Freunde zu meinen Freunden werden lassen. Ich war schüchtern. Ich war langweilig. Ich war nicht halb so schön wie sie es gewesen war. Und dennoch hatte sie mich nie

ausgeschlossen, hatte nie angegeben. Ich vermisste sie so sehr. Dabei war sie jetzt schon fast einen Monat tot. Einen schrecklichen, unendlichen Monat. Ihr Freund Anton war bei dem Unfall schwer verletzt worden und lag immer noch im Krankenhaus. Ich hatte ihn kein einziges Mal besucht, weder, als ich selbst noch dort gewesen war, noch nach meiner Entlassung. Ich hatte auch keinen Grund dazu gesehen, denn ich hasste ihn, ich hasste ihn, als hätte er nicht nur meine Schwester getötet, sondern alles, was ich liebte... und vielleicht hatte er das ja auch. Kaum, dass ich wieder frei gewesen war, hatten meine Eltern mich zu einem

Psychologen geschickt: Dr. Gerhard Maximilian Hartmann. Ein Abbild des Teufels, wie meine Großmutter sagen würde. Bei unseren insgesamt zwei Terminen hatte ich die ganze Zeit auf seinen riesigen, von Essensresten verklebten Schnurrbart starren müssen. Beim ersten Mal hatte ich Kartoffel, Hackfleisch und ein undefinierbares, weißes Zeug darin erkennen können. Daraufhin war mir schlecht geworden und zu Hause hatte ich mich dann übergeben müssen. Beim zweiten Mal hatte ich dann auf den Versuch, Lebensmittel auszumachen, verzichtet. Schlecht war mir zwar trotzdem geworden, aber immerhin hatte ich nicht

wieder brechen müssen. Das und sein besserwisserisches, arrogantes Gelaber über seine wahnsinnig tolle Doktorarbeit, seine vielen erfolgreich therapierten Fälle sowie seine überdurchschnittlich hohe Intelligenz hatten mich schon bald dazu gebracht, meine Eltern anzuflehen, den Psychologen wechseln zu dürfen. Da sie immer noch ziemlich fertig durch Kaylas Tod gewesen waren (und es auch jetzt noch waren), hatten sie ziemlich schnell zugestimmt. Dabei hatten sie mich allerdings wieder mit diesem vorwurfsvollen Blick angesehen, mit dem sie mich seit dem Unfall ständig straften, und ich hatte auch wirklich so etwas wie Schuldbewusstsein verspürt, weil ich so

kurz nach Kaylas Tod schon wieder nur an mich dachte. Aber ich hatte es einfach nicht mehr ausgehalten! Und jetzt war ich hier, bei Dr. Marco Amico, 44 Jahre, italienischer Abstammung, verheiratet. Letzteres konnte ich an dem Ehering erkennen, den er am rechten Ringfinger trug. Dichte, schwarze Locken. Und freundliche, braune Augen. Ein Engel genau zur richtigen Zeit, würde meine Großmutter sagen. Ein Engel. Und der Mond. Wie schön

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Als ich nach dem ersten Termin mit Dr. Amico auf mein Fahrrad stieg, um nach Hause zu fahren, war ich zum ersten Mal seit Kaylas Tod wieder einigermaßen gut gelaunt. Hey, dachte ich, so schlimm war die Welt doch gar nicht! Ja, Kayla war tot, aber mein Leben ging weiter! Jede Woche konnte ich jetzt zu Dr. Amico gehen, er hatte außerdem gesagt, wenn mir irgendetwas auf dem Herzen läge, könnte ich jederzeit auch ohne Termin kommen. Ich hatte wieder jemanden, der sich um mich sorgte, dem ich mich anvertrauen konnte. In meinem ganzen Leben hatte ich nur zwei solcher

Personen gehabt: mein Großvater und natürlich Kayla. Beide waren jetzt tot. Und nun hatte ich ganz unerwartet eine neue Person dazubekommen. Alles würde gut werden, ich musste mich nur noch eine kleine Weile gedulden. Ich sog tief die frische, klare Luft ein, fuhr wie ein kleines Kind voller Euphorie im Slalom um ein paar auf dem Boden liegende Zweige herum, lächelte zum ersten Mal seit Wochen. Ohne es richtig zu realisieren, nahm ich den längeren Weg nach Hause, weil ich die Kurve, an der unser, Kaylas und mein, Kletterbaum stand, seit dem Unfall mied. Auch, wenn ich wieder etwas optimistischer geworden war, so weit war

ich dann doch noch nicht. Aber egal. Nicht mehr lange, dann war ich zu Hause. Mit etwas Glück würde ich meinen Eltern nicht begegnen, ich würde auf mein Zimmer gehen und zeichnen. Ich würde Dr. Amico zeichnen. Meine gute Laune verflog, als ich draußen vor dem Haus mein Fahrrad anschließen wollte. Schon von dort aus konnte ich meine Eltern hören, sie stritten, wie so oft seit Kaylas Tod. Früher waren sie sehr glücklich in ihrer bereits zwanzigjährigen Ehe gewesen, aber seit ihre Lieblingstochter nicht mehr da war, ging da gar nichts mehr. „Ach, halt doch einfach die Klappe!“, hörte ich meine Mutter voller Wut

kreischen, „Du bist doch der von uns, der seinen Job verloren hat, weil er seit vier Wochen nichts anderes mehr tut als saufen, saufen und nochmal saufen!“ Ach ja, das hatte ich vergessen, zu erwähnen: Nach dem Unfall war mein sonst eigentlich sehr beherrschter Vater langsam, aber sicher zum Alkoholiker geworden. Vor drei Tagen hatte dann sein Chef angerufen und ihm gekündigt. Zu seiner Verteidigung vor den Worten meiner Mutter musste man allerdings sagen, dass sie freiberuflich war und nur schwer gefeuert werden konnte. Aber wie auch immer, ich hatte absolut keine Lust, jetzt meinen streitenden Eltern zu begegnen, und da sie meine Abwesenheit

wahrscheinlich sowieso frühestens morgen Abend bemerken würden, beschloss ich, doch noch ein bisschen draußen zu bleiben. Ich schwang mich wieder auf mein Fahrrad und fuhr zitternd vor Enttäuschung zu dem Park, der direkt um die Ecke lag. Als wir noch klein gewesen waren, hatten Kayla und ich fast täglich dort auf dem Spielplatz gespielt. Doch das war in einer anderen Zeit gewesen. In einer Zeit, in der Kayla noch gelebt und ich noch eine Schwester gehabt hatte. Ich bog auf den breiten, grau gepflasterten Weg ein, der zum Spielplatz führte, und schloss mein

Fahrrad an einem Baum an. Die letzten paar Meter konnte ich auch laufen. An meinem Ziel angekommen, sah ich mich erst einmal planlos um. Ich war schon lange nicht mehr hier gewesen und schon gar nicht im Dunkeln. Viele dachten immer, eine unscheinbare kleine Memme wie ich hätte Angst im Dunkeln, doch das war nicht so. Nein, ganz im Gegenteil, ich liebte die Dunkelheit. Doch spät abends auf den Spielplatz zu gehen, das war trotzdem nichts für mich. Jedenfalls nicht ohne Kayla. Und die stand nicht so auf nachtschwarzen Himmel und verlassene Spielplätze. Doch jetzt war sie ja nicht mehr da, sie würde nie wieder da sein, nie wieder, nie

wieder. Mit letzter Kraft krabbelte ich auf das alte Klettergerüst, das meine Schwester als Kind so geliebt hatte, schlang die Arme um die Beine und brach in Tränen aus. Zwei Stunden später schlief ich ein

4

Ich wachte auf. Ein Blick auf mein Handy sagte mir, dass es kurz nach halb vier war. Ich stöhnte. Eine Nacht auf einem Klettergerüst zu verbringen ist nicht unbedingt die beste Idee. Ich hatte grauenhaft geschlafen. Na gut, genau genommen schlief ich seit dem Unfall immer schlecht. Aber diese Nacht war besonders schlimm gewesen. Ich stand auf und streckte mich erst einmal ausgiebig. Ich wusste, viel länger würde ich es hier nicht mehr aushalten können, ich musste hier weg, sonst würde ich komplett ausrasten... seit ich aufgewacht war hatte ich ein

beklemmendes Gefühl in der Brust, das mir nichts anderes sagte als weg hier, weg, weg, weg. Es war noch dunkel, und mir war kalt. Weg, ja... aber wohin? Nach Hause auf jeden Fall nicht. Falls man dieses große, viel zu leere Haus voller schmerzhafter Erinnerungen an Kayla und mit zwei innerlich total zerstörten Menschen irgendwo dazwischen überhaupt Zuhause nennen konnte. Aber wie auch immer, noch länger hier im Park bleiben konnte ich einfach nicht. Ich beschloss, zu Dr. Amicos Praxis zu fahren. Als ich vor dem großen, gelb gestrichenen Haus ankam, in dem ich am

Vortag schon ungefähr eine Stunde verbracht hatte, war es kurz vor vier. Ich wusste, dass mein neuer Psychologe im Erdgeschoss des Gebäudes seine Praxis hatte und im ersten Stock mit seiner Familie wohnte. Ob er wohl Kinder hatte? Egal, auf jeden Fall kam mir die Idee, hierher zu fahren, jetzt, wo ich da war, ziemlich sinnlos vor. Ich meine, was macht man schon so früh am Morgen vor dem Haus eines Seelenklempners, der versucht, einen von dem Trauma, seine Schwester verloren zu haben, zu heilen? Dumme Idee. Hinter den Fenstern war es natürlich dunkel, und nirgendwo regte sich etwas. Dr. Amico hatte zwar gesagt, ich könne jederzeit zu ihm kommen,

wenn ich ihn brauchte, aber ob er damit auch vier Uhr gemeint hatte? Wahrscheinlich nicht. Und selbst wenn, eigentlich wollte ich ihn jetzt gar nicht wecken. Das täte mir erstens sehr leid für ihn (ich meine, wer will schon so früh von einer traumatisierten Sechzehnjährigen aus dem Bett geklingelt werden?), und zweitens wäre es mir wirklich sehr, sehr peinlich. Die kleine Luna hatte Albträume, sie muss jetzt schnell zum lieben Onkel Marco rennen, damit er sie tröstet und sie wieder weiterschlafen kann. Nein danke. Lieber nicht. Ich seufzte. Wenn Kayla noch da wäre, würde sie mich jetzt aufmuntern.

Andererseits hätte ich es auch gar nicht nötig, aufgemuntert zu werden, wenn Kayla noch da wäre. Aber egal. Kayla war nicht mehr da. Sie würde nie wieder da sein. Mir kamen schon wieder die Tränen. Entschlossen, den Kampf gegen sie dieses Mal zu gewinnen, stieg ich wieder auf mein Fahrrad und fuhr los. Keine Ahnung, wohin. Einfach los. Das Fahrradfahren könnte mich ablenken. Vielleicht. Hoffentlich. *** Es lenkte mich nicht ab. Stattdessen fuhr ich fast vor das einzige Auto, das um

diese Zeit in dieser Gegend unterwegs war, und knallte mit voller Wucht gegen einen Baum neben dem Fahrradweg, weil ich durch die Gedanken an Kayla völlig abgelenkt war. Frustriert schleuderte ich das Rad ins Gebüsch und warf mich gleich hinterher. Ich kratzte mir Gesicht und Arme an den spitzen Dornen der Zweige auf, allerdings ohne es richtig zu realisieren. Ich fing an zu schreien. Laut und hysterisch. „Halt die Schnauze, du Irre!“, schrie irgendjemand aus einem der Häuser um mich herum, die plötzlich immer dichter zusammenzurücken schienen. Ich fühlte mich eingekesselt, wie in einem Gefängnis. Ich packte mein Fahrrad, schleuderte es voller Wucht

gegen den Baum und rannte davon. Nachdem ich eine Stunde lang ohne jeglichen Orientierungssinn durch die Stadt gerannt war, beschloss ich, endlich nach Hause zu gehen. Vielleicht (wahrscheinlich eher nicht) hatten meine Eltern ja inzwischen doch bemerkt, dass ich nicht da war. Nein. Hatten sie nicht. Sie hatten nichts bemerkt. Als ich müde und erschöpft von dieser aufwühlenden Nacht unser Haus betrat, saß meine Mutter auf dem Sofa und heulte. Von meinem Vater war nichts zu sehen. Wahrscheinlich war er wieder in seine Stammkneipe geflohen. „Hallo“,

murmelte ich. Das war schon etwas Besonderes, normalerweise sprach ich meine Eltern in solchen Situationen gar nicht an. Aber jetzt hatte ich irgendwie gerade Lust dazu. Lust auf das erste richtige Gespräch mit meinen Eltern seit Ewigkeiten. Meine Mutter hatte nicht geantwortet. „Hallo“, wiederholte ich, diesmal lauter. Jetzt hob sie den Kopf und sah mich an. Ich versuchte zu lächeln. „Hi, Mama.“ Ihre Augen wirkten müde, erschöpft. „Geh hoch, Luna. Bitte. Kayla ist noch nicht zu Hause. Sie kommt aber bald, dann könnt ihr zusammen rausgehen und spielen. Geh hoch.“ Also ging ich hoch.

*** Ich bin eine Göttin. Die Göttin des Mondes. Als ich wieder in meinem Zimmer gewesen war, hatte ich aus Langeweile und um mich abzulenken meinen Namen gegoogelt und dabei herausgefunden, dass Luna im alten Rom die Mondgöttin gewesen war, die Schwester von Sol, dem Sonnengott, und Aurora, der Göttin der Morgenröte. Ihre Eltern waren die Titanen Theia und Hyperion, ihr griechischer Name lautete Selene. Der Montag war ihr geweiht worden. Eigentlich mochte ich meinen Namen. Ich fand nur, dass er irgendwie ein

bisschen nach Hund klang. Mein Opa hatte einen Hund gehabt. Einen Labrador Retriever namens Lucky. Er war stolze vierzehn Jahre alt geworden, dann war er an Leberkrebs gestorben. Da war ich neun gewesen. Kayla und ich hatten drei Tage lang nur geheult. Gab es nicht bei „Harry Potter“ ein Mädchen, das Luna hieß? Ich war noch nie so ein Fan von solchen Serien gewesen, aber wenn ich mich richtig erinnerte, hatte es da doch so ein komisches Mädchen namens Luna mit langen blonden Haaren gegeben, oder? Irgendetwas war an ihr seltsam gewesen. Keine Ahnung. Auf jeden Fall war sie hübsch gewesen. Hübscher als ich.

Natürlich. Welches Mädchen war schon nicht hübscher als ich mit meinem schwarzen Haar, meinen großen, dunkelblauen Augen, die viel zu groß und viel zu dunkelblau waren, und meiner blassen Haut? Ich seufzte. Die Welt fühlte sich leer an ohne Kayla. Kayla, die wunderschön gewesen war. Kayla, die immer gute Noten geschrieben hatte. Kayla, mit der jeder befreundet sein wollte. Kayla, die jeden Jungen rumgekriegt hatte. Kayla, die perfekt gewesen war. Ich fühlte mich so einsam ohne sie. Mein Leben lang hatte es nur „Kayla und ihre Schwester Luna“ gegeben. Und jetzt gab es plötzlich nur noch „Luna, das Mädchen,

das keiner kennt“. Denn mal ganz ehrlich, wer kannte mich schon? Es kannten doch alle nur Kaylas Schwester. Mich kannte keiner. Ich fühlte mich, als läge ein Stein in meinem Magen. Und einer in meinem Hals. Ich beugte mich vor und warf mich wieder zurück, sodass mein Kopf gegen die Wand hinter mir knallte. Das tat gut. Sehr gut. Erschreckend gut. Aber es half nicht ganz – verdammt, diese Unruhe, diese schreckliche Unruhe in meinem Herzen, sie sorgte dafür, dass ich nie längere Zeit einfach an einem Ort bleiben konnte, es zerriss mich. Also setzte ich mich an meinen Schreibtisch, holte ein Blatt Papier und

einen Bleistift hervor und fing an zu zeichnen. Ich zeichnete den Baum. Und die Straße. Und das Auto. Und Kayla und mich. Anton zeichnete ich nicht dazu. Ich wollte nicht an ihn denken. Ich hasste ihn. Er hatte meine Schwester getötet. Ich zeichnete Kayla nicht tot und mich nicht lebendig. Auf meinem Bild hatte wir die Rollen getauscht: Ich lag mit weit geöffneten Augen in einer Blutlache, im Auto, sodass man mich gar nicht richtig sehen konnte. Kayla stand neben dem Auto, nur leicht verletzt, ganz ohne Verletzungen wirkte zu unrealistisch, und telefonierte. Sie rief den Krankenwagen, etwas, wozu ich

nicht imstande gewesen war. Ich hatte weinend und blutend und dicht an sie gepresst dagelegen, bis uns irgendwelche Passanten gefunden und Hilfe geholt hatten. Ich dachte zurück an den stechenden, schweren Geruch von Blut und an Kaylas Körper, der immer kälter wurde, und an das Gefühl, ein Ende mitzuerleben. Dieses Gefühl war das Schlimmste gewesen. Das Gefühl, dass gerade etwas zu Ende ging. Richtig zu Ende. Nicht erstmal zu Ende, sondern für immer. Meine Hand zitterte. So sehr, dass die Linien des Autos krumm und verwackelt aussahen, ein bisschen wie auf einem unscharfen Foto

vielleicht. Ich wünschte, es wäre gewesen wie auf dem Bild und ich wäre gestorben und Kayla hätte überlebt. Ja, das wäre besser gewesen, besser für alle. Besser für sie, besser für meine Eltern, besser für Anton, besser für jeden Scheißmenschen auf dieser Scheißwelt. Auch besser für mich. Viel besser. Ich wäre tot, aber ich wäre nicht so unglücklich. Und ich würde mich selbst nicht so hassen. Es wäre besser für mich. Ich spürte, dass ich gleich wieder anfangen würde zu weinen. Das war schlecht. Ich wollte nicht weinen. Heulsuse. Ich dachte daran, wie sie es mir gesagt hatte: „Du bist eine Heulsuse,

Luna. Heulst immer nur rum wie ein Baby!“ Sie hatte recht gehabt. Natürlich hatte sie recht gehabt. Kayla hatte immer recht gehabt. Ja, auch wenn das jetzt vielleicht komisch klang, Kayla hatte mich eine Heulsuse genannt. Und einen Schwächling. Und einen Dummkopf. Aber das hatte mir nicht wehgetan, nein, ganz sicher nicht, ganz sicher nicht. Denn sie hatte mir ja sonst immer geholfen. Es hatte mir nicht wehgetan. Ich seufzte. Seit sie es gesagt hatte, redete ich mir ein, dass es mir nicht wehgetan

hatte. Hatte es auch nicht. Nicht sehr jedenfalls. Nur ein bisschen

5

Zwölf Stunden später. Es ging mir schon ein wenig besser. Ich hatte sechs Stunden wach im Bett gelegen und weitere sechs Stunden unruhig geschlafen. Aber hey, immerhin hatte ich nicht von dem Unfall geträumt. Das kam sehr selten vor. Ein Blick auf mein Handy sagte mir, dass es Viertel vor sechs war. Ich war nicht ganz sicher, aber ich meinte, in der Küche meine Mutter Abendessen zubereiten zu hören. Frisch gekochtes Essen wäre eine willkommene Abwechslung, die letzten Tage hatte ich, wenn überhaupt, nur ein bis zwei Scheiben Brot gegessen. Ich wälzte mich aus dem Bett und ging zum

Fenster. Sa hinaus. Hier hinaus zu fallen, wäre nicht tödlich. Ich würde aus dem ersten Stock in ein Blumenbeet purzeln. Zu springen lohnte sich also nicht. Blitzschnell wirbelte ich herum und verließ fluchtartig den Raum. Wieso hatte ich seit Kaylas Tod solche Gedanken?! Das durfte ich nicht! Ich hatte ein gutes Leben, auch wenn es momentan bergab ging. Na und? Meine Schwester war gestorben. Sowas ist traurig, aber es passiert nunmal... oder? Das war doch kein Grund für Suizidgedanken. Hör auf damit, Luna, sagte Kaylas Stimme in meinem Kopf, hör auf, solche Sachen zu denken. Das

ist doch total lächerlich. Ja, in Kaylas Augen war Selbstmord lächerlich gewesen. Aber an diese eine Geschichte, an die mich das erinnerte... wollte ich jetzt lieber nicht denken. Stattdessen betrat ich die Küche und stellte fest, dass meine Mutter tatsächlich Essen zubereitete. Spaghetti Carbonara. Kaylas Lieblingsessen. Ich schluckte. Dann fragte ich: „Mama? Soll ich dir helfen?“ Sie blickte von dem Speck auf, den sie gerade in eine Pfanne geben wollte, und sah mich mit einem Blick an, als wäre sie soeben aus einem tiefen Traum

aufgewacht. Dann lächelte sie und erwiderte: „Hallo, Luna. Ja, du kannst mir helfen. Es gibt heute Spaghetti Carbonara, dann freut sich deine Schwester, wenn sie vom Tanzen wiederkommt.“ Stimmt, heute war Donnerstag. Da war Kayla immer tanzen gegangen. Hip Hop. Sie war die Beste gewesen. Die Allerbeste. Was mich jedoch beunruhigte, war, dass meine Mutter schon wieder die Tatsache verdrängte, dass Kayla tot war. Das tat sie in letzter Zeit immer häufiger. Doch ich beschloss, heute nicht weiter darauf einzugehen. Stattdessen stellte ich mich an den Herd, nahm ihr den Speck weg

und schüttete ihn in die Pfanne. Meine Mutter fing inzwischen an, die Eier zu kochen. Und sie redete. Was sie redete, machte mir Angst, aber sie redete. Mit mir. Und das war schön. „Weißt du, schon als ihr noch ganz klein wart, hat Kayla Speck geliebt. Sie hat ständig welchen essen wollen, dein Vater und ich waren schon ganz verwirrt.“ Sie lachte. „Es war zu erwarten gewesen, dass irgendetwas mit Speck zu ihrem Lieblingsgericht werden würde. Und sie liebt Spaghetti Carbonara ja auch schon seit langem. Ich habe ihr nicht gesagt, was es heute gibt, es soll eine Überraschung werden. Sie wird sich nachher bestimmt sehr freuen. Aber sie

hat es sich ja auch verdient, bringt immer so gute Noten aus der Schule mit und macht dann noch die ganzen anderen Sachen so toll, das Tanzen, Volleyball und Gitarre spielen. Da hat sie sich ihr Lieblingsessen doch wirklich verdient, findest du nicht?“ Ich nickte nur, sagte aber nichts. Sondern fragte mich, wie meine Mutter reagieren würde, wenn Kayla nicht nach Hause kam. Es wurde halb sieben. Das Essen war fertig, Kayla war nicht da. Mein Vater auch nicht. Meine Mutter wurde immer nervöser. „Wo bleibt sie denn nur, wo bleibt sie

denn nur? Oh mein Gott, hoffentlich ist nichts passiert.“ Um sieben fing sie an, leise zu weinen. Ich saß neben ihr, hielt sie im Arm und wusste, dass wir eigentlich beide wussten, dass Kayla nicht kommen würde. Nicht heute, nicht morgen und auch nicht nächste Woche. Sie war gegangen. Für immer. Um acht Uhr drehte meine Mutter durch. Sie sprang auf, schleuderte das Essen vom Tisch und begann, laut und hysterisch zu schreien. Sie schlug gegen die Wände, trat gegen unsere Stehlampe, sodass diese zu Boden fiel, und hämmerte gegen die Tür. Ich saß bewegungslos auf der Couch und

beobachtete sie. Ich hatte keine Kraft, aufzustehen. Ich wollte einfach nur noch schlafen. Am besten für immer. Um zehn Uhr sank meine Mutter mit tränenüberströmtem Gesicht in einer Ecke auf dem Boden zusammen und schloss die Augen. Ich war immer noch nicht in der Lage, aufzustehen. Ich dachte an Kayla und vermisste sie und wünschte mir nichts mehr als sie bei mir zu haben. Um elf Uhr kam mein Vater nach Hause. Betrunken, natürlich. Meine Mutter saß immer noch auf dem Boden und weinte leise, ich saß nach wie vor auf unserer silbergrauen Couch und zeichnete im

Kopf Bilder von Kayla. Kayla als lachende Siebenjährige auf unserer alten Schaukel im Garten. Kayla mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen kurz bevor ihr erster Freund sie das erste Mal geküsst hatte, vor vier Jahren. Kayla mit verführerisch funkelnden Augen, als sie mir erzählt hatte, dass sie in der Nacht auf unseren 15. Geburtstag mit einem Jungen schlafen würde, sie wusste nur noch nicht, mit wem. Am Ende war es Jakob gewesen, der zwei Jahre älter und vor drei Monaten ungewollt Vater geworden war. Kayla ungefähr fünf Stunden vor ihrem Tod, lachend, glücklich, lebend, beim

Föhnen ihrer wunderschönen honigblonden Haare. Niemals hätte ich, hätte irgendjemand erwarten können, dass es ihr letzter Tag auf dieser beschissenen Erde werden würde. Ich dachte an all diese Dinge, während ich wie in Trance auf der Couch saß und ins Leere starrte. So bekam ich auch gar nicht richtig mit, was um mich herum passierte: Mein Vater wurde wütend, rastete aus, meine Mutter schrie und weinte, sie kreischten sich an und es flogen Teller an die Wand. Um kurz vor Mitternacht klingelte es an der Tür, was mich gewaltsam aus meinen Gedanken riss. Meine Eltern waren so sehr in ihren

Streit vertieft, dass sie es nicht hörten, daher stand ich auf und ging zur Tür. Dort stand unsere Nachbarin, Frau Schlüter. 36 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. „Hallo, Luna“, sagte sie. „Hallo“, erwiderte ich mit tonloser Stimme. Frau Schlüter wirkte müde und erschöpft. „Luna...“, begann sie vorsichtig, „Luna, ich weiß ja, dass ihr es schwer habt in letzter Zeit... aber könntest du nicht irgendwie dafür sorgen, dass deine Eltern leiser sind? Mein Mann, die Kinder und ich wollen schlafen. Bitte, Luna.“ Ohne irgendetwas zu fühlen, nickte ich,

entschuldigte mich und schloss die Tür. Dann ging ich ins Bett. Meine Eltern wurden in dieser Nacht nicht mehr leiser. Aber Frau Schlüter traute sich anscheinend nicht mehr, sich zu beschweren, und so blieb es außerhalb unseres Hauses still. Ich lag die ganze Nacht wach und weinte. Es dauerte dreizehn Stunden, bis ich die Kraft fand, aufzustehen. Ich war todmüde, hatte wahnsinnigen Hunger und vermisste Kayla so sehr, dass es mich fast zerriss. Und ich hatte beschlossen, zu Dr. Amico zu fahren. Denn ich wollte, nein, ich

musste ihm von den Selbstmordgedanken erzählen, die mich in dieser Nacht einfach nicht losgelassen hatten. Ich wollte nicht lächerlich sein. Ich wollte nicht daran denken, mich umzubringen. Er musste das stoppen. Er musste. Ich duschte, zog mich an und verließ das Haus, ohne meinem Vater oder meiner Mutter zu begegnen. Die Essensreste und Scherben, die davon zeugten, wie schrecklich die Nacht gewesen war, waren vom Fußboden verschwunden, woraus ich schließen konnte, dass meine Mutter irgendwann in der Nacht oder am Vormittag weinend saubergemacht hatte. Da ich mein Fahrrad vorletzte Nacht bei

Dr. Amicos Praxis gegen einen Baum geschleudert hatte, hatte ich heute nur die Wahl zwischen Busfahren und Laufen. Ich entschied mich fürs Laufen, da ich im Bus immer mehr Angst hatte, jemanden zu treffen, den ich kannte. Knapp dreißig Minuten später betrat ich das sonnengelbe Haus und näherte mich erstaunlich schnell dem Wartezimmer, wo die Assistentin meines Therapeuten an einem schwarzen Computer saß. „Ist Dr. Amico da?“ fragte ich, und auf ihr erstauntes „Oh, hallo... ähm, ja, der ist da, es ist gerade auch kein Patient drin“ ging ich ohne zu zögern weiter zu der Tür, hinter der ich zwei Tage zuvor

bereits Hilfe bekommen hatte. Als ich die Tür öffnete, sah ich zuerst den großen Schreibtisch, an dem Dr. Amico saß. Und ich hörte seine Stimme – er sprach mit irgendjemandem. Ich öffnete die Tür noch ein Stück weiter. Und dann sah ich diesen Jungen. Er lag auf Dr. Amicos brauner Couch, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Seine kurzen, dunkelbraunen Locken fielen ihm in die Stirn und das Leuchten in seinen ebenfalls braunen Augen konnte ich bis zur Tür, in der ich immer noch stand, sehen. Es dauerte jedoch eine Weile, bis ich verstand, dass diese Augen mich

ansahen. Genau wie die Augen meines Therapeuten. Letzterer hatte bei meinem plötzlichen Eintreten abrupt aufgehört, zu sprechen. Ich glaube nicht, dass es etwas Unangenehmeres gibt, als bei seinem Therapeuten in eine Sitzung mit einem anderen Patienten hineinzuplatzen. Besonders, wenn dieser Therapeut gut in dem ist, was er tut. Es ist, als würde man in ein großes, warmes Schloss einbrechen, das sich zwei Menschen gemeinsam aufgebaut haben, ein Schloss, das für beide, vor allem aber für den einen, zu einem Zuhause geworden ist,

auch, wenn es vielleicht noch nicht sehr lange steht. „Ähm... hallo... tut mir leid, ich wollte nicht stören... ich dachte, es wäre im Moment kein Patient hier...“, ich stockte und spürte, wie meine Gesichtsfarbe ins Blutrote wechselte. Der Junge auf der Couch starrte mich an. Und Dr. Amico sagte etwas, was die Situation einerseits deutlich besser und andererseits noch peinlicher machte: „Oh, hallo, Luna. Keine Sorge, das ist kein Patient. Das ist Nando, mein siebzehnjähriger Sohn.“ Sein Sohn. Na großartig. Dieser viel zu intensiv in meine Augen

starrende Junge war also der Sohn meines Therapeuten. „Hallo“, sagte er, und seine Stimme klang so sanft, wie ich nie zuvor jemanden hatte sprechen hören. Bevor ich etwas erwidern konnte, fragte Dr. Amico besorgt: „Luna, ist alles okay? Wieso bist du heute zu mir gekommen?“ Und da waren sie wieder, die Gedanken an Kayla, meine Eltern und Selbstmord, die ich über die Stimme und den Anblick dieses Jungen beinahe vergessen hätte. „Naja...“, begann ich, „Sie meinten doch, ich kann immer kommen, wenn es mir nicht gut geht... und... da bin ich. Ich muss Ihnen was erzählen.“ Daraufhin warf Dr. Amico seinen Sohn

aus dem Raum, der mir noch einen langen Blick zuwarf und dann verschwand, befahl mir, mich hinzusetzen, und wir fingen an zu reden.

6

Ich erzählte es ihm nicht. Ich erzählte Dr. Amico nicht von meinen Selbstmordgedanken. Ich traute mich nicht. Denn ich hatte Angst, auch er könnte mich für lächerlich halten. So wie Kayla es tun würde. Stattdessen redeten wir über den Streit meiner Eltern, die Alkoholsucht meines Vaters und über meine Mutter. Dr. Amico wollte wissen, wieso die beiden keine psychologische Hilfe bekamen. Ich sagte, sie wollten keine, obwohl das nicht ganz stimmte. Die Wahrheit war, dass mein Vater keine wollte. Er wollte die ganze

Sache einfach so schnell wie möglich vergessen, und Termine der beiden beim Therapeuten würden das nur verhindern. Bei mir war es egal, er merkte sowieso nicht, ob ich da war oder nicht. Doch das sagte ich Dr. Amico nicht. Ich schilderte meine Gedanken und Gefühle am gestrigen Abend, und nach einer halben Stunde ging ich wieder, weil mein Therapeut einen Patienten erwartete. „Es ist gut, dass du gekommen bist, Luna“, sagte er zum Abschied, „und ich hoffe, dass du es beim nächsten Mal ebenfalls tun wirst. Ach, und noch etwas: Ich habe das Gefühl, dass du diesen Tag sehr einsam verbringen wirst. Mein Sohn

müsste sich hier irgendwo herumtreiben. Wenn du ihn findest... kannst du ja vielleicht ein bisschen mit ihm reden. Wäre doch besser, als alleine in deinem Zimmer zu sitzen, oder?“ Bevor ich darauf antworten konnte, hatte er mich auch schon zur Tür hinausgeschoben und ich stand im Flur, den Vorschlag im Kopf, den Jungen mit den leuchtenden Augen und der sanften Stimme zu suchen. Und ich weiß nicht, wieso, aber ich tat es tatsächlich. Ich musste nicht besonders lange suchen. Genau genommen musste ich nur die Praxis verlassen. Dort stand Nando und

pumpte die Reifen eines Fahrrades auf. Meines Fahrrades genau genommen. „Wo hast du das her?“, fragte ich ihn, und er drehte sich zu mir um, langsam, als hätte er mich erwartet. „Hallo“, er lächelte, und beim Klang seiner Stimme musste ich automatisch an etwas Warmes und Weiches denken, „Wieso? Ist das deins?“ „Ähm... ja... ich habe es gestern hier in die Büsche geworfen.“ Gott, klang das bescheuert, aber es entsprach nun einmal der Wahrheit. Nando runzelte verwirrt die Stirn, dann lächelte er wieder. „Wie kam es denn dazu?“ „Nächtlicher Wutanfall“, entgegnete ich

knapp, „Was willst du mit dem Ding machen?“ „Nächtlicher Wutanfall klingt spannend“, er zog die Augenbrauen hoch, „Weiß nicht, ich wollte eigentlich die Reifen aufpumpen und dann einen Aushang machen. Aber wenn es dir gehört, kann ich mir letzteres ja sparen. Aber das mit den Reifen mach ich trotzdem, die sind echt in einem ziemlich schlechten Zustand.“ „Ähm... danke“, stammelte ich ein wenig überrumpelt, „aber du musst das nicht machen. Wirklich nicht.“ „Ach was, mach ich gerne. Bin ja auch gleich fertig.“ „Okay“, murmelte ich, „dann warte ich

hier.“ Er sah mich an und lächelte. „Sehr gerne. Sag mal, hast du heute noch was vor?“ Ich verneinte und als er erwiderte „Cool, ich auch nicht. Dann können wir ja zusammen irgendetwas machen. Nur wenn du willst natürlich“, hatte ich so schnell zugestimmt, dass ich gar nicht wirklich darüber nachdenken konnte. Erst, als ich auf der Mauer vor der Praxis saß und Nando dabei zusah, wie er die Reifen meines Fahrrades aufpumpte, realisierte ich mehrere Dinge: Erstens würde ich den Tag heute nicht alleine zu Hause in meinem Zimmer verbringen. Zweitens würde ich mich stattdessen mit einem Jungen treffen. Drittens sah dieser

Junge auch noch ziemlich gut aus. Viertens hatte er mich gefragt, ob ich etwas mit ihm unternehmen wolle – nicht ich ihn. Und fünftens würde ich das natürlich alles ohne Kayla tun. Und mit einem Mal spürte ich, dass dieser Tag etwas besonderes werden würde. Nachdem Nando meine Fahrradreifen aufgepumpt hatte, schlug er vor, erst einmal einfach ein bisschen spazieren zu gehen. Ich stimmte zu, es war mir eigentlich egal, was wir machen würden. Also zogen wir los. Nando schob mein Fahrrad und ich lief einfach neben ihm her. Ich stellte fest, dass die Praxis in

einem wunderschönen Viertel lag. Wir gingen an kleinen bunten Cafés und Häusern mit roten Ziegeldächern, blauen Fensterläden und großen Gärten vorbei. In einigen der Gärten spielten Kinder, sie lachten und wirkten unbeschwert und glücklich. Zuerst redeten Nando und ich nicht viel. Doch irgendwann fragte er mich vorsichtig, aus welchem Grund ich bei seinem Vater Patientin war. Ergänzte jedoch, dass ich es ihm natürlich nicht sagen musste, wenn ich nicht wollte. Und ich überlegte: Wollte ich es ihm sagen oder wollte ich es nicht? Würde es ihn vielleicht kränken, wenn ich es nicht sagen

würde? Aber andererseits, würde er mich nicht für einen Schwächling halten, wenn er die Wahrheit erfuhr? Würde er nicht denken, ich sei eine wertlose Versagerin, die ihre Schwester nicht hatte retten können? Ihre perfekte, wunderschöne Schwester? Ich war sicher, dass er genau das glauben würde. Daher antwortete ich leise: „Weißt du... ich glaube, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden. Das ist jetzt nicht böse gemeint, aber...“ „Hey, ist schon okay“, unterbrach er mich lächelnd, „ich hab doch gesagt, dass du darüber nicht reden musst, wenn

du nicht willst. Aber wenn sich das mal ändern sollte, dann komm ruhig zu mir, ja? Ich höre dir gerne zu.“ „Oh, ähm.... danke“, stammelte ich und versuchte, mich daran zu erinnern, wann mir das letzte Mal jemand außer meinem Therapeuten ganz von sich aus seine Hilfe angeboten hatte. Ich kam zu dem Schluss, dass es irgendwann vor dem Tod meines Großvaters gewesen sein musste. „Sehr gerne“, entgegnete Nando, „ich finde, ein Mädchen wie du sollte jemanden zum Reden haben. Das hast du verdient.“ Ein Mädchen wie ich? Was sollte das denn jetzt wieder heißen? Doch bevor ich fragen konnte, was er

damit gemeint hatte, hatte er auch schon weitergesprochen. „Magst du eigentlich Eis?“, er deutete auf ein kleines Eiscafé, an dem wir in diesem Moment vorbeigingen. Ich blieb stehen. „Ich hab kein Geld dabei“, erklärte ich bedauernd, und es war das erste Mal, dass ich es wirklich bedauerte, nichts mitgenommen zu haben. Nando hingegen schien das nicht zu stören. „Das macht doch nichts. Ich lade dich ein.“ „Was, nein, das musst du nicht“, widersprach ich hastig. Wieso wollte dieser Junge ausgerechnet mit mir unbedingt ein Eis essen? Wieso mit mir? „Keine Widerrede!“, er lächelte sein strahlendes

Lächeln. Und dann lehnte er mein Fahrrad an die Wand des Cafés, nahm mich an die Hand und zog mich ohne ein weiteres Wort hinein. Nando kaufte uns jeweils zwei Kugeln Eis ohne meinen Protest zu beachten. „Du siehst aus, als würdest du Eis mit Obst mögen“, meinte er stattdessen, nachdem er einen prüfenden Blick in meine Augen geworfen hatte, und bestellte für mich kurzerhand eine Kugel Erdbeer- und eine Kugel Zitroneneis. Und ich habe keine Ahnung, woher er das wusste, aber das waren tatsächlich meine beiden Lieblingseissorten.

Danach führte er mich zu einem kleinen Platz, in dessen Mitte sich ein großer Springbrunnen befand. Wir setzten uns mit unserem Eis auf eine Bank und schauten aufs glitzernde Wasser. Eine ganze Weile schwiegen wir beide, aber es war ein angenehmes Schweigen, ein Schweigen, in dem man sich wohlfühlt. Ich drehte meinen Kopf und betrachtete ihn. Ich saugte jeden Millimeter, jedes noch so kleinste Merkmal seines Gesichtes in mir auf, denn ich hatte einen Entschluss gefasst: Ich würde ihn heute zeichnen. Denn auch, wenn wir uns noch kaum

kannten, ich wusste jetzt schon, dass dieser Junge etwas in mir veränderte. Nando drehte den Kopf herum und begegnete meinem Blick. „Was ist?“, fragte er mich. „Ach, nichts“, ich wandte mich wieder meinem Eis zu, „ich habe nur kurz über etwas nachgedacht. Ist aber nicht wichtig.“ Ich lächelte verlegen. Er betrachtete mich kurz nachdenklich, dann lächelte er zurück. „Okay. Und was machen wir jetzt? Worauf hast du Lust?“ „Ich würde gerne einfach noch eine Weile hier sitzen bleiben“, erwiderte ich. Es war wunderschön an diesem kleinen

Platz mit dem glitzernden Wasser im Springbrunnen, den wenigen Leuten, die auf den Bänken um uns herum saßen und leise miteinander redeten, und der Sonne, die hell auf uns herabstrahlte. Nando war einverstanden. Wir verbrachten den Rest des Nachmittags dort, redeten, lachten. Ich erfuhr, dass Nando keine Geschwister hatte, dafür aber früher jede Woche mit seiner Tante, seinen Eltern und seiner Cousine in den Zoo gegangen war. Er spielte Basketball und Schlagzeug, sein Lieblingsfach war Physik und er aß jede Art von Obst gerne außer Mangos, davon wurde ihm schlecht. Nach der Schule wollte er Psychologie

studieren und genau wie sein Vater Kinder- und Jugendpsychotherapeut werden. Das und noch einiges mehr erfuhr ich über Nando, während ich hingegen fast gar nichts preisgab. Ich lenkte vom Thema ab, als er mich nach meinen Geschwistern fragte, und auch das Zeichnen, das eigentlich ein unglaublich wichtiger Bestandteil meines Lebens war, erwähnte ich nur kurz. Auf seine Frage hin, ob er mal Bilder von mir sehen dürfe, nickte ich nur mit der festen Überzeugung, dass er das sowieso bald wieder vergessen würde. Ich wollte nicht, dass Nando viel von mir wusste, denn ich hatte die Erfahrung

gemacht, dass man mich nicht wirklich interessant finden konnte. Würde er wissen, wer ich wirklich war und was meine Geschichte war, würde er mich für langweilig, schwach und wertlos halten. Also mehr oder weniger für alles, was ich nun einmal war. Und genau das wollte ich nicht, ich wollte nicht, dass dieser Mensch, der erste Junge, der freiwillig nur mit mir etwas unternahm, erfuhr, wie ich wirklich war. Denn dann würde er garantiert nie wieder etwas mit mir unternehmen wollen. Also verschwieg ich alles, was auch nur entfernt Einblick in meine Persönlichkeit und Gefühlswelt verschaffen

könnte. Aber wir lachten viel. Sehr viel. Nando hatte einen herrlich sarkastischen Humor, genau wie ich, und so verbrachten wir Stunden damit, auf der Bank zu sitzen und zu lachen, bis uns die Bäuche weh taten. Ich glaube, ich hatte nie zuvor mehr und unbeschwerter gelacht als an diesem Nachmittag mit dem Sohn meines Therapeuten. Nicht mit Kayla, nicht mit meinem Großvater, mit niemandem. Ich hatte auch noch nie so ein Lachen gehört wie seines. So laut, so fröhlich, als wäre der Witz, über den er lachte, der beste der Welt und als könnte kein Moment schöner sein

als dieser. Und ich wollte dieses Lachen unbedingt hören, so sehr wollte ich es hören, dass ich versuchte, leiser und weniger zu lachen, um es bloß nicht zu übertönen. Wobei das meistens nicht klappte, denn Nandos Lachen war auch unglaublich ansteckend. Dieser Tag war wahrscheinlich der glücklichste in meinem gesamten bisherigen Leben. Nach nur wenigen Stunden hatte ich Kayla vergessen, ich hatte meine Eltern vergessen, ich hatte meine Suizidgedanken vergessen. Es gab nur noch mich und Nando und unser Lachen. Und das Gefühl, ein Mensch zu sein. Ein eigenständiger, lebender

Mensch. Nicht nur der Schatten meiner Schwester

7

Nando und ich blieben bis zum Abend zusammen. Die Sonne senkte sich gerade hinter den Bäumen am kleinen Platz hinab, als er mich fragte, wann ich eigentlich zu Hause sein müsste. „Ist eigentlich egal“, erwiderte ich mit einem scheinbar unbekümmerten Lächeln. Er sollte schließlich keinen Verdacht schöpfen. Ich konnte an seinem irritierten Blick sehen, dass er nachfragen wollte, daher rutschte ich ein wenig näher an ihn heran, strahlte und versuchte einen Themawechsel: „Danke übrigens nochmal

für das Eis, also für den ganzen Tag, meine ich. Es ist wunderschön hier.“ Nando erwiderte mein Lächeln, doch in seinen dunklen Augen sah ich einen nicht nur prüfenden, sondern auch besorgten Blick. „Gerne“, erwiderte er, „für jemanden wie dich mach ich das gerne“ Für jemanden wie dich mach ich das gerne. Was wollte dieser Junge von mir? Was dachte er überhaupt über mich? Und warum machte sein Lächeln mich so wahnsinnig? Warum brachte das Leuchten in seinen Augen mein Herz zum

Rasen? Warum? Ich verstand es nicht, aber plötzlich fiel mir auf, dass es für diesen Moment egal war. Denn dieser Moment war perfekt, und es spielte keine Rolle, was Nando von mir wollte, was er über mich dachte oder warum er meine komplette Gefühlswelt durcheinanderbrachte. All das war egal, solange wir nur noch länger zusammenbleiben konnten. Und das taten wir. Wir blieben zusammen, bis es dunkel war. Sahen der Sonne beim Verschwinden zu, redeten, lachten, genossen es, beieinander zu sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich mit einer

einzigen Person so viele Stunden reden konnte, ohne mich zu langweilen. Doch irgendwann meinte Nando, dass er langsam nach Hause musste. Ich war noch nie in meinem Leben so enttäuscht gewesen. Doch das zeigte ich nicht. Stattdessen zwang ich mich zu einem Lächeln und stammelte: „Okay... dann gehen wir mal. Es... es war wunderschön. Wirklich. Bis... äh... bis später vielleicht?“ Oh Mann, war das peinlich. Nando grinste mich an, als fände er das lustig. Na toll. Aber immerhin sagte er, dass er sich freuen würde, wenn wir uns bald mal wieder sehen würden. Dann fragte er nach meinem nächsten Termin bei seinem

Vater, und vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber als ich antwortete, dass ich schon nächste Woche wieder da sein würde, schien das Leuchten in seinen Augen noch ein wenig heller zu werden. Wir verabschiedeten uns nur mit einem kurzen „Na dann... bis später mal“ voneinander, es wäre sonst auch irgendwie zu unangenehm geworden. In dem Moment, in dem wir uns trennten, sah ich in Nandos Augen, dass auch er nicht ganz wusste, was er von mir wollte – genau wie ich. Als ich wenige Minuten später auf meinem Fahrrad saß, das Nando mir zurückgegeben hatte, fühlte ich mich so allein wie noch nie in meinem Leben. Ich

war noch einsamer als an den Tagen, an denen mir Kayla am meisten fehlte. Ich fuhr mit den Gedanken bei ihm nach Hause. Schloss die Tür auf, ging die Treppe hoch. Überprüfte nicht einmal, ob meine Eltern zu Hause waren – und wenn ja, in welchem Zustand. Ich ging geradewegs in mein Zimmer, setzte mich an meinen Schreibtisch und holte ein Blatt Papier und meinen Bleistift hervor. Und dann fing ich an zu zeichnen. Ich zeichnete Nando. Die feinen Linien seines ovalen Gesichtes, seine vollen Lippen, die dichten Wimpern. Die schmale Nase. Das Leuchten in seinen dunklen Augen. Ich zeichnete ihn, und dabei sah ich ihn

vor mir, als würde er direkt vor mir stehen.

8

In der folgenden Nacht träumte ich von nichts. Außerdem schlief ich ruhig und tief. Das erste Mal seit dem Unfall. Ich hatte das Bild von Nando auf meinem Schreibtisch liegen gelassen, und als ich am nächsten Morgen um kurz vor zehn aufwachte, war es das erste, was mir einfiel. Ich stand auf und holte es mir ins Bett. Dort betrachtete ich es eine Weile. Es war das beste Bild, das ich je gezeichnet hatte. Wirklicher als alle vorherigen. Realer. Echter. Man konnte genau sehen, wie Nandos

dunkle Locken ihm in die Stirn fielen, und man konnte sich gut vorstellen, wie er sie mit genervtem Grinsen aus seinem Gesicht strich. Man sah an dem Leuchten in seinen Augen, was für ein fröhlicher und humorvoller Mensch er war. Ich seufzte, als ich an ihn dachte. Obwohl ich ihn gestern erst kennengelernt hatte, vermisste ich ihn schon. Ich lehnte mich in meinem Bett zurück, drückte das Bild an meine Brust und schloss die Augen. Kurze Zeit später schlief ich wieder ein. Nando und ich saßen auf einer Wiese voller regenbogenfarbener Blumen. Wir redeten und lachten. Worüber? Über

alles, worüber man lachen kann, wenn man so sarkastisch denkt wie wir beide. Und wir dachten extrem sarkastisch. Es war fast schon wieder peinlich. Aber wir dachten beide so, also war es okay. Mehr als das. Es war schön, gemeinsam so lachen zu können. Es war wunderschön. Einen ganzen Tag verbrachten wir lachend auf dieser Blumenwiese. Sahen uns den Sonnenuntergang an. Und waren glücklich. Das war das erste Mal seit dem Unfall, dass ich zwar einen Traum hatte, dieser sich aber nicht um Kayla drehte. Sie fiel mir erst ein, als ich wieder aufwachte, gegen zwölf Uhr mittags.

Und die Schuld drückte mich nieder wie ein schwerer Sack Zement. Raubte mir den Atem. Verursachte Schmerzen in meinem ganzen Körper. Wieso dachte ich kaum noch an sie? Meine Schwester war gestorben, verdammt! Und ich dachte mal wieder total egoistisch. Was war ich nur für ein scheußlicher Mensch! Ich verdiente Nando gar nicht, ich war viel zu schlecht für ihn. Und Kayla hatte ich auch nicht verdient. So wundervoll und perfekt wie sie gewesen war. Schön, intelligent, freundlich. Und was war ich? Ein dummes hässliches Entlein, zu grausam, um an den toten

Schwan, der meine Schwester gewesen war, denken zu können. Wieder einmal schossen mir Tränen in die Augen. Heulsuse. Schwächling. Dummkopf. Immer wieder flüsterte ich mir selbst die Worte zu, mit denen Kayla mich betitelt hatte. Heulsuse, Schwächling, Dummkopf. Heulsuse Schwächling Dummkopf. HeulsuseSchwächlingDummkopf. Gott, ich hasste mich so. Für das, was ich tat, für das, was ich nicht tat. Für das, was ich war und für das, was ich nicht war. Für alles, was mich ausmachte, hasste ich mich. Und das war gut so. Weil ich es verdient hatte. Das und

nichts anderes. Ich weinte zwei Stunden. Dann bekam ich eine Nachricht von Nando. Wir hatten gestern unsere Handynummern ausgetauscht. Heute schon was vor?, schrieb er. Es war 14 Uhr. Ich hatte nichts vor. Aber ich durfte nicht an Nando denken, ich sollte jetzt nur Kayla in meinem Kopf haben. Also schrieb ich so knapp wie möglich zurück: Ja. Und es zerriss mir beinahe das Herz, dass ich diesen Tag mit ihm hätte verbringen können und diese Chance

nicht nutzen durfte. Aber es ging einfach nicht. Ich sollte das nicht tun. Ich sollte zu Hause im Bett liegen und um sie weinen. Das war meine Aufgabe. Das musste ich tun. Auf Nandos Okay, aber ist alles in Ordnung? antwortete ich nicht mehr. Stattdessen weinte ich so viel und solange ich konnte. Einfach, weil ich das Gefühl hatte, es tun zu müssen. *** Am nächsten Morgen weckte mich gegen zehn Uhr mein Handy. Ich hatte anscheinend von irgendjemandem eine

Nachricht bekommen. Stöhnend richtete ich mich auf (ich hatte wieder vom Unfall geträumt) und sah nach. Nando. Hey, was machst du heute so? Ich schrieb zurück, dass ich einiges vorhatte, obwohl das nicht stimmte. Aber ich war nicht in der psychischen Verfassung, um mich mit ihm zu treffen. Wahrscheinlich würde ich in Tränen ausbrechen, sobald ich ihn sah. Was denn?, wollte er wissen, Was macht man denn so als Mädchen in den Sommerferien? Shopping? Oder Freunde treffen? Ich lächelte über seine Neugier. Dann dachte ich nach. Irgendwas musste ich heute machen, und eigentlich waren

Nandos Vorschläge ja gar nicht so schlecht. Na gut, das zweite ging nicht, weil ich ja keine Freunde hatte. Aber shoppen gehen wäre... cool. Abwechslungsreich. Außerdem waren die meisten meiner Kleidungsstücke eh inzwischen zu klein. Zwar bestand auch da die Möglichkeit, in Tränen auszubrechen, aber das war mir egal, solange Nando es nicht sah. Er sollte mich nicht schwach sehen. Alle anderen wussten sowieso schon, dass ich ein Schwächling war, oder hatten keinen Grund, sich dafür zu interessieren. Ich fasste also den Entschluss, am verkaufsoffenen Sonntag vor Beginn des neuen Schuljahres alleine shoppen zu

gehen. Ich war doch verrückt. Vielleicht ja eine Mischung aus beidem, schrieb ich Nando zurück, dann legte ich mein Handy weg, ohne seine Antwort abzuwarten, duschte und zog mich an. Ich war fest entschlossen, aus diesem Tag etwas Sinnvolles zu machen. *** Meine Mutter schlief noch. Mein Vater war nicht zu Hause. Zutiefst erleichtert darüber, dass ich nicht mit ihnen sprechen musste, verließ ich das Haus und fuhr mit dem Fahrrad zur Shoppingmall. Als ich die riesengroße, äußerlich wie

ein Schloss gebaute Halle mit den verschiedensten Läden betrat, wurde mir erst einmal schwindelig. Es gab hier so viele Erinnerungen an Kayla. Sie war oft mit mir einkaufen gegangen. Na gut, das bedeutete, dass sie eingekauft und ich daneben gestanden hatte, aber egal, die Erinnerungen waren da. Ich riss mich zusammen und steuerte auf den erstbesten Laden zu, in dem Kleidung verkauft wurde. Wühlte mich durch Berge von Jacken, Hosen und Shirts, ohne irgendetwas zu finden, was ich kaufen wollte. Das Problem war dabei nicht, dass mir nichts gefiel, sondern, dass ich wusste, dass es Kayla nicht gefallen würde. Ich wollte

Kleidung tragen, die sie gemocht hätte. Doch ich fand nichts, was zu ihr passte. Sie hatte oft Miniröcke und Tops mit viel Glitzer getragen, sehr knapp und eng anliegend, die Oberteile mit tiefen Ausschnitten. Ich hingegen trug lieber dunkle, am besten blaue oder schwarze Hosen und dazu passende weite Oberteile. In fünf Läden, die ich nacheinander abklapperte, fand ich nichts, wovon ich sicher war, dass es ihr gefallen hätte. Dann stand ich vor dem Laden, in dem sie am häufigsten eingekauft hatte. Wusste instinktiv, dass ich hier genug finden würde, was ihr gefallen würde. Aber nichts, was mir

gefiel. Mir schossen Tränen in die Augen, als ich mir vorstellte, wie sie mich immer lachend und redend in diesen Laden gezogen hatte. So fröhlich. So lebendig. „Luna!“, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir rufen. Ich drehte mich herum und dann sah ich Enya. Enya war eine Freundin von Kayla gewesen. Die, die ich am meisten gemocht hatte. Sie war etwa einen halben Kopf kleiner als ich, schlank, mit Sommersprossen, die sich in der Form eines Herzens um ihre Nase verteilten. Ihr ovales Gesicht wurde von wild abstehenden haselnussbraunen Locken umrahmt, und

in ihren dunklen Augen leuchteten Lebensfreude und Neugier. Sie war freundlich, humorvoll und sehr intelligent. Kayla und sie hatten sich immer mehr voneinander entfremdet, seit meine Schwester mit Anton zusammengekommen war. Er hatte sie für dumm und hässlich gehalten, dabei stimmte das überhaupt nicht. Enya war meiner Meinung nach mit Abstand die beste Freundin, die Kayla je gehabt hatte. Und die einzige, die sich mal ernsthaft mit mir unterhalten hatte. Das war an unserem 14. Geburtstag gewesen. Wir hatten mit einigen Freunden in unserer Garage übernachtet. Mitten in der Nacht war ich plötzlich

durch Enyas lautes Weinen wach geworden. Wir alle wussten, dass ihr Vater knapp drei Wochen zuvor an Krebs gestorben war. Aber ich war die einzige, mit der Enya darüber redete. Sie erzählte mir von ihm. Wie er als gesunder Mensch gewesen war, wie er sich im Laufe seiner sieben Jahre andauernden Krankheit immer mehr verändert hatte, ruhiger, in sich gekehrter wurde. Und sie erzählte mir von seinem Tod, wie es gewesen war, ihn seinen letzten Atemzug tun zu sehen, wie die Stille danach gewesen war. Sie erzählte mir von der Beerdigung, davon, wie sie die kalkweiße Leiche ihres Vaters in dem hölzernen Sarg hatte liegen sehen. Wie alle Verwandten geweint

hatten, nur sie selbst nicht, denn sie konnte nicht weinen. Sie hatte versucht, für ihre Mutter dazusein. Das alles erzählte Enya mir in dieser Nacht, und ich saß einfach nur daneben und hörte zu. Ließ sie reden. Am nächsten Morgen bedankte sie sich bei mir. Du hast mir sehr geholfen. Es war schön, mal alles rauslassen zu können. Danke, Luna. Diese Worte schwebten noch durch meinen Kopf, als ich sie nun in dem Einkaufszentrum auf mich zurennen sah. Ganz knapp vor mir bremste sie schließlich ab und kam zum Stehen. „Hallo“, keuchte sie noch ganz außer

Atem von ihrem Sprint zu mir, „Ich hab dich hier stehen sehen und dachte mir, ich schau mal, wie es dir so geht. Nach dieser beschissenen Sache mit Kayla und so.“ Beschissen. Ja, das traf es ganz gut. Der Unfall war beschissen, Kaylas Tod war beschissen, die ganze Situation war beschissen. Ich sah Enya an, und mir fiel auf, dass ich vielleicht irgendetwas sagen sollte. „Hallo... ähm... mir geht’s... ganz okay.“ „Wirklich“, fügte ich auf ihren skeptischen Blick hin hinzu. „Du siehst aus, als würdest du gleich anfangen, zu weinen“, bemerkte sie. Unfähig, etwas zu sagen und beeindruckt

von ihrer Aufmerksamkeit schüttelte ich den Kopf. Im selben Moment rollte mir die erste Träne über die Wange. Einen Moment schwiegen wir beide, sahen uns in die Augen, wussten genau, dass wir beide diese erste Träne bemerkt hatten. „Es ist nichts. Nur... hier sind so viele Erinnerungen...“, stammelte ich schließlich mit bebender Unterlippe. „Verstehe“, Enya sah mich immer noch an. Dann nahm sie mich am Arm und zog mich hinter sich her. „Hey, wo gehst du hin?“, fragte ich irritiert. „Ich bin mit ein paar Freunden hier“, erwiderte sie, „die würden sich bestimmt freuen, dich

kennenzulernen.“ „Hey, aber... vielleicht will ich das ja gar nicht“, versuchte ich peinlich berührt, sie aufzuhalten. Sie sollte sich nicht um mich kümmern, als wäre ich ein Baby. Bevor ich das letzte Wort ausgesprochen hatte, rollte die zweite Träne über meine Wange. „Woher willst du das wissen?“, Enya zuckte unbekümmert mit den Schultern, „Du kennst sie ja noch gar nicht.“ Ich öffnete den Mund, um erneut zu protestieren, doch mir fiel nichts Sinnvolles mehr ein. Also presste ich die Lippen wieder aufeinander und ließ mich widerstandslos von Enya in ein kleines Café führen. Dort saßen drei Mädchen

und zwei Jungen an einem Tisch und tranken Eisschokolade. Enya zog mich an den Tisch und drückte mich auf einen noch leeren Platz. „Das ist Luna“, verkündete sie dann, „eine Freundin aus meiner Klasse. Sie hat vor vier Wochen ihre Zwillingsschwester verloren, also seid nett zu ihr. Luna, das sind Mira, Leonie, Shari, Lukas und Malte. Sie sind mit mir im Turnverein.“ Ich nickte ihnen zu, sie lächelten mich freundlich an. „Eineiig oder zweieiig?“, fragte Shari, ein dunkelhäutiges Mädchen mit schwarzen Zöpfen. „Zweieiig“, murmelte ich. Leonie, die sehr groß war und mit ihren langen

blonden Locken ziemlich hübsch aussah, strich mir mitleidig über den Arm. Und Malte, der ständig seine schwarze Fielmann-Brille zurechtrücken musste, sagte zu mir, dass ich jederzeit reden könnte, wenn ich wollte. Ich nahm an, dass er das auf Kaylas Tod bezog, und bedankte mich. Mira, ein Mädchen mit rotem Haar und Sommersprossen, und Lukas, ein blonder Junge mit einer Nase wie der Schnabel eines Tukans, lächelten nur mitfühlend, doch das war schon mehr, als ich mir erhofft hatte. Enyas Freunde schienen so viel netter zu sein als Kaylas Freunde es gewesen waren. Die fünf stellten sich mir vor, und ich erfuhr, dass sie alle sechzehn Jahre alt

waren, bis auf Lukas, der war schon siebzehn. Lukas und Leonie waren Geschwister. Shari kam aus Kenia, lebte aber schon seit elf Jahren in Deutschland, und Malte und Mira waren ein Paar. Sie alle turnten, wie Enya bereits gesagt hatte, im selben Turnverein. Wir saßen eine ganze Weile zusammen in dem Café. Die anderen redeten, ich saß die meiste Zeit daneben und lachte über ihre Witze. Irgendwann meinte Mira, dass wir ja eigentlich genau so gut irgendwas einkaufen könnten. „Oh, ich... ich muss eigentlich langsam nach Hause“, stammelte ich, wissend, dass ich sowieso nichts finden könnte,

was sowohl Kayla als auch mir gefallen würde. Die anderen sahen mich an, und ich konnte in ihren Augen lesen, dass sie mir nicht glaubten. Ich war schon immer eine grauenhaft schlechte Lügnerin gewesen. Enya war die Erste, die etwas sagte. „Ich weiß, dass das nicht stimmt, Luna. Es ist noch nicht einmal zwölf. Komm mit uns mit. Bitte. Wir würden und alle sehr freuen.“ Die anderen nickten zustimmend. Ich überlegte. Sollte ich mit ihnen gehen und riskieren, dass sie herausfanden, was für ein feiger Schwächling ich war? Oder sollte ich nach Hause gehen und erneut in Selbstmitleid

versinken? Ich dachte an Nando, der mir bestimmt wieder geschrieben hatte. Vielleicht so etwas wie Hab Spaß, ich freu mich auf dich am nächsten Montag oder Mach was draus, wird bestimmt lustig werden. Und ich beschloss, auf ihn zu hören. „Na gut“, ich lächelte die sechs an, „ich komme mit“ Der Jubelsturm, in den sie daraufhin ausbrachen, war, obwohl scherzhaft gemeint, so laut und aufmunternd, dass meine Hoffnung auf einen einigermaßen schönen Tag automatisch wuchs. In den folgenden drei Stunden zogen wir lachend von Laden zu Laden. Die anderen hielten mir immer wieder

prüfend Kleidung an den Körper, und immer wieder lehnte ich ab. Das sieht langweilig aus, das sieht langweilig aus, flüsterte Kaylas Stimme in meinem Kopf. Doch ich konnte mich auch nicht dazu durchringen, nach etwas mit Glitzer zu fragen. Denn eine andere Stimme schrie mich an, dass ich auf das hören sollte, was mein Herz und mein Kopf mir sagten. Nicht Kayla. Der Nachmittag endete damit, dass alle mindestens zwei volle Tüten in den Händen hielten, nur ich nicht. Doch merkwürdigerweise war das überhaupt nicht schlimm. Die anderen lachten deswegen nicht über mich, sie machten sich nicht lustig, gar nichts. Mira meinte,

dass wir das nochmal wiederholen müssten. Leonie und Shari bedankten sich sogar bei Enya dafür, dass sie mich geholt hatte. Und das, obwohl ich kaum etwas gesagt hatte. Doch die wenigen Worte, die über meine Lippen gekommen waren, hatten sie anscheinend dazu gebracht, mich zu mögen. Lukas bezeichnete mich als süß, weswegen ich innerhalb von einer Sekunde knallrot wurde, und Malte bemerkte daraufhin lachend, dass ich anscheinend auch noch bescheiden war, was ihm einen gespielt eifersüchtigen Blick von Mira einfing. Zum Abschied nahmen sie mich alle in den Arm. Enya drückte mich ganz fest und flüsterte mir

ins Ohr, dass wir nächstes Mal auch etwas für mich finden würden. Dann fuhr ich mit meinem Fahrrad nach Hause. Und fragte mich, ob ich gerade das erste Mal in meinem Leben ohne Kaylas Hilfe eigene Freunde bekommen hatte

9

In dieser Nacht zeichnete ich. Enya, Mira, Shari, Leonie, Lukas und Malte. Und natürlich Nando. Ihn zeichnete ich am meisten. Aus jeder erdenklichen und sinnvollen Perspektive, mal lächelnd, mal lachend, mal ernst. Letzteres jedoch selten, da ich ihn ja noch nie wirklich ernst erlebt hatte. Sogar bei seiner Frage nach dem Grund für meine Therapie bei Dr. Amico hatte er gelächelt. Und das war mit Abstand der ernsteste Moment während unseres Treffens gewesen. Am schönsten war es, seine Augen zu zeichnen. Besonders das Leuchten in

ihnen. Dieses unendlich helle, unendlich strahlende Leuchten. Ich wollte dieses Leuchten so gerne wiedersehen. Und am Montagabend konnte ich das vielleicht wieder, denn da hatte ich meinen nächsten Termin bei Nandos Vater. Doch zuerst musste ich zur Schule. Die Sommerferien waren vorbei. Das neue Schuljahr begann. Ich war ab jetzt in der Oberstufe. Noch vor wenigen Wochen war ich mir sicher gewesen, dass ich dieses Jahr mit Kayla beginnen würde. Stattdessen musste ich die breiten Flure

unserer Schule allein betreten. Es dauerte nur zehn Minuten, bis ich vor dem riesigen roten Backsteingebäude angekommen war und mein Fahrrad draußen angeschlossen hatte. Ich holte tief Luft. Schloss für einen Moment die Augen. Öffnete sie wieder. Und ging hinein. Meine Knie zitterten, aber ich versuchte, mich zusammenzureißen. Ich bin kein Schwächling, sagte ich mir, Ich kann das schaffen. Und obwohl ich in meinem Inneren eigentlich ganz genau wusste, dass ich doch ein Schwächling war, funktionierte es merkwürdigerweise. Was bedeutete, dass ich es hinbekam, die gewaltige Steintreppe hinaufzusteigen,

ohne mich am weiß lackierten Geländer festhalten zu müssen. Ich zog die große rote Flügeltür auf, die sich zwischen Treppe und Fluren befand, und schob mich hindurch. Und dann stand ich da, zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn, planlos, ohne jegliche Ahnung, was ich tun oder wohin ich gehen sollte, und sah mich um. Und bemerkte plötzlich, dass jeder einzelne Schüler in der Eingangshalle unserer Schule mich anstarrte. Ich wurde mit einem Schlag knallrot. Viele der Schüler kannte ich. Ben und Lissy und Sarah zum Beispiel. Sie waren Freunde von Kayla und Anton gewesen. In den Blicken der drei konnte ich Wut,

Verachtung, Trauer und Enttäuschung lesen. Und nun wusste ich, warum mich alle ansahen. Kayla. Sie alle wussten, dass meine wundervolle, perfekte Schwester bei einem Autounfall gestorben war und ich, die unscheinbare kleine Memme, überlebt hatte. Ich konnte die Gefühle von Sarah, Ben und Lissy gut nachvollziehen. Dennoch fragte ich mich, ob sie den Tag mit mir verbringen würden. Schließlich hatte ich die letzten sechs Jahre oft mit Kayla in ihrer Nähe verbracht – eigentlich konnte man sie fast als meine Freunde bezeichnen. Obwohl ich sie im

Grunde nicht mochte, sie waren mir zu arrogant. Würden sie heute überhaupt mit mir sprechen? Eine Frage, die ich mir nicht nur bei den drei, sondern auch bei allen anderen Schülern in der Halle, die Kaylas Freunde gewesen waren, stellte. Und das waren verdammt viele. Drei Minuten lang stand ich unschlüssig herum, während rings um mich das Getuschel einsetzte. Das ist doch Kaylas Schwester. Es ist so schrecklich, dass Kayla tot ist. Aber ihre komische Schwester hat überlebt. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, als wären sie ein Schutzschild, dass mich

vor ihren Worten und Blicken schützen konnte. Leider veränderte diese Bewegung absolut nichts. Ich fühlte mich immer noch extrem unsicher und eingeschüchtert. Dann hörte ich hinter mir eine wohlbekannte Stimme meinen Namen rufen. Enya! Ich drehte mich um und sah sie auf mich zurennen. „Hey“, keuchte sie, als sie völlig außer Atem bei mir ankam, „wir haben total oft dieselben Kurse. Cool, oder? Zuerst haben wir Kunst, lass uns doch zusammen da hingehen.“ Dass sie mit ihrem Auftritt die Aufmerksamkeit der halben Schule auf sich zog, war ihr anscheinend

egal. „Ähm... klar, gerne“, erwiderte ich ziemlich überrumpelt, „können wir gerne machen.“ Enya nickte zufrieden, nahm mich wie bereits am Tag zuvor am Arm und zog mich mit sich. Als wir uns ein wenig von der starrenden Schülermasse entfernt hatten, flüsterte sie empört: „Das war ja mal mega scheiße von denen. Die wissen doch, was du durchgemacht hast. Autounfall, Krankenhausaufenthalt, Tod deiner Schwester. Da müssen die doch nicht so tuscheln!“ Ich nickte nur benommen. Waren Enya und ich befreundet? Es wirkte so... aber ich hatte (außer Kayla natürlich) noch

nie eigene Freunde gehabt. Wieso jetzt plötzlich? Wo doch die gesamte Schule wusste, wie schwach und dumm ich war. Ich rätselte noch darüber nach, als Enya mich längst in unseren Kunstraum gezogen und auf den Platz neben sich gedrückt hatte. Den ganzen Tag verbrachte sie in meiner Nähe, wenn wir Kurse zusammen hatten, saßen wir nebeneinander, wenn nicht, holte sie mich nach der Stunde bei meinem Raum ab. In den Pausen saßen wir zusammen auf dem Schulhof und redeten. Ich erzählte ihr viel. Plötzlich konnte ich gar nicht mehr aufhören, zu reden. Ich erzählte ihr von Dr. Hartmann, von Dr. Amico, vom Alkoholproblem

meines Vaters und den Problemen meiner Mutter, ich erzählte ihr sogar von Nando. An der Stelle musste sie grinsen. „Den scheinst du ja ganz schön gern zu haben“, bemerkte sie, und zum zweiten Mal an diesem Tag wurde ich knallrot. „Quatsch, so ist das nicht“, wehrte ich hastig ab, „Ich kenne ihn ja kaum.“ Doch das konnte das breite Grinsen in Enyas Gesicht nicht wegwischen. Enya schützte mich auch vor den teils neugierigen, teils verachtenden Blicken der anderen Schüler. Sie führte mich an Orte, die von der Masse so abgeschieden waren, dass ich sie nicht einmal kannte, und zog mich in eine andere Richtung, wenn sie merkte, dass jemand, den wir

kannten, direkt auf uns zusteuerte. Die Lehrer behandelten mich sehr vorsichtig, als wäre ich eine zerbrechliche Porzellanpuppe. Sie tolerierten es, dass ich kaum etwas sagte, und trauten sich kaum, mir auch nur in die Augen zu sehen. Sieben Stunden verbrachte ich so in der Schule, mit Enya an meiner Seite. Als ich gegen drei Uhr nachmittags wieder auf mein Fahrrad stieg und nach Hause fuhr, kam ich zu dem Schluss, dass wir wohl wirklich so etwas wie Freundinnen waren. Der Gedanke daran, dass ich nun eine eigene Freundin hatte, und diese nicht Kayla hieß und meine Schwester war, versetzte mich in solch eine

freudige Aufregung, dass mich weder das Gestreite meiner Eltern interessierte noch der Alkoholgestank meines Vaters. Ich machte meine Hausaufgaben, dann ging ich einkaufen. Dachte an Enya. Und vergaß fast, dass ich ja heute einen Termin bei Dr. Amico hatte. So fuhr ich gerade einmal fünf Minuten vor dem Terminbeginn los und kam fünf Minuten zu spät an. Als ich die Praxis betrat, war Nando nicht da. Das machte mich trauriger, als ich erwartet hatte. Ich hatte merkwürdigerweise gehofft, ihn heute hier zu sehen. Ich hatte mich darauf gefreut. Doch trotz meiner Enttäuschung freute ich mich auch

darauf, seinem Vater von Enya erzählen zu können. Als ich in dem bequemen braunen Ledersessel vor Dr. Amicos Schreibtisch Platz genommen hatte, fragte er mich erst einmal, wie ich das Treffen mit seinem Sohn letzte Woche empfunden hatte. „Es war schön“, erwiderte ich, „auf jeden Fall besser, als zu Hause rumzuhängen und nichts zu tun.“ Er sah mich prüfend an. Dann nickte er, als hätte er überlegt, etwas dazu zu sagen, sich schließlich aber doch dagegen entschieden. Ich war neugierig, was es gewesen sein mochte, oder ob ich mich doch nur getäuscht hatte, doch ich war zu schüchtern, um nachzufragen.

„Ist sonst etwas vorgefallen?“, wollte er wissen, „Was hast du die letzten Tage gemacht?“ Als ich ihm von dem zufälligen Treffen mit Enya und ihren Freunden erzählte, konnte ich in seinen Augen dasselbe erfreute Leuchten erkennen, das ich auch bei Nando so oft gesehen hatte. Wenigstens wusste ich jetzt, woher er das hatte. Wobei das Leuchten in Nandos Augen oft noch deutlich intensiver gewesen war. Dr. Amico und ich redeten viel über den heutigen Tag. Über die Blicke und das Getuschel der anderen Schüler, über die Vorsicht meiner Lehrer. Über meine

Unsicherheit. Und natürlich über Enyas Hilfe. Er bestätigte meine Überlegung, dass wir uns wohl angefreundet hatten. Außerdem meinte er, es wäre wohl sehr gut, wenn ich mehr mit ihr und vielleicht auch mit ihren anderen Freunden unternehmen würde. „Je mehr gute Freunde du hast, desto besser“, erklärte er mir. Und das sah ich genauso. Ich war nur noch nicht ganz sicher, ob ich es schaffen konnte, auch die anderen zu meinen Freunden zu machen. Das sagte ich auch Dr. Amico. „Ich habe es sechzehn Jahre lang nicht geschafft.“ „Du hast es aber auch nicht versucht“,

entgegnete er, „daran lag es. Du kannst es problemlos schaffen, das Herz anderer Menschen zu gewinnen. Du hast Enya für dich gewonnen, ich finde dich sehr sympathisch, mein Sohn mag dich auch. Du bist ein tolles Mädchen, und wenn du dich wirklich traust, es zu versuchen, wird es kein Problem für dich darstellen, Freunde zu finden!“ Bei den Worten „mein Sohn mag dich auch“, begann mein Herz mit einem Mal höher zu schlagen. Nando mochte mich? Wirklich? Das war... ich hatte keine Ahnung, was ich davon halten sollte. Es verwirrte mich. Seit Kayla tot war, schienen ständig mehr Leute dazuzukommen, die mich mochten.

Und dann auch noch Nando, ein gut aussehender, humorvoller Junge... der mich doch eigentlich kaum kannte, oder? Und trotzdem mochte er mich schon? Wirklich? „Luna?“, die Stimme meines Therapeuten riss mich mit einem Mal aus den Gedanken, und mir fiel auf, dass ich auf seine Worte gar nicht reagiert hatte. „Äh... ja... ich denke, sie haben recht. Danke.“ Und da die Therapiestunde dann vorbei war, verließ ich daraufhin nach einer kurzen Verabschiedung immer noch ziemlich verwirrt und nachdenklich den

Raum. Der Grund für meine Gefühle stand draußen vor der Praxis und sah sich suchend um. Als Nando mich erblickte, fingen seine Augen wieder an, zu leuchten. „Hey“, begrüßte er mich lächelnd, „Ich dachte du hättest den Termin bei meinem Vater erst um sieben.“ „Nein, schon um sechs“, ich lächelte zurück, „bin gerade fertig.“ „Und, wie war es?“, er grinste. „Ganz okay“, ich zuckte die Schultern, „wie so eine Therapiestunde halt ist, denk ich mal.“ „Da kann ich leider nicht mitreden“,

Nando grinste jetzt noch breiter, „Ich lebe zwar mit einem Therapeuten zusammen, aber eine Therapiestunde hatte ich zum Glück noch nie bei ihm. Das wäre auch verdammt peinlich, wenn man bedenkt, dass er mein Vater ist.“ Ich musste lachen. Dann fragte er, was ich heute Abend noch machen würde. Ich überlegte. Anscheinend hatte ich zwei Möglichkeiten: Möglichkeit eins war, den Abend mit Nando zu verbringen, was Spaß, Freude und wahrscheinlich sogar einige glückliche Momente bedeuten würde. Möglichkeit zwei war, nach Hause zu fahren und das zu tun, was Kayla verdiente, also um sie zu trauern. Das

würde Tränen, Verzweiflung und möglicherweise wieder Suizidgedanken bedeuten. Aber es wäre das, was meine verstorbene Schwester verdient hatte. Ich überlegte nicht lange. „Hab noch was zu tun“, sagte ich zu Nando, stieg auf mein Fahrrad und fuhr nach Hause

10

Ich vermisste Kayla. Es tat weh, sie so sehr zu vermissen. Ich wollte sie bei mir haben. Dr. Amico hatte Unrecht gehabt, ich konnte alleine keine Freunde finden. Dafür war ich viel zu wenig wert. Kayla war meine einzige Freundin gewesen, und jetzt, wo sie tot war, würde ich nie wieder neue Freunde finden. Enya war auch keine Freundin. Sie verhielt sich nett mir gegenüber, ja, aber das lag wahrscheinlich daran, dass sie noch nicht so genau wusste, wie schwach und feige ich war. Oder sie hatte einfach Mitleid und ein gutes

Herz. Ich konnte keine Freunde finden. Niemand konnte mich wirklich mögen. Auch Nando, der es ja laut seinem Vater schon tat, würde das bald merken. Er würde merken, dass ich ein Schwächling, eine Heulsuse und ein Dummkopf war, er würde merken, dass ich es nicht verdient hatte, in seiner Nähe zu sein und mit ihm zu reden. Früher oder später würde er das merken. Früher oder später merkten es immer alle. An diesem Abend war ich so verzweifelt, dass ich es einfach nicht mehr aushielt. Seit Stunden lag ich schon in meinem Bett, weinte und wimmerte.

Erbärmlich. In mir entwickelte sich ein schrecklicher Wunsch: Ich wollte Schmerzen fühlen. Äußere Schmerzen. Kontrollierbare Schmerzen. Ich wollte das fühlen, was ich verdiente. Also stürzte ich ins Bad. Es dauerte eine Weile, bis ich eine der glänzenden Rasierklingen aus ihrer Packung gezogen hatte, denn meine Hände zitterten fürchterlich. Wie betäubt ging ich zurück in mein Zimmer. Schloss die Tür hinter mir. Setzte mich auf mein Bett. Ich drehte die Klinge in meiner Hand. Betrachtete sie, immer noch weinend.

Dann setzte ich sie an meinem linken Unterarm an. Ich zitterte. Ich weinte. Und ich schnitt. Ich hatte die Hand zur Faust geballt und grub meine Nägel ins Fleisch, als der Schmerz mich durchzuckte, so plötzlich und unerwartet wie der erste Blitz eines Gewitters. Es war ein gerader, eher kleiner Schnitt, aber das Blut floss augenblicklich über meinen Arm. Rot und glänzend. Und es tat so erschreckend gut, diesen Schmerz zu spüren, den kontrollierbaren Schmerz, der vom Inneren und Unkontrollierbaren

ablenkte. Ich schnitt noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal und noch einmal. Fünfmal schnitt ich mir ins Fleisch, sodass das Blut über meinen Arm strömte wie ein kleiner Bach durch einen Wald fließt. Und es verschaffte mir eine wilde, schreckliche Befriedigung, es zu sehen und den Schmerz zu spüren. Ich weinte und zitterte und blutete, und als das Blut getrocknet war und dunkel und hart an den Wunden klebte, weinte und zitterte ich noch mehr. Ich konnte nicht mehr aufhören. Aber es tat so gut. So schrecklich

gut. Irgendwann, nach endlosen Stunden und tief in der Nacht, schlief ich ein, die Rasierklinge wie eine schützende Waffe umklammert. *** Den nächsten Tag verbrachte ich wieder mit Enya. Ich trug eine Jacke über meinem T-Shirt, was sie bestimmt wunderte, da es total heiß war, aber ich wollte nicht riskieren, dass jemand meinen aufgeritzten Arm sah. Vor der Schule hatte ich hastig das Blut abgewaschen. Die Klinge hatte ich in

meine Hosentasche geschoben. Ich wollte mich nicht mehr von ihr trennen, nie wieder. Sie verschaffte mir diese wilde Befriedigung, die ich hasste, zugleich aber liebte. Und die Liebe war stärker als der Hass. Über die Klinge und den Schmerz, den sie mir zufügte, hatte ich Kontrolle. Sie war das einzige, was ich kontrollieren konnte. Und vielleicht ist es das, was jeder Mensch braucht: Kontrolle. Egal, über was. Ich ritzte mich in dieser Woche nicht noch einmal, aber ich hatte die Klinge immer bei mir. Wenn die Erinnerungen an Kayla zu schmerzhaft wurden, nahm ich sie in meine Hand, und schon die

Berührung gab mir ein erholsames Gefühl von Kontrolle, sodass ich mich direkt besser fühlte. Insgesamt verliefen die Tage bis zu meinem nächsten Termin bei Dr. Amico eher unspektakulär. In der Schule redete ich mit Enya und versuchte, nicht so oft an Kayla zu denken. Von anderen Menschen hielt ich mich fern. Sie sahen mich immer noch alle so komisch an – entweder neugierig oder verachtend. Ich wollte mit niemandem (außer Enya natürlich) reden, ich hatte richtig Angst

davor. Und meine neue Freundin verstand das und hielt mich so gut es ging von den übrigen Schülern fern, besonders von denen, die mit Kayla befreundet gewesen waren. Ja, in dieser Woche akzeptierte ich, dass ich für eine gewisse Zeit wohl doch so etwas wie eine Freundin gefunden hatte. Wie lange es dauern würde, bis Enya herausfand, wie schwach und dumm ich in Wirklichkeit war, wusste ich natürlich nicht, aber ich beschloss, bis dahin einfach jede Sekunde mit ihr so gut wie möglich zu genießen. Am Samstag trafen wir uns mit Shari, Leonie, Mira, Lukas und

Malte. Wir gingen ins Kino und sahen uns einen Thriller an, wobei die Jungen den gesamten Film über über die Schauspielerin lästerten. Wir Mädchen lachten, bis uns die Bäuche weh taten. Als der Film vorbei war, gingen wir bei McDonalds essen. Das dauerte zwei Stunden, weil wir die ganze Zeit so lachen mussten, dass wir kaum zum Essen kamen. Es war wirklich einer der schönsten Tage meines Lebens. An Kayla dachte ich kaum, nur hin und wieder fragte ihre Stimme in meinem Ohr, wie ich so grausam sein konnte, sie einfach zu vergessen, und, ob ich wirklich glaubte,

eigene Freunde gefunden zu haben und dazuzugehören. Ich versuchte, sie zu ignorieren, und tatsächlich konnte sie meine Laune an diesem Tag nur ein wenig dämpfen. Selbst, als ich wieder zu Hause war und viel zu laut Musik hören musste, um das Gestreite meiner Eltern zu übertönen, lächelte ich noch. Von Suizidgedanken war am Samstag keine Spur, und an die Klinge in meiner Tasche dachte ich nicht einmal. Doch so schön der Samstag auch war, der Sonntag wurde sehr schlimm. Ich weinte, weil ich so ein schlechtes Gewissen wegen Kayla hatte, und, weil ich mich so hasste für alles, was ich ihr

antat. Selbst nach ihrem Tod war ich zu egoistisch, um jeden Tag an sie zu denken. Ich war so ein schrecklicher Mensch. Stundenlang drehte ich die Klinge in meiner Hand und war hin- und hergerissen dazwischen, sie zu benutzen oder nicht. Den Schmerz meine Gefühle wegwischen zu lassen, wäre schön, aber ich wollte nicht wieder Wunden verstecken müssen. Ich betrachtete die Kratzer an meinem Arm, die langsam verheilten, und hasste mich für meine unglaubliche Schwäche. Dafür, dass ich überhaupt nichts auf die Reihe bekam. Ich weinte sehr viel an diesem Tag, und

Suizidgedanken waren mein ständiger Begleiter. Ich wollte einfach nur noch sterben. Zu Kayla fliehen. Mal nicht schwach sein. Sondern mutig. Doch das war ich nicht, nein, ich war unglaublich feige, und so brachte ich mich an diesem Tag nicht um, sondern lag stundenlang im Bett und weinte und drehte die Klinge in meiner Hand. Mein Vater war saufen, meine Mutter heulte in der Küche. Und wie schon so oft hasste ich es, dass ich ihnen so viel weniger bedeutete als Kayla. Doch ich verstand es. Schließlich war Kayla perfekt gewesen. Wunderschön, intelligent, witzig.

Und ich? Ich war hässlich, dumm und schwach. Langweilig und schüchtern. Und fast jeder wusste das. Enya und ihre Freunde hatten das vielleicht noch nicht gemerkt, doch das war nur eine Frage der Zeit. Selbst Nando schien es gemerkt zu haben, nachdem ich ihn am letzten Montag einfach stehen gelassen hatte, denn er meldete sich nicht noch einmal bei mir. Er schrieb kein einziges Wort. Und das machte mich definitiv trauriger als es sollte. Ich vermisste seine Worte, dabei kannte ich ihn doch

kaum. Außerdem war es noch nicht Zeit, irgendwelchen Jungs hinterherzulaufen, es war noch die Zeit, in der ich um Kayla trauern musste. Ob ich mir jemals erlauben würde, diese Zeit zu beenden, wusste ich nicht. Schließlich war selbst dieser schreckliche Sonntag vorbei, und der Montag kam. Eine neue Woche. Und ein neuer Termin bei Dr. Amico. Und vielleicht mit Nando. Ich war an diesem Tag einigermaßen gut drauf. Das bedeutete, dass ich problemlos mit Enya reden konnte, die Zeit mit ihr

einigermaßen genoss und nur ungefähr einmal die Stunde an Kayla dachte. Nach der Schule und den Hausaufgaben war es schließlich endlich Zeit geworden, zu Dr. Amicos Praxis zu fahren. Wir redeten eine Weile, und bis zum Ende der Stunde sah ich seinen Sohn nirgendwo. Ich traute mich natürlich auch nicht, nach ihm zu fragen. Ich wollte gerade die Praxis wieder enttäuscht verlassen, als ich plötzlich eine Stimme hinter mir hörte: „Musst du heute wieder nach Hause?“ Ich fuhr herum, und da sah ich ihn. Nando. Er stand in einer Tür, von der ich vermutete, dass sie die Praxis mit Dr.

Amicos Wohnung verband. Er stand dort und sah mich an, und seine Augen wirkten fragend und ein bisschen traurig. Enttäuscht. Ich überlegte nur sehr kurz. Wieder hatte ich diese beiden Möglichkeiten. Und wieder traf ich meine Entscheidung innerhalb von einer einzigen Sekunde. „Nein“, erwiderte ich entschlossen, „heute muss ich nicht nach Hause. Wollen wir zusammen rausgehen?“ Ich glaube, ich war noch nie zuvor so mutig gewesen, jemanden persönlich zu fragen, ob er Zeit mit mir verbringen wollte. Das Leuchten in Nandos Augen kehrte zurück, er lächelte mich an und nickte.

„Sehr gerne.“ Wir gingen in den Garten der Familie Amico und setzten uns auf zwei Liegestühle. Eine Weile schwiegen wir beide. Dann fing Nando an, zu sprechen. „Ich war... naja, ein wenig verletzt... also, ich weiß, dass das blöd klingt, aber du hast dich halt nie gemeldet. Deshalb hab ich dir dann auch nicht mehr geschrieben. War denn irgendwas?“ Na toll. Ich hatte es ja gewusst, er würde noch merken, wie schrecklich ich war. Jetzt hatte er es gemerkt. „Ach, ich hatte einiges um die Ohren...“, erwiderte ich ausweichend. Ich sah

seinen fragenden Blick, doch ich schwieg. So waren wir wieder beide eine Weile still. Dann ergriff ich das Wort. Denn ich wusste, würde ich ihm jetzt nichts erklären, würde ich ihm noch mehr weh tun. „Ich hatte eine Zwillingsschwester. Ihr Name war Kayla. Und sie war perfekt. Sie war wunderschön. Sie war intelligent. Sie war witzig und hilfsbereit und freundlich. Alles an ihr war gut. Und ich habe sie sehr geliebt. Jeder hat sie geliebt, und das zu recht. Für meine Eltern war sie die Prinzessin, ich war nur so mit dabei. Kayla hat mich immer unter

ihre Fittiche genommen. Sie hat auf mich aufgepasst und hat zugelassen, dass ich Zeit mit ihr und ihren Freunden verbringe. Sie war alles für mich. Vor fünfeinhalb Wochen ist sie gestorben. Bei einem Autounfall. Ihr Freund Anton saß am Steuer, sie saß neben ihm und ich war hinten. Kayla und Anton waren beide betrunken. Anton ist mit voller Wucht gegen einen Baum gefahren. Jetzt liegt er immer noch schwer verletzt im Krankenhaus. Ich war nur eine Woche drin. Kayla gar nicht. Sie war sofort tot. Ich vermisse sie so sehr. Ich habe außer ihr nie wirklich Freunde gehabt. Ich bin viel zu schrecklich, um eigene Freunde

zu bekommen. Zu dumm und zu schwach. Ich kann gar keine Freunde bekommen. Und ich habe mir verboten, glücklich zu werden. Manchmal bin ich es trotzdem kurzzeitig. Bei unserem ersten Treffen war ich glücklich. Aber das will, nein, das darf ich nicht mehr. Ich muss um Kayla trauern. Deshalb wollte ich mich nicht mit dir treffen und habe mich nicht bei dir gemeldet. Was ich verdiene, sind Depressionen. Suizidgedanken, die ich manchmal habe. Neulich habe ich mich geritzt. Das verdiene ich. Dafür bin ich gut genug. Aber nicht für Glück. Oder für deine

Nähe.“ Nachdem ich meinen Vortrag beendet hatte, schwieg Nando erst einmal. „Warum?“, fragte er schließlich, und aus seiner Stimme klangen keine Einschätzungen, Bewertungen oder Meinungen heraus. Es war eine einfache, sachliche Frage. „Warum was?“ „Warum denkst du das? Ich finde dich überhaupt nicht schrecklich. Warum solltest ausgerechnet du der einzige Mensch sein, der nur Depressionen, Suizidgedanken und Selbstverletzung verdient hat? Nichts an dir ist schlimm. Du bist ein wundervolles Mädchen, Luna.

Und das meine ich ernst. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Spaß wie letzte Woche mit dir. Nichts gegen deine Schwester, aber ich bezweifle, dass sie so viel besser war als du wie du behauptest.“ Ich schwieg. Das hatte noch nie jemand gesagt. Weil ich es noch nie jemandem so erzählt hatte? Nein. Weil es noch nie jemand so gesehen hatte. Wie auch? Es stimmte doch... oder? Warum? Vielleicht sollte ich mir diese Frage auch einmal stellen. Warum war es so, dass ich weniger wert war als Kayla? Warum durfte ich nach ihrem Tod nicht mehr glücklich werden? Warum war ich

so viel schlechter als alle anderen Menschen? Warum? Nando sah mich an. In seinem Blick konnte ich eines sehen: Er hatte es ernst gemeint, was er gesagt hatte. Todernst. Und er war sich sicher. Und würde seine Meinung nie wieder ändern. Aber wie war das möglich? Wieso mochte er mich so? Wieso mochte Enya mich? Sechzehn Jahre lang hatte ich nie gespürt, dass jemand mich mochte außer Kayla und meinem Großvater. Und jetzt war Kayla tot – und ich bekam Freunde, die mich mochten und hatte einen Psychiater, der mich ebenfalls

sympathisch fand. Wie konnte das plötzlich sein? „Du glaubst mir also nicht?“, hakte ich nach. Er schüttelte den Kopf. „Wieso nicht?“ „Weil ich keinen Grund für deine Ansichten sehe. Ganz ehrlich, ich hab keine Ahnung, wie du auf so etwas kommst. Ich persönlich sehe dich ganz anders.“ „Wie siehst du mich denn?“, wollte ich wissen. „Ich sehe dich als freundliches, gutherziges Mädchen, das sehr schüchtern ist und in seinem Leben viel zu wenig Liebe erfahren hat. Ich sehe

dich als Mädchen, das viel zu wenig von sich hält. Und ich sehe dich als Mädchen, das immer nur das Beste für alle anderen will, ohne sich dabei um sich selbst zu kümmern. So sehe ich dich.“ Unsere Blicke trafen sich. Ich verlor mich für einen Moment in seinen leuchtenden schokoladenbraunen Augen. Sie zogen mich in sich hinein wie ein Meeresstrudel ein wehrloses Segelschiff... Dann zuckte ich mit einem Mal zusammen, als plötzlich eine freundliche Frauenstimme hinter uns ertönte. „Nando, kommst du? Es gibt essen. Und stellst du mir deine neue Freundin vor?

Wer ist das?“ Ich drehte mich um und sah eine große, schlanke Frau mit dunklen Locken und einem kleinen Grübchen im Kinn. Insgesamt war sie sehr schön. „Luna, das ist meine Mutter“, Nando sprach das aus, was ich an ihren wahnsinnig ähnlichen Gesichtsformen schon erkannt hatte. „Mama, das ist Luna. Sie ist eine Patientin von Papa. Und äh... sie ist ganz nett. Und hat heute nichts mehr zu tun“, fügte er mit einem Seitenblick auf mich hinzu. „Das ist ja großartig!“, rief Frau Amico völlig begeistert aus, „Dann kannst du ja mit uns zu Abend essen!“ „Ähm...“, ich war völlig überrumpelt von

dieser Idee. Aber... so schlecht war die Idee eigentlich nicht. Meinen Eltern würde es sowieso nicht auffallen. „Aber nur, wenn es wirklich keine Umstände macht.“ Warum nicht?, fragte Nandos Stimme in meinem Kopf. Die Frau meines Therapeuten schüttelte so heftig den Kopf, dass ich fürchtete, er würde abfallen. „Das macht überhaupt keine Umstände“, wehrte sie vehement ab, und Nando nickte zustimmend. „Es wäre echt cool“, fügte er lächelnd hinzu. Und so kam es, dass ich an diesem Montagabend am Tisch meines Therapeuten

saß. Der war davon übrigens genauso begeistert wie seine Frau und sein Sohn. Zwar wirkte er ziemlich überrascht, als ich plötzlich in der Tür stand, die Praxis und Wohnung verband, aber nachdem Nando ihn kurz über unser Gespräch von eben aufgeklärt hatte, lächelte er. „Eine gute Idee“, sagte er, und in seinen Augen konnte ich Stolz erkennen. Auf mich? Auf seine Familie? Keine Ahnung. Hinter der Tür befand sich eine breite hölzerne Treppe. Die Wände waren weiß gestrichen und

mit bestimmt zwanzig Bildern der Familie Amico geschmückt. Staunend steig ich die Stufen hoch und betrachtete die Fotos. Ein deutlich jüngeres Ehepaar Amico vor einer hellen Kirche, er im Anzug, sie im weißen Kleid, strahlend, bei ihrer Hochzeit. Er trug sie auf dem Arm, sie hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Die beiden mit einem Baby auf dem Arm, einem winzig kleinen Nando. Nando mit vielleicht zwei Jahren an einem Strand vor einer Sandburg, wie sie nur ganz kleine Kinder bauen können. Die drei vor höchstens zwei Jahren in Rom, vor dem Petersdom. Sie alle strahlten, lachten, waren glücklich und

zufrieden. Man konnte ihnen auf jedem einzelnen Bild ansehen, wie glücklich sie als Familie waren und wie sehr sie einander liebten. Ich war von den dreien völlig verzaubert. So lief ich direkt in Nandos Rücken hinein, als er vor einer braunen Holztür am Ende der Treppe stehen blieb. Er und seine Eltern lachten, aber es war ein freundliches Lachen, ein So-etwas-passiert-nunmal-Lachen, und ich lachte mit. Dann schloss Nando die Tür auf und wir gingen hinein. Wir standen in einem mit hellen Dielen ausgelegten Flur, dessen Wände mit noch

mehr Bildern geschmückt waren. Nando an seinem fünften Geburtstag zum Beispiel, wie ich an den fünf Kerzen auf der gigantischen Geburtstagstorte erkennen konnte. Wir durchquerten den Flur und betraten ein riesiges Zimmer, dessen Wände zur Abwechslung mal nicht mit Fotos, sondern mit fast einem Dutzend Bücherregalen ausgefüllt waren. In der Mitte standen ein großer Tisch aus stabilem Holz, ein rotes Sofa und ein Flachbildschirmfernseher. An das Zimmer grenzte eine Einbauküche, in der ein Blech mit Pizza auf dem Herd stand. Außerdem gingen von dem riesigen

Raum, in dem wir standen, vier Türen ab. „Mein Zimmer, das Schlafzimmer meiner Eltern, ihr Arbeitszimmer, das sie sich teilen, und das Bad“, erklärte Nando, als er meinen Blick bemerkte. Seine Mutter holte in der Zwischenzeit die Pizza aus der Küche und stellte sie auf den gedeckten Tisch. Wir alle setzten uns auf die breiten Stühle. Ich sah, wie alle einfach zugriffen und sich etwas von der Pizza nahmen, und nach einem auffordernden Nicken von der kompletten Familie legte ich mir ebenfalls ein Stück auf den Teller, den mir Nandos Mutter spontan hingelegt

hatte. Die Pizza war belegt mit Oliven und Parmaschinken, typisch italienisch also. Plötzlich musste ich daran denken, dass Kayla Oliven gehasst hatte. Ich schluckte, und Tränen traten in meine Augen, was Nando sofort zu bemerken schien, denn er stieß mich unauffällig mit dem Ellenbogen an. „Ist alles okay? Sei entspannt, du bist hier willkommen. Und es ist alles in Ordnung.“ Ich holte tief Luft, nickte kurz, sah den Blick meines Therapeuten auf mir ruhen. Es gibt doch etwas, was unangenehmer ist, als in eine Therapiesitzung hineinzuplatzen: Mit seinem Therapeuten zu essen ist einfach nur peinlich. Aber es

hat auch etwas Lustiges und Cooles. Ich beschloss, mich zusammenzureißen und Nando die Freude zu machen, mich „einfach“ zu entspannen. Also bis ich ein Stück von der Pizza ab, bemühte mich, nicht an Kaylas Gesicht wegen der Oliven, sondern an den würzigen Geschmack des Schinkens zu denken. Ich kaute, schluckte, biss wieder ab, kaute, schluckte, biss wieder ab, immer wieder, ohne ein Wort zu sagen, fest entschlossen, mir meine wirren Gefühle nicht anmerken zu lassen. Dr. Amicos Frau sah mich an. „Schmeckt es dir?“, fragte sie freundlich. Ich nickte. „Ja, es schmeckt wirklich toll, danke“, erwiderte ich zwischen zwei

Bissen. Am Tisch wurde viel geredet und gelacht. Nandos Eltern sprachen mit ihrem Sohn allein an diesem Abend mehr als meine Eltern mit mir in einem ganzen Jahr. Ich hörte sie über Dr. Amicos Tante lästern, die sich jede Woche ihre Haare neu färbte, ich hörte sie die Hochzeit von Nandos Cousine planen, ich hörte sie Neuigkeiten über irgendwelche Freunde der Familie austauschen. Sie hatten viel Spaß, und da ihr Humor genau meinem entsprach, musste ich einfach herzhaft mitlachen, ob ich nun wollte oder nicht. Nachdem wir die große Pizza zu viert

aufgegessen und den Tisch abgeräumt hatten, fragte mich Nandos Mutter, wann ich nach Hause müsste. „Ich glaube, das ist meinen Eltern nicht so wichtig“, erwiderte ich so unbekümmert wie möglich, jedoch ohne verhindern zu können, dass meine Stimme ein wenig zitterte. Während sie mich bestürzt ansah, wirkten Nando und sein Vater inzwischen wenig überrascht. Sie kannten das Problem ja schon. Betretenes Schweigen breitete sich aus. Dann klingelte mein Handy. „Entschuldigung“, murmelte ich hastig und sehr überrascht, da mich selten jemand anrief, und wandte mich

ab. „Hallo?“ „Hey“, tönte mir Enyas Stimme ins Ohr, „ich wollte fragen, ob du gerade zufällig nichts zu tun hast“, sie lachte. „Ich hab nämlich Karten für ein Konzert von James Sheborn heute! Wir könnten zusammen hingehen, wenn du willst.“ James Sheborn. Mein Lieblingssänger. Wusste Enya das? Oder hatte sie sich einfach gedacht, dass so gut wie jeder ihn mochte? Ich überlegte. Zwei Möglichkeiten: Kayla. Oder Spaß. Kayla oder Spaß. Kayla oder Spaß. Kayla oder Spaß. Was war das richtige?

Was durfte ich tun? Was musste ich tun? „Luna?“, fragte Enya an meinem Ohr, „Bist du noch dran?“ Warum?, fragte Nandos Stimme in meinem Kopf. „Klar“, antwortete ich mit vor Aufregung und vielleicht auch vor Schuldgefühl zitternder Stimme, „ich komme. Ich bin in zwanzig Minuten vor deinem Haus.“ „Cool“, man konnte deutlich hören, dass Enya sich über meine Entscheidung freute, „dann bis gleich. Ach ja, und bring noch jemanden mit. Ich hab nämlich drei Karten.“ Ohne ein weiteres Wort legte sie auf. „Bring noch jemanden

mit“?? Wen sollte ich denn mitbringen? Ich drehte mich um zur Familie Amico, die in der Küche das Geschirr abwusch. Mein Blick fiel auf Nando. Sollte ich ihn fragen? Wäre das okay? Durfte ich das? Warum? „Nando?“, setzte ich an. Er drehte sich zu mir um. „Ähm... Enya, eine Freundin von mir, hat gerade angerufen. Sie hat Karten für ein Konzert von James Sheborn. Möchtest du vielleicht... mitkommen?“ Er lächelte. Ich konnte sehen, wie Dr. Amicos Blick sich aufhellte. Er schien sich zu freuen,

dass ich eine Verabredung mit meiner neuen Freundin hatte und auch noch seinen Sohn mitnehmen wollte. Und vielleicht war er auch ein bisschen stolz auf mich, weil ich mich getraut hatte, Nando zu fragen. Der lächelte übrigens immer noch. Dann nickte er. „Gerne.“ Und so kam es, dass ich mit Enya und Nando auf ein Konzert ging

11

Mit unseren Fahrrädern fuhren Nando und ich zu Enya. Sie wartete schon vor der Haustür. Als ich sie und Nando einander vorstellte, begann sie wieder, so wissend zu grinsen. Doch sie sagte nichts außer „Hi, schön, dich kennenzulernen“ und dann fuhren wir los. Die Bühne, auf der James Sheborn auftreten würde, befand sich auf einer Art Waldlichtung unter freiem Himmel. Nachdem wir unsere Karten vorgezeigt und uns in die Nähe der hölzernen Bühne gestellt hatten, bemerkte ich, dass die Sonne dabei war, unterzugehen. Ich

wusste, dass meine Eltern meine Abwesenheit noch nicht bemerkt hatten und auch nicht bemerken würden. Aber in diesem Moment war mir das genauso egal wie Kaylas empört eifersüchtige Stimme in meinem Kopf, denn ich stand bei herrlichem Wetter mit meiner neuen wunderbaren und coolen Freundin und einem zugegebenermaßen ziemlich süßen Jungen vor einer Bühne und wartete auf den Auftritt meines Lieblingssängers. Eigentlich konnte das Leben in diesem Moment nicht schöner sein. Nando besorgte uns dreien Getränke. Ohne Alkohol, denn ich hasste dieses

widerliche Zeug, das mit dafür verantwortlich war, dass meine Schwester tot war. Als James Sheborn schließlich auf die Bühne trat, brach um uns herum Geschrei aus. Der Rest des Abends war wunderschön. Begleitet von den melancholischen Liedern meines Lieblingssängers stand ich mit Enya und Nando vor der Bühne. Die Sonne ging langsam vor uns unter, und der Rest der anwesenden Menschen war glücklicherweise relativ ruhig und lauschte genau wie wir einfach der Musik. Wir tanzten auch ein bisschen, aber die meiste Zeit standen wir nur da

und hörten zu. Je dunkler es wurde, desto näher schien Nando mir zu kommen. Irgendwann legte er vorsichtig und eher beiläufig seinen Arm um mich. Ich bemerkte Enyas Grinsen, aber ich fühlte mich erstaunlich wohl so nah bei ihm, daher tat ich nichts. Ich lehnte nur meinen Kopf an seine Schulter, schloss die Augen und fragte mich, was sich da zwischen uns beiden entwickelte. Übrigens erklärte ich in dieser Nacht Enya zu meiner besten Freundin. Ja, vielleicht war es ein bisschen früh dafür. Vielleicht aber auch

nicht. Sie hatte mir in den letzten Tagen so viel geholfen, hatte mich in der Schule geschützt und vor den anderen abgeschirmt, hatte mir gemeinsam mit ihren Freunden aus dem Turnverein zwei wunderschöne Tage beschert und schenkte mir nun die glücklichste Nacht meines Lebens. Wir hatten über so vieles geredet, ich hatte ihr alles erzählen können. Es fühlte sich wirklich an, als hätte ich in den letzten zwei Wochen eine Freundin fürs Leben gefunden. Und diese Freundin war nicht meine

Schwester. Nandos Arm ruhte bis zum Ende des Konzertes auf meiner Schulter. Ich fühlte mich als würde ich aus einem wunderschönen Traum aufwachen, als schließlich die letzten Töne des letzten Liedes verklangen und er seinen Arm langsam wieder von mir wegzog. „Ich hoffe, das war okay für dich“, er grinste so schüchtern wie ich es nie für möglich gehalten hätte. „Klar“, ich lächelte und versuchte dabei, möglichst gelassen zu wirken, obwohl in mir ein Sturm von Gefühlen tobte. Gefühle für Nando, die ich nicht einordnen konnte, das Gefühl, etwas

Wunderschönes erlebt zu haben, eine unendliche Freude darüber, auf einem Konzert meines Lieblingssängers gewesen zu sein, und das Glück, das man nun einmal verspürt, wenn einem gerade bewusst geworden ist, dass man eine beste Freundin fürs Leben gefunden hat. Ich war wirklich glücklich und voller Emotionen in diesem Moment. Und Kayla war für wenige Stunden komplett aus meinem Kopf verschwunden. Als das Konzert vorbei war, brachten wir zuerst einmal Enya nach Hause. Ich verabschiedete mich von ihr mit einer festen Umarmung. „Danke“,

murmelte ich verlegen, „es war wunderschön.“ „Immer gerne“, sie lächelte. Dann fügte sie mit frechem Grinsen hinzu „Und deinen neuen Freund kannst du auch immer gerne mitbringen“, woraufhin Nando und ich beide ein wenig rot wurden. Nachdem sie ins Haus gegangen war, begleitete Nando mich noch nach Hause. Schon draußen hörte ich meine Eltern herumschreien. „Du bist widerlich, ganz widerlich mit deinem ständigen Gesaufe!“ „Du hast doch keine Ahnung! Du hast ja noch nicht einmal in deinen Kopf gekriegt, dass unsere Tochter tot

ist!“ Lautes Weinen. „Oh Mann, ist ja echt scheiße“, murmelte Nando neben mir. „Was genau?“, wollte ich wissen. „Na dass die dich so behandeln. Die sollten froh sein, dass du überlebt hast. Du hast was Besseres verdient als sowas.“ „Hab ich?“, ich runzelte ein wenig irritiert die Stirn. Hielt er mich etwa nicht für schwach und dumm? „Ja, hast du! Du hast es verdient, dass man dir Liebe und Zuneigung zeigt, und dass man dir beweist, dass man froh ist, dass du lebst.“ „Aber Kayla hat es auch verdient, dass

man um sie trauert“, wandte ich ein. „Man kann trotz Trauer Liebe zeigen“, widersprach Nando, „man muss sich nur ein bisschen mehr Mühe geben.“ Ich überlegte. Er schien mich wirklich nicht für dumm und schwach zu halten. Aber warum bloß nicht? Das war ich doch – dumm, schwach, ahnungslos. Egoistisch, weil ich heute schon wieder Spaß gehabt hatte. Das war ich, und dafür verdiente ich doch keine Liebe... sondern Hass und Verachtung, also genau das, was ich zumindest von meinen Eltern bekam. Das verdiente ich... oder? Warum?, fragte Nandos Stimme in

meinem Kopf. Ja, warum eigentlich? Nando sah mich an. „Ich sollte jetzt reingehen“, murmelte ich hastig. „Sicher“, er nickte, doch in seinen Augen konnte ich fast so etwas wie Traurigkeit erkennen. Traurigkeit, sich von mir trennen zu müssen? Nein, das konnte nicht sein. Ich sah in seine leuchtenden dunklen Augen, und plötzlich war er mir ganz nah, sein Gesicht war direkt vor meinem und ich konnte seinen warmen Geruch aufnehmen. „Bis bald, Luna“, er lächelte. „Luna. Mondmädchen.“ Dann nahm er mich in

seine starken Arme. Und dann war er plötzlich weg. Ohne, dass ich eine Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, oder auch nur über die Umarmung oder den Namen, den er mir gegeben hatte, nachzudenken

12

Als ich ein wenig benommen von der Verabschiedung von Nando und eigentlich von dem gesamten Abend das Haus betrat, hörten meine Eltern abrupt auf, sich gegenseitig anzubrüllen. Als Nando mir so nah gekommen war, hatte ich sie plötzlich kaum noch gehört. Doch jetzt waren sie wieder real, wirklich, lebendig. „Wo warst du?“, fragte meine Mutter überraschenderweise. „Bei Dr. Amico“, erwiderte ich. „Und dann auf einem Konzert mit zwei... Freunden.“ Es fühlte sich komisch an, Nando und

Enya so zu nennen. Es laut auszusprechen, dass ich überhaupt Freunde hatte. Komisch... und schön. Meine Eltern schienen es auch komisch zu finden. „Was denn für Freunde?“, fragte mein Vater irritiert, und ich konnte den Alkohol in seinem heißen Atem fünf Meter weit riechen. „Freunde halt“, ich wollte mich an ihnen vorbei zur Treppe schieben, um in mein Zimmer gehen zu können. Doch meine Mutter stellte sich mir in den Weg. „Und warum hast du uns das nicht gesagt? Vielleicht machen wir uns ja Sorgen.“ Da platzte mir der Kragen. Ich hatte keine Ahnung, was diese plötzliche

Wir-sind-gute-Eltern-und-lieben-unsere-zweite-Tochter-Nummer sollte, und ich war noch nicht sicher, ob es wirklich das war, was ich wollte, aber jetzt auch noch so zu tun, als wäre es immer so gewesen, ging eindeutig zu weit. „Ihr habt euch die letzten sechzehn Jahre lang nie Sorgen um mich gemacht“, brüllte ich wütend, „ich war immer nur mit dabei, neben Kayla, der wundervollen Kayla! Ich bin euch doch völlig egal! Was spielt es für euch denn schon für eine Rolle, wo ich bin und was ich mache? Ihr merkt es doch gar nicht, wenn ich euch auch nur anspreche!“ Dann stieß ich meine Mutter zu Seite, rannte die Treppe hoch und stürzte in

mein Zimmer. Die überraschten und ein wenig verstörten Blicke meiner Eltern verfolgten mich bis in meine Träume, die mich kurz darauf überfielen. *** Als ich am nächsten Morgen in die Schule kam, war ich alles andere als ausgeschlafen. Um sich richtig konzentrieren zu können, war die Nacht viel zu kurz gewesen. Doch schon beim Gedanken an die kurze Unterhaltung mit Nando, das Abendessen mit der Familie Amico, das Konzert und die Verabschiedung fing ich an, zu

lächeln. Es war einfach so wunderschön gewesen... Ich verbrachte den Tag wieder mit Enya. Sie war jedoch erstaunlicherweise nicht die einzige, die mir in der Schule Gesellschaft leistete. In der zweiten großen Pause kam uns eine Gruppe von Schülerinnen entgegen. Miriam, Laura und Chiara, alles Freundinnen von Kayla. Letztere rief mir zu: „Hey, Luna, warte mal kurz“. Ich drehte mich zu den Mädchen um. Sie standen nun genau vor mir. „Hallo“, Miriam ergriff das Wort und

lächelte mich an, „wir wollten nur mal fragen, wie es dir nach dem Unfall so geht. Es ist wirklich schrecklich, was passiert ist, auch für uns, weil wir doch mit Kayla befreundet waren. Aber du... du bist sogar ihre Zwillingsschwester, und du warst beim Unfall dabei, also muss es für dich wohl noch schlimmer sein. Wir wollten nur mal fragen, wie es dir inzwischen geht.“ Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. Interessierten sie sich jetzt wirklich für mich? Und dafür, wie es mir ging? Jetzt plötzlich? Es hatte sie jahrelang nicht interessiert. Was hatte sich geändert? „Ähm naja...“, ich überlegte. Im Moment

ging es mir eigentlich erstaunlich gut. „Es geht schon. Also klar, es ist schwierig ohne sie und mit den Erinnerungen, aber inzwischen komme ich irgendwie klar.“ Ja, das war wohl die beste Beschreibung für meinen derzeitigen Zustand. „Okay“, nun ergriff Laura das Wort, „also... können wir bleiben? Wir würden dich gerne... naja, besser kennenlernen.“ Sie versuchte zu lächeln, doch es misslang ihr, sodass nur ein künstliches Grinsen herauskam. Ich zögerte. Warf Enya einen Blick zu. Du entscheidest das, sagten ihre dunklen Augen. Ich hatte zu entscheiden, ob drei alte

Freundinnen meiner Schwester mit meiner neuen besten Freundin und mir Zeit verbringen würden. Ich allein. Langsam nickte ich. „Klar könnt ihr bleiben. Ist nett, dass ihr euch sorgt. Danke.“ Sagte man das so? Ich hatte keine Ahnung, ob ich irgendwas falsch oder anders gemacht hatte, aber die drei setzten sich zu uns und fingen nach kurzem zögern an, sich zu unterhalten. Wir sprachen hauptsächlich über Dinge, die die Schule betrafen, aber das war okay, denn immerhin redete ich überhaupt mit ihnen. Schon nach wenigen Minuten konnte ich ihnen

erzählen, was ich über die jeweiligen Themen dachte und hatte kein Problem damit, mit ihnen zu lachen und richtig am Gespräch teilzuhaben. Das war überraschend, denn mit Kayla und ihren Freundinnen hatte ich eigentlich nie gesprochen. Sie hatten immer geredet und Spaß gehabt, und ich hatte teilnahmslos danebengesessen. Doch jetzt war ich anders – ich redete und lachte mit, es war kein Problem. Wieso war alles so anders seit Kaylas Tod? Und wieso waren die Veränderungen gar nicht alle so schlecht? Ich wusste natürlich nicht, ob ich auf

diese Frage jemals eine Antwort finden würde, aber für diesen Moment spielte es außer in meinem Kopf kaum eine Rolle, also genoss ich es einfach, mit Enya, Miriam, Laura und Chiara auf dem Schulhof sitzen und reden und lachen zu können. Die Schuldgefühle, die ich dabei verspürte, waren so gering, dass ich sie fast ignorieren konnte. Leider nur fast. *** Nach der Schule, in der ich auch die restlichen Pausen heute mit den vier Mädchen verbracht hatte, stellte ich

überrascht fest, dass mein Vater zu Hause war. Und noch mehr: Er war nüchtern. So hatte ich ihn in den letzten Wochen selten erlebt. „Hallo, Papa“, murmelte ich, nicht ganz sicher, was ich von der ganzen Sache halten sollte. „Hallo, Luna“, er sah mich an. „Können wir über etwas reden?“ „Ähm... sicher... worüber denn?“ Nun war ich komplett verwirrt. Seit wann wollte mein Vater ausgerechnet mit mir sprechen? „Es geht um gestern. Um das, was du da gesagt hast.“ Ich schluckte, als die Worte mir wieder

einfielen. Ihr habt euch die letzten sechzehn Jahre lang nie Sorgen um mich gemacht! Ich war immer nur mit dabei, neben Kayla, der wundervollen Kayla! Ich bin euch doch völlig egal! Was spielt es für euch denn schon für eine Rolle, wo ich bin und was ich mache? Ihr merkt es doch gar nicht, wenn ich euch auch nur anspreche! „Was ist damit?“, fragte ich und versuchte dabei, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. Es gelang nicht komplett. „Hast du das wirklich ernst gemeint?“ Eine eigentlich recht einfache Frage. Ich überlegte

kurz. Dann nickte ich so entschlossen wie möglich. Ich sah den Schmerz in seinen Augen, und das schlechte Gewissen fiel über mich wie einer dieser alten Leinensäcke, die in Filmen bei Entführungen über die Opfer geworfen werden. Ich wollte jetzt nicht mit ihm sprechen. Ich wollte nicht weiter in seine schmerzerfüllten Augen sehen müssen. Also schob ich mich an ihm vorbei und ging wortlos in mein Zimmer. *** Ich verbrachte den Rest des Tages am

Schreibtisch und zeichnete. Ich zeichnete Enya und mich. Und beim Zeichnen verstand ich, dass sie zwar nicht Kayla war, aber dennoch (oder gerade deswegen?) die beste Freundin, die ich mir momentan wünschen konnte. Abends bekam ich eine Nachricht von Nando. Hallo Mondmädchen, was machst du? Ich lächelte. „Mondmädchen“ war ein wunderschöner Name, fand ich. Zeichnen, schrieb ich zurück, und du? Hausaufgaben, die Antwort kam schnell, was zeichnest du? Enya und mich, antwortete ich

wahrheitsgemäß. Krieg ich ein Foto? Ich überlegte. Was würde er wohl denken, wenn er eines meiner Bilder sehen würde? Ich betrachtete nachdenklich das Foto von Kayla, das auf meinem Schreibtisch stand und mich ständig an sie erinnerte. Dann machte ich ohne lange nachzudenken ein Foto von dem Bild, das ich gerade beendet hatte, und schickte es Nando. Dieses Mal dauerte es ein paar Minuten, bis er antwortete. Wow... Das sieht wirklich toll aus. Du hast echt

Talent. Meinst du das ernst?, schrieb ich skeptisch zurück. JAAA! Ich lächelte bei dieser Antwort. Danke. Ich legte das Handy weg, lehnte mich zurück und schloss kurz die Augen. Du hast echt Talent. Das hatte mir noch nie jemand gesagt. Was allerdings vielleicht auch daran lag, dass ich noch nie jemandem außer Kayla meine Bilder gezeigt hatte. Was hatte mich dazu gebracht, Nando das Bild zu schicken? Ich dachte daran, was meine Schwester damals gesagt

hatte. So ein Quatsch. Du vergeudest deine Zeit, Luna. Es hat doch keinen Sinn, den ganzen Tag diese albernen Bilder zu malen. Ich war danach sicher gewesen, dass sie recht hatte, aber ich hatte nicht mit dem Zeichnen aufhören können. Also hatte ich weitergemacht, jedoch nie wieder jemandem etwas gezeigt. Nicht einmal mein Großvater hatte je eins meiner Bilder zu Gesicht bekommen. Ich hatte einfach geglaubt, was Kayla gesagt hatte, und war gleichzeitig davon ausgegangen, dass es schlecht war, was ich

zeichnete. Aber warum eigentlich?, fragte Nandos Stimme in meinem Kopf. Er schien begeistert zu sein. Vielleicht waren meine Zeichnungen ja gar nicht so schlecht. Vielleicht war es ja sogar ganz okay, was ich aufs Papier brachte. So toll wie Nando behauptete war es sicher nicht, aber es war schön, zu wissen, dass es ihm so gefiel. Dass es überhaupt jemandem gefiel. Ich schaltete mein Handy wieder ein, als es plötzlich vibrierte, und sah, dass Nando mir eine neue Nachricht geschickt hatte. Hast du schonmal ein Bild von mir

gezeichnet? Ich zögerte. Die Bilder, die ich von ihm gezeichnet hatte, bedeuteten mir viel, denn sie waren in Phasen entstanden, in denen ich sehr emotional gewesen war. Sollte ich sie ihm zeigen? Sollte ich ihn anlügen? Ich entschied mich für einen Mittelweg. Ja, hab ich schonmal. Aber die sind nicht der Rede wert. Schon bald kam die Antwort. Darf ich mich davon auch selbst überzeugen? Dahinter ein lächelnder Smiley. Auch ich musste lächeln. Wie merkwürdig sympathisch der Smiley in dieser Situation

wirkte. Vielleicht, schrieb ich schließlich zurück. Ich war noch nicht sicher, ob ich ihm diese persönlichen Bilder würde zeigen können. Klingt schonmal ganz gut. Kommst du rüber zu uns? Meine Mutter hat Spaghetti gemacht. Von dieser spontanen Einladung war ich so überrascht, dass mir beinahe das Handy aus der Hand fiel. Dann dachte ich an Kayla. Daran, dass ich in letzter Zeit immer seltener an sie denken musste. Daran, ob das gut oder schlecht war. Warum?, fragte Nando in meinem

Kopf. Warum eigentlich nicht? Warum sollte ich nicht hingehen? Weil ich dann nicht zu Hause herumsitzen und wegen Kayla heulen konnte? Aber war nicht gerade das eigentlich ein Grund, hinzugehen? Ich überlegte. Zwei Möglichkeiten. Und ich entschied mich. Als ich kurze Zeit später vor der Praxis und gleichzeitig dem Wohnhaus meines Therapeuten stand, wartete Nando schon vor der Tür. „Hey“, er lächelte mich an, „schön, dass du gekommen bist.“ Ich lächelte zurück.

Dann gingen wir hinein. An der Treppe griff Nando vorsichtig und schüchtern grinsend nach meiner Hand. Dann rannte er los. Ich glaube nicht, dass ich je zuvor so schnell eine Treppe hinaufgerannt bin. Wir flogen geradezu nach oben, meine Hand in seiner Hand, meine Haut an seiner Haut, mein Lachen vermischt mit seinem. Als wir die Wohnung betraten, nein, in die Wohnung hineinfielen, stand das Essen schon auf dem Tisch. Immer noch lachend zog Nando mich hin. Doch mir verging das Lachen. Denn auf dem Tisch standen Spaghetti

Carbonara. Kaylas Lieblingsessen. Ich schluckte, während ich daran dachte, wie ich erst vor Kurzem mit meiner Mutter gekocht hatte. Wie meine Eltern danach ausgerastet waren und sich gegenseitig angeschrien hatten. Wie Frau Schlüter bei uns geklingelt und um Ruhe gebeten hatte. Ich dachte an meine Suizidgedanken und daran, wie ich zu Dr. Amico gegangen war. Was kam dann? Dann hatte ich Nando kennengelernt. Hatte diese Sache etwa doch etwas Gutes

gehabt? „Luna?“, Dr. Amicos Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Äh, Entschuldigung, was?“, ich sah ihn an. Er zog die Augenbrauen hoch, und in seinem Blick konnte ich erkennen, dass er sich Sorgen machte. Genau wie seine Frau und sein Sohn, wie ich ebenfalls in ihren Blicken lesen konnte. „Ich habe nur gefragt, ob du Spaghetti Carbonara magst“, wiederholte er. Ich nickte. Aus seinem Blick war die Sorge nicht geschwunden. Ich setzte mich an den Tisch, auf den Platz, an dem ich auch gestern schon

gesessen hatte. Auch sie setzten sich, aber ich merkte, dass sie sich immer noch fragten, ob etwas mit mir nicht stimmte. Daher versuchte ich, so viel wie möglich zu reden, um möglichst gut gelaunt zu wirken, und die drei unterstützten mich dabei noch mehr als ich erwartet hatte. Sie stellten Fragen, lachten mit mir, machten Witze. Es war wundervoll. Ich konnte sogar die Spaghetti essen, ohne anzufangen zu weinen. Es war zwar schwer, aber ich schaffte es. Die Gedanken an Kayla verfolgten mich, waren jedoch

erträglich. Nach dem Essen zeigte mir Nando sein Zimmer. „Es ist nicht immer so ordentlich“, er grinste, als er meinen ein wenig erstaunten Blick über die Regale schweifen sah. „Ich hab extra für dich aufgeräumt.“ Extra für mich? Wieso? Ich sprach die Frage nicht laut aus, aber sie geisterte noch lange durch meinen Kopf. Wieso war ich es plötzlich wert, dass man extra für mich aufräumte? Oder war es nur ein Scherz gewesen? Ich grübelte noch darüber nach, als wir wieder im Wohnzimmer

waren. Doch Nando schien von meinen Überlegungen nichts mitzubekommen, denn er zog mich nur zu den riesigen Bücherregalen und stellte eine recht einfache Frage: „Liest du gerne?“ Als ich nickte, schob er mich lächelnd zu einer alten klapprigen Holzleiter, die an dem einen Regal stand. „Such dir eins aus, es gibt hier alles. Wir schenken es dir.“ „Äh, danke, aber ihr müsst nicht-“ „Pass bei der Leiter auf“, er schnitt mir das Wort ab, ohne auf meinen Einwand zu hören, „die ist uralt und echt in keinem guten Zustand. Aber meine

Mutter liebt sie, also haben wir sie immer noch.“ Ich zögerte kurz, doch schließlich siegte die Neugier auf die vielen Bücher, die oben in den Regalen warteten. Vorsichtig kletterte ich auf die alte Holzleiter. Oben sah ich mich um. Ich las kurz in einigen Büchern. Erst weckte keines wirklich mein Interesse. Doch dann stieß ich auf ein Buch, dass meinen Namen trug. Luna. Ich zog das Buch aus dem Regal und schlug es auf. Schon bald hatte ich herausgefunden, dass es um eine Liebesgeschichte

zwischen der Mondgöttin Luna und einem Menschenjungen ging. Mich hatten solche Geschichten schon immer fasziniert. Ich presste das Buch an meine Brust. Das wollte ich nehmen. Das Buch, das meinen Namen trug. „Ich glaube, ich hab eins“, sagte ich, während ich wieder hinuntersteigen wollte. Dann wackelte die Leiter. Einmal kurz, aber heftig. Und ich fiel hinunter. Ich fiel direkt in Nandos Arme. Zog ihn mit zu Boden. Am Ende lagen wir beide da, ich auf

seinem Bauch, seine Hände auf meinen Hüften. Eine kurze Weile lagen wir einfach so da und starrten uns gegenseitig in die Augen. Schon wieder wurde ich von seinem Blick komplett eingenommen, vergaß alles um mich herum, sah nur noch dieses schokoladenbraune Leuchten. Doch dann fing Nando plötzlich an, lauthals zu lachen. Es war ein sehr schüchternes, verlegenes Lachen, als fände er die Situation nicht wirklich lustig, sondern einfach nur peinlich. Und das war es auch, wie ich da so lag, auf seinem warmen

Körper. Mit knallrotem Gesicht rutschte ich von ihm runter, und wir beide standen auf. „Tut mir leid“, stammelte ich und meine Gesichtsfarbe wurde noch dunkler. „Schon okay“, er lachte immer noch, „du kannst ja nichts dafür. Die Leiter ist einfach total alt und kaputt.“ Ich sah ihn an, und plötzlich musste ich auch lachen. So standen wir minutenlang da und lachten, bis uns die Bäuche weh taten – nicht, weil wir dir Situation komisch fanden, sondern, weil es so verdammt peinlich war. Irgendwann bemerkten wir Nandos Eltern, die in der Küche standen und uns

mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrten. Das machte die Situation noch peinlicher, also lachten wir noch lauter. „Was ist los mit den beiden?“, fragte mein Therapeut grinsend seine Frau, während wir vergeblich versuchten, unser Lachen wieder halbwegs unter Kontrolle zu bekommen. „Ich habe keine Ahnung“, auch sie grinste, „aber es ist irgendwie süß.“ Nandos Lachen erstarb bei den Worten seiner Mutter abrupt, und er sah mir prüfend in die Augen. Dann nahm er zögerlich meine Hand. Zog mich näher an sich heran. Und schob meinen linken Ärmel

hoch. Entblößte meine selbst zugefügten Wunden. Seine Eltern konnten meinen zerkratzten Arm nicht sehen, aber er sah sie. Und fuhr mit dem Zeigefinger über sie. Streichelte die sehr langsam verheilenden Verletzungen. Ich wollte irgendetwas sagen, doch es kam kein Wort aus meinem Mund heraus. Dann sah ich die Tränen in seinen Augen, und ich war so... gerührt und schockiert und voller Zuneigung zu diesem Jungen, dass ich mit einem Mal ebenfalls kurz davor war, zu weinen. „Das ist so schrecklich“, flüsterte Nando schließlich, während seine Eltern sich

wieder dem Abwaschen des Geschirrs zuwandten. „Das ist so schrecklich, dass du so leiden musst. Kein Mensch hat das verdient, aber du am allerwenigsten.“ Ich hatte keine Ahnung, was er damit sagen wollte, aber es klang so wunderschön, dass die erste Träne sich aus meinem Augenwinkel löste und langsam über meine Wange floss. Nando legte seine Hand an mein Gesicht und wischte sie weg, mit einer sanften, sehr ruhigen Bewegung. Dann sah er mir erneut tief in die Augen. Wir wurden von der Stimme seines Vaters unterbrochen. „Welches Buch hast du dir denn ausgesucht?“, wollte er

wissen. Ich riss mich von Nandos Blick los und wandte mich Dr. Amico zu. „Es heißt Luna“, erwiderte ich. „Ach, das ist ein wundervolles Buch“, schwärmte er direkt los, „es wird dir sicher gefallen. Es passt auch irgendwie zu dir. Nicht nur wegen des Titels.“ Er lächelte mich an. Ich lächelte zurück, doch in meinem Kopf war inzwischen nur noch Platz für Nandos leuchtende Augen, seine sanfte Stimme und den Druck seiner Hände auf meinen Hüften.

13

Nach diesem kleinen „Zwischenfall“ ging ich sehr bald, und innerhalb der nächsten Tage sah ich Nando nicht noch einmal. Manchmal schrieben wir, aber es war dann eher so oberflächlicher Smalltalk. Ich dachte jedoch sehr oft an ihn, an das Leuchten in seinen Augen, an seine sanfte Stimme, an all das, und oft wünschte ich mir, er wäre bei mir. Wenn meine Eltern sich wieder einmal stritten, wenn Kaylas alte Freunde mich in der Schule voller Verachtung ansahen, wenn ich wieder eine meiner depressiven Phasen hatte und von schlechtem Gewissen und Suizidgedanken geplagt

wurde. Auch, wenn ich mit Enya sprach, wenn wir in der Schule Zeit mit Miriam, Laura und Chiara verbrachten, immer dann, eigentlich also in jedem einzelnen Moment in diesen Tagen, wünschte ich mir, dass Nando bei mir wäre. Es war Samstag, als ich schließlich durch den vibrierenden Nachrichtenton meines Handys geweckt wurde. Nando. Hey, bist du schon wach? Ja, wieso?, schrieb ich zurück. Naja, ich hätte Lust, mal dein Zimmer zu sehen. Außerdem haben wir uns jetzt schon viel zu lange nicht gesehen. Wenn

du einverstanden bist, komme ich zu dir. Ich wollte mir doch eh mal deine Zeichnungen ansehen, erinnerst du dich? Ich zögerte. Meine Eltern waren beide zu Hause, ich wusste nicht, ob ich wollte, dass er sie sah. Aber andererseits wollte ich ihn wiedersehen, und ich wollte, dass er endlich einen Einblick in mein Leben bekam. Ich wollte wissen, ob er mich, wenn er mich näher kennen würde, so sehr hassen und verabscheuen würde, wie es alle anderen taten. Und auch, wenn das Risiko sehr hoch war – ich war bereit, es einzugehen. Ich wollte einfach nur herausfinden, woran

ich war. Klar, komm rüber, schrieb ich also zurück, und dahinter die Adresse. Und plötzlich war ich so aufgeregt wie noch nie in meinem Leben. Weil ich noch nie jemanden nach Hause eingeladen hatte, und schon gar nicht einen Jungen wie Nando. Es dauerte eine knappe Viertelstunde, bis Nando bei mir war. In dieser Zeit duschte ich so schnell wie noch nie, zog mich hastig an und räumte mein Zimmer ein wenig auf. Als die Klingel ertönte, zuckte ich so heftig zusammen, dass mir beinahe das Handy aus der Hand fiel, dass ich gerade

zum Aufladen an eine Steckdose anschließen wollte. Ich stürzte nach unten, bremste gut einen Meter vor der Tür ab und holte tief Luft. Dann öffnete ich die Tür. Nando stand vor der Tür und lächelte sein strahlendes Lächeln. „Hey“, begrüßte ich ihn, „komm doch rein.“ Er schob sich an mir vorbei ins Haus und sah sich um. „Sieht echt cool aus“, er grinste, „ihr habt Stil.“ „Danke“, ich musste lachen, „aber eure Wohnung gefällt mir besser.“ Von oben erklang ein lautes

Schluchzen. Meine Mutter. „Wer war das?“, fragte Nando mit gerunzelter Stirn. „Meine Mutter“, erwiderte ich, „aber mach dir keine Sorgen, mein Vater ist bei ihr, und heute streiten sie sich ausnahmsweise mal nicht.“ Nando nickte. „Na gut“, er lächelte wieder, „wo ist dein Zimmer?“ Ich führte ihn nach oben. In meinem Zimmer angekommen fragte er direkt nach den Bildern. „Du musst sie mir natürlich nicht zeigen, wenn du nicht willst. Aber ich würde mich echt freuen. Du kannst toll

zeichnen.“ Ich wollte eigentlich eine Weile überlegen, aber seine sanfte Stimme und das Leuchten in seinen Augen überzeugten mich innerhalb von Sekunden. Ohne lange nachzudenken ging ich zu meinem Schreibtisch und öffnete die Mappe, in der ich all meine Zeichnungen aufbewahrte. Ich zog die obersten fünf Bilder heraus. Das sollte reichen, um ihm einen Eindruck zu verschaffen. Unter den Bildern waren das eine Porträt von Nando, das Bild, das ich ihm bereits geschickt hatte, und ein Bild von Enya, sowie zwei Bilder von meinen

streitenden Eltern. Ich hielt sie ihm hin, und er nahm sie so behutsam, als wären sie so zerbrechlich wie Porzellan. Dann sah er sie sich an. Schweigend. Bis er bei dem letzten Bild ankam, dem Porträt von sich selbst. Er betrachtete es mehrere Minuten. Dann sah er mir in die Augen. „Das ist... das ist fantastisch. Wow... wie... wie machst du das? Das sieht so... lebendig aus. Du bist genial, Luna. Das ist wundervoll. Du kannst wirklich unglaublich gut zeichnen!“ Kein einziges Wort, das auch nur entfernt so klang wie das, was Kayla gesagt hatte.

Kein einziges. Ich spürte, wie ich knallrot wurde. „Meinst du das ernst? Es gefällt dir?“ „Ob es mir gefällt? Natürlich! Das heißt, es gefällt mir nicht einfach nur, es... verzaubert mich. Und zwar komplett. Das ist unglaublich, Luna.“ Hatte er das gerade wirklich gesagt? Ich war noch völlig durch den Wind von seiner Begeisterung. So bemerkte ich gar nicht, wie sein Blick durch mein Zimmer über Bett und Kleiderschrank bis hin zum Schreibtisch wanderte und dort schließlich hängen blieb. Und plötzlich stand er da und hatte das

Bild von Kayla in der Hand und fragte neugierig: „Wer ist das?“ „Das ist meine Schwester“, antwortete ich, „Kayla.“ „Das ist deine Schwester?“, seine Stimme klang sehr irritiert und überrascht, was ich wiederum nur ein wenig wunderte. „Ja... ich weiß, dass wir uns nicht wirklich ähnlich sehen. Obwohl wir Zwillinge sind.“ „Nein, das meine ich gar nicht...“, plötzlich wurde Nando sehr rot und sah mir immer wieder kurz in die Augen, nur um dann wieder schnell wegzusehen. „Was meinst du dann? Was überrascht dich an dem

Bild?“ „Naja... du... du meintest doch, sie wäre so schön...“, er verstummte abrupt, während ich nun sehr irritiert war. „Findest du etwa nicht, dass sie wunderschön aussieht?“ Dass wir die ganze Zeit im Präsens von ihr sprachen, war in diesem Moment egal. Ich wollte wissen, was er dachte. „Naja“, er stellte das Bild wieder zurück auf meinen Schreibtisch und kam mir ein wenig näher, „also... sie ist schon hübsch, aber... im Vergleich zu dir“, wieder verstummte er, dieses Mal jedoch nur sehr kurz, „Also im Vergleich zu dir ist sie echt nicht so wahnsinnig hübsch, finde

ich.“ Er atmete tief durch, während ich so überrascht wie noch nie in meinem Leben einen Schritt zurücktrat. „Echt jetzt? Du findest mich schöner als sie?“ Er sah mir tief in die Augen. Kam mir noch näher. „Ja, Luna. Ich finde dich sehr schön. Wirklich. Du bist...“, er lächelte, „Du bist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe. Innerlich und äußerlich.“ Das sagte er, und dann kam er mir noch näher. Ganz kurz musste ich daran denken, dass uns der Baum beim Unfall ebenfalls immer näher gekommen

war. Doch der Gedanke verschwand ebenso schnell wieder aus meinem Kopf, wie er gekommen war. Denn nun küsste Nando mich. Und plötzlich gab es nur noch seine Lippen auf meinen Lippen, seine Hände in meinem Haar, seinen heißen Atem in meinem Gesicht. Es war ein langer Kuss, und er war wunderschön. Nando küsste und küsste und küsste mich, und irgendwann löste er sich ein wenig von mir, nur wenige Millimeter, und sah mir in die Augen und hauchte mir ins Ohr: „Ich liebe dich, Luna.

Mondmädchen.“ Und bevor ich etwas erwidern konnte, küsste er mich wieder, presste seinen Mund auf meinen Mund, strich dabei zärtlich mit seinen langen Fingern über meinen Nacken. Dann ging die Tür auf. Zufall ist etwas Verrücktes. Meine Mutter hatte mein Zimmer seit Monaten nicht mehr betreten. Und nun kam sie rein zufällig genau in dem Moment hinein, als er mich küsste. Ja, meine Mutter kam herein. Blieb in der Tür stehen. Und fing an zu schreien, während Nando

und ich erschrocken auseinanderstoben. „Luna!“, rief sie völlig empört aus, „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Deine Schwester ist noch keine zwei Monate tot, und du machst schon mit irgendwelchen Typen herum! Spinnst du denn eigentlich? Hab gefälligst ein bisschen Respekt vor Kayla! Und du, junger Mann, wer auch immer du bist, verlässt ganz schnell mein Haus!“ Ich realisierte in diesem Moment mehrere Dinge: Erstens hatte meine Mutter offensichtlich verstanden, dass Kayla tot war. Ich vermutete, dass mein Vater das in den letzten Stunden bewirkt hatte. Zweitens verabscheute sie mich immer

noch. Und drittens war Nando gerade dabei, das Zimmer zu verlassen. „Nando, warte!“, rief ich, bevor ich darüber nachdenken konnte, doch meine Mutter schob sich blitzschnell zwischen uns. „Nein! Er wartet nicht! Er verlässt jetzt dieses Haus! Und du, Luna, bleibst die nächsten Stunden in deinem Zimmer!“ Dann zog sie die Tür zu, und das letzte, was ich von Nando sehen konnte, war der verletzte Blick in seinen Augen, die mich traurig und voller Sehnsucht ansahen. Ich weiß, ich hätte theoretisch hinter ihm her rennen können, meine Mutter hatte

meine Zimmertür ja nicht abgeschlossen. Aber was dann? Was wäre dann gewesen? Ich hatte Angst. Angst, dass er sauer auf mich wäre, dass er mich hassen und verabscheuen würde. Und Gott, es war mir so peinlich, was meine Mutter da getan hatte. So unendlich peinlich. Und deshalb rannte ich nicht hinter Nando her, sondern blieb in meinem Zimmer, verkroch mich in meinem Bett und traute mich nicht einmal, aus dem Fenster zu sehen. Ein paar Minuten nachdem Nando gegangen war, ging ich hinunter zu

meinen Eltern. Ich fand sie in der Küche, sie saßen nebeneinander am Esstisch und schwiegen sich an. Es machte mich wütend, sie da so sitzen zu sehen, so als wäre nichts passiert, als hätten sie nicht gerade ihn aus dem Haus geworfen. Es machte mich so wütend, dass ich etwas tat, was ich noch nie in meinem Leben getan hatte: Ich konfrontierte sie damit. Und fing einen Streit an. „Warum hast du das gemacht?“, fragte ich meine Mutter zornig, „Warum hast du ihn rausgeschickt? Und sag jetzt nicht, dass ich unfair Kayla gegenüber bin.

Wollt ihr was wissen? Ich habe mich geritzt. Mit einer Rasierklinge. Nur, weil ich Kayla so vermisst habe. Und, weil ich so ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich trotz ihres Todes für einen kurzen Moment glücklich war. Deshalb hab ich mich selbst verletzt. Ich bin nicht unfair Kayla gegenüber. Ich bin unfair mir gegenüber. Ich hatte mein ganzes Leben lang keine richtigen Freunde. Ich hatte immer nur sie. Und jetzt ist sie seit Wochen tot, und ich habe eine beste Freundin und ein paar andere Freunde gefunden, und ein wundervoller Junge hat mich heute geküsst. Ich vermisse Kayla so

schrecklich, und ich hasse mich immer noch für alles, was ich bin und was ich tue, aber erlaubt bitte eurer Tochter, trotz allem so glücklich, oder wenigstens so zufrieden wie möglich zu werden. Und das geht nicht ohne Freunde. Für mich zumindest nicht.“ Das alles sagte ich ihnen, und zwar in solch einer Lautstärke und mit solch einem Selbstbewusstsein, dass ich über mich selbst erschrak. Aber irgendetwas hatte Nandos Kuss mit mir gemacht, und dieses Etwas war offensichtlich sehr mächtig. Dieser neue Mut und dieses neue Selbstbewusstsein nahmen meinen ganzen Körper ein, und ich fühlte mich

durch meinen rauchenden Zorn so stark wie nie zuvor in meinem Leben. „Luna“, meine Mutter versuchte irritiert über meinen Ausbruch, mich zu besänftigen, „beruhige dich mal. Komm wieder runter. Mir sind einfach die Sicherungen durchgebrannt, ich meine, dein Vater und ich kennen diesen Jungen doch gar nicht. Und du stehst in deinem Zimmer und küsst den, und deine Schwester... die wird nie wieder einen Jungen küssen können, sie wird nie wieder irgendwas machen können, verstehst du das? Natürlich macht mich das wütend, wenn ich sehe wie du lebst und glücklich bist, während sie-“ „Wie ich lebe und glücklich bin?!“, ich

wurde noch wütender, „Ich bin verdammt nochmal nicht glücklich! Momentan bin ich noch verdammt unglücklich, jeder Atemzug tut weh, obwohl es schon so viel besser geworden ist. Ich bin nur in kurzen Momenten glücklich, versteht ihr? Ich hasse mich selbst und ich verletze mich und ich habe Suizidgedanken... ich bin nicht glücklich! Und hört bloß auf, mir ständig vorzuwerfen, dass ich überlebt habe und Kayla nicht! Das ist einfach nur scheiße!“ Tränen schossen mir in die Augen, während ich meine Eltern voller Zorn

ansah. Ich war noch nie in meinem Leben so aufgebracht gewesen, nicht einmal unmittelbar nach Kaylas Tod. Doch das Verhalten meiner Eltern machte mich einfach so wütend, abgesehen davon, dass ich immer noch total aufgewühlt durch Nandos Kuss war. Ich merkte nun, dass weder mein Vater noch meine Mutter noch etwas auf meine Rede erwidern würden – sie sahen mich völlig schockiert und auch ein wenig verletzt an und schienen genauso überrascht wie ich über meinen plötzlichen Wandel. Ich drehte mich um und ging ohne ein weiteres Wort hoch in mein

Zimmer. Dort legte ich mich in mein Bett und verschränkte frustriert die Arme hinter dem Kopf. Und dachte an Nando. An den Kuss. Wie alles um mich herum verschwunden war, wie es nur noch ihn und mich gegeben hatte. Ich dachte an seine weichen Lippen, an seine glatte Haut, an sein seidiges Haar. An seine schlanken Finger in meinem Nacken. Und dann dachte ich an die Worte, die er mir mit seiner unendlich sanften Stimme ins Ohr gehaucht hatte. Ich liebe dich, Luna.

Mondmädchen. Und in diesem Moment verstand ich, dass ich ihn auch liebte. Ich liebte Nando mit meinem ganzen Körper, meinem ganzen Verstand, meiner ganzen Seele. Ich liebte ihn nicht so, wie ich Kayla geliebt hatte, so... unehrlich und eingeschüchtert. Ich liebte ihn nicht als die Person, die ich verehrte und der ich mich unterordnete. Ich würde mir auch nicht von ihm die Worte an den Kopf werfen lassen, mit denen Kayla mich betitelt hatte. Aber ich liebte ihn, mehr als alles andere, ich liebte seine Stimme und sein

Aussehen und sein Inneres, wie er sich bewegte und wie er sprach, alles an ihm liebte ich. Und das wurde mir in genau diesem Moment bewusst, als ich einfach in meinem Bett lag und nachdachte und meine Eltern so sehr hasste und verabscheute, wie ich es auch bei mir tat

14

Erst gegen drei Uhr nachts fand ich den Mut, meine Scham und Angst zu überwinden und Nando eine Nachricht zu schicken. Hey... Es dauerte keine Minute, bis eine Antwort kam, ganz so, als hätte er auf mich gewartet. Hallo... alles okay bei dir? Ja, schrieb ich zurück, können wir reden? Worüber? Über gestern natürlich. Bei dir in der Nähe ist doch so ein Park. In fünfzehn Minuten auf dem Spielplatz,

okay? Das überraschte mich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er sofort ein Treffen mit mir wollen würde. Aber da ich ihn auf jeden Fall dringend sprechen wollte, nein, musste, stimmte ich zu, zog mir Schuhe an und ging los. Elf Minuten später war ich da. Ich sah eine große Gestalt am Ende der Rutsche stehen, und als ich vorsichtig näher kam, erkannte ich, dass es Nando war. Ich dachte an das letzte Mal, als ich nachts hier gewesen war. Wobei es auch wieder nicht so spät gewesen war wie jetzt. Damals hatte ich Nando noch gar nicht

gekannt. Aber genau wie jetzt war ich wütend und verzweifelt und niedergeschlagen gewesen, und genau wie jetzt trugen meine Eltern die Schuld. Ich ging auf Nando zu. Die Nacht hatte ihren dichten schwarzen Mantel über uns ausgebreitet, der Himmel wurde von ein paar wenigen Sternen geschmückt, die hell auf uns herab strahlten. „Hallo“, sagte ich leise. Nando hob den Kopf und sah mich an. „Na“, er lächelte ein wenig, doch das Leuchten, das sonst in seinen Augen strahlte, war dieses mal nur ganz

schwach. Und das tat mir so leid, das plötzlich alles aus mir heraussprudelte. „Nando, es... es tut mir leid, was da vorhin passiert ist. Weißt du, meine Eltern hassen mich dafür, dass ich den Unfall überlebt habe, während Kayla gestorben ist. Sie gönnen es mir einfach nicht, wieder glücklich zu werden. Deshalb hat meine Mutter dich aus dem Haus geschickt. Sie kann es nicht ertragen, dass ich... den Jungen küsse, den ich... liebe, während Kayla nie wieder irgendjemanden küssen wird.“ Ich atmete tief durch und sah ihn an. Hatte er das Liebesgeständnis, das ich ihm gerade gemacht hatte,

bemerkt? Natürlich hatte er das. „Der Junge, den du liebst?“, er kam mir ein wenig näher, „Bin ich das denn wirklich?“ Erneut atmete ich tief durch. Dann nickte ich schüchtern. Und dann küsste Nando mich ein zweites Mal. Wieder gab es nur noch ihn und mich, seine Lippen, seine Haut, sein Haar, seinen Duft und seinen Atem, nur noch ihn und mich, ihn und mich, ihn und mich. Dieses Mal küsste er mich nur kurz, dann löste er sich wieder von mir und sah mir in die

Augen. Das Leuchten in ihnen war zurückgekehrt. „Luna“, sagte er lächelnd, „Mondmädchen. Du denkst, ich bin sauer auf dich, oder? Weil deine Mutter mich aus dem Haus geworfen hat. Aber das bin ich nicht. Ich kann überhaupt nicht sauer auf dich sein. Abgesehen davon, dass ich doch weiß, dass du nichts dafür kannst. Das war nur die Schuld deiner Mutter, das hab ich verstanden.“ Ich sah ihm in die Augen, verlor mich darin, verschwand in diesem leuchtenden Braun. Erst, als das Schweigen anfing, unangenehm zu werden, fiel mir auf,

dass ich eigentlich etwas sagen sollte. „Äh... du bist also echt nicht sauer?“ „Luna“, seine Stimme war so sanft, so sanft, „ich kann nicht sauer auf dich sein. Selbst wenn ich wollte, es geht einfach nicht. Ich liebe dich so sehr... mehr als alles andere auf dieser Welt. Du bist in den wenigen Wochen, die wir uns jetzt kennen, zum Mittelpunkt meiner Gedanken geworden. Ich muss ständig an dich denken, du bist überall. Nachts besuchst du mich in meinen Träumen, wenn ich überhaupt schlafen kann und mich die Gedanken an dich nicht die ganze Nacht wachhalten. Und ich bin gerade so verdammt nervös, weil ich dir das alles sage, ich habe nie damit

gerechnet, jemals so starke Gefühle für einen anderen Menschen zu entwickeln. Und ich habe immer noch Angst, dass du sie doch nicht erwiderst, dass du mich doch nicht so liebst wie ich dich liebe, deshalb will ich es dir eigentlich auch gar nicht sagen, aber in mir behalten kann ich es auch nicht mehr, ich muss es dir sagen. Ich liebe dich, seit ich dich das erste Mal gesehen habe. Du hast mich direkt verzaubert. Erst nur mit deiner äußeren Schönheit, später dann auch mit der inneren. Und es ist mir egal, wer da was über Kayla sagt, wer euch mit einander vergleicht, das interessiert mich alles nicht, die verstehen alle einfach eine

wichtige Sache nicht: Dich, Luna, dich kann niemand übertreffen. Auch nicht Kayla. Ich kannte sie nicht, aber ich kenne dich, und ich bin so unendlich froh darüber. Und vielleicht ist das egoistisch von mir, denn schließlich haben wir uns nur wegen des Todes deiner Schwester kennengelernt, aber ich kann nicht anders, als froh darüber zu sein. Du bist so wundervoll, Luna, und es ist schrecklich, dass du das nicht sehen kannst. Noch nicht, denn ich werde dir dabei helfen, es zu erkennen. Und ich werde nicht ruhen, bis du es

endlich verstanden hast. Denn ich liebe dich.“ Wieder sah er mir in die Augen. Ich konnte kaum die Umrisse seines Gesichtes erkennen, so dunkel war es. Nur die Sterne spendeten uns ihr Licht. Was er gesagt hatte, raubte mir den Atem. Plötzlich musste ich erst lächeln, dann leise lachen. Nicht, weil die Situation lustig war, sondern, weil ich mit einem Mal wieder glücklich wurde. Wirklich richtig glücklich. Nandos Worte waren so wunderschön gewesen, sie hatten so viel in mir bewegt, dass sie alle schlechten Gedanken einfach

wegwischten. Die Suizidgedanken, die wieder dagewesen waren, die Gedanken an meine Eltern, die Wut, der Hass, das schlechte Gewissen wegen Kayla und die Sehnsucht nach ihr. All das wurde nun überdeckt von den Worten, die Nando mir in dieser Nacht gesagt hatte. Sein Liebesgeständnis legte sich über mein Herz wie ein wärmender Mantel. Genau wie meine Einsicht, dass ich ihn ebenfalls so liebte. Ich liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt, ja, vielleicht liebte ich ihn sogar mehr als ich Kayla geliebt hatte. Auf jeden Fall liebte ich ihn anders als

sie. Und meine Liebe zu Nando gefiel mir wesentlich besser als meine Liebe zu Kayla. Sie machte mich glücklich. „Danke“, brachte ich ein wenig mühevoll hervor, „danke für deine Worte. Sie bedeuten mir unglaublich viel. Und... ich liebe dich genauso stark. Du bist... alles für mich. Ich liebe dich und ich will dich und ich brauche dich. Nur dich.“ Nun war es an mir, ihn zu küssen. Ich trat einen Schritt näher an ihn heran und presste meine Lippen auf seine, öffnete sie leicht, legte dabei die Arme um seinen Hals. Er legte seine Hände auf meine Hüften

und erwiderte meinen Kuss. Ich war so... glücklich. Ich hatte Kayla verloren, aber ich hatte nun ihn. Und vielleicht, nur vielleicht war seine Gegenwart sogar besser für mich als ihre es gewesen war. Weil sie mich glücklicher machte. Wir blieben noch eine knappe halbe Stunde zusammen, redeten, küssten uns. Was wir einander sagten? Hauptsächlich, dass wir uns liebten. Es hatte etwas sehr, sehr Romantisches, so unter den Sternen zu sitzen, aber ich konnte mir gut vorstellen, dass andere es einfach nur widerlich schnulzenhaft

gefunden hätten. Das brachte mich hin und wieder zum Lachen. Irgendwann merkte Nando an meinem ständigen Gähnen, dass ich müde wurde, und bot an, mich nach Hause zu bringen. Ich stimmte zu, und gemeinsam liefen wir zu meinem Haus. Vor der Tür umarmte er mich ganz fest, gab mir noch einen letzten Kuss und flüsterte mir ins Ohr: „Bis später, Mondmädchen. Ich liebe dich.“ „Bis später“, hauchte ich zurück, „ich liebe dich auch.“ Dann drehte mein neuer Freund sich um und verschwand in die

Dunkelheit. Obwohl ich in dieser Nacht vor Aufregung, Glück und Freude kein Auge zubekam, war ich am nächsten Morgen kaum noch müde. So gut gelaunt wie schon ewig nicht mehr machte ich mich fertig, wich meinen Eltern demonstrativ aus und ging zur Schule. In der Pause erzählte ich Enya, was passiert war, auch, wie meine Mutter Nando aus dem Haus geworfen hatte. Sie begann, meine Mutter dafür zu hassen, wie sie mich behandelte, aber sie fand das, was mir letzte Nacht passiert war, so süß und romantisch, dass es ihren

Zorn auf meine Eltern fast komplett überdeckte. Sie freute sich sehr für mich, und den ganzen Tag über trug sie wieder dieses Grinsen im Gesicht. Ansonsten erzählte ich niemandem, dass ich nun mit Nando zusammen war – es wusste ja auch außer Enya keiner von ihm. Als ich nach der Schule einen Blick auf mein Handy warf, sah ich, dass ich eine Nachricht von Nando bekommen hatte. Hey, Mondmädchen, kommst du rüber zu mir? Ich musste lächeln. Dieses Mal überlegte ich kaum, sondern

verabschiedete mich hastig von Enya, stieg auf mein Fahrrad und fuhr los. Kurze Zeit später stand ich vor der Praxis und hatte mein Fahrrad angeschlossen. Suchend sah ich mich um. Nando war nirgends zu sehen. Ich betrat das gelb gestrichene Haus. Im Wartezimmer saßen eine Frau und daneben ein etwa siebenjähriges Mädchen. „Nando?“, fragte ich leise. Die Frau und das Mädchen, das wahrscheinlich ihre Tochter war, sahen mich irritiert an. Ich ging zu der Tür, die zur Wohnung der Familie Amico führte, öffnete sie und trat vor die

Treppe. Kaum, dass ich die Tür wieder geschlossen hatte, wurde ich plötzlich von hinten gepackt. Arme schlossen sich um meinen Rücken und Bauch, ein lautes und fröhliches Lachen ertönte. Nando. Ich lächelte, als ich sein ausgelassenes Lachen erkannte. Dann schrie ich überrascht auf, als er plötzlich seine Arme unter meine Beine schob und mich hochhob. Lachend schlang ich meine Arme um seinen Hals und legte mein Gesicht an seine Schulter. Er stürzte mit mir auf dem Arm die Treppe hoch, oben setzte er mich immer

noch lachend ab und gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. „Schön, dass du gekommen bist, mein Mondmädchen.“ Ich lächelte ihn an. „Ich finde es auch sehr schön.“ Wir betraten die Wohnung und setzten uns auf die breite Couch. „Okay“, Nando lächelte mich an, „lass uns ein kleines Spiel spielen.“ Neugierig zog ich die Augenbrauen hoch. „Was für ein Spiel?“ „Ich frage, du antwortest. Du fragst, ich antworte. Immer abwechselnd – okay?“ „Okay“, ich nickte, „dann fang

an.“ „Lieblingstier?“ „Hund. Glaubst du an Gott?“ „Ja. Du?“ „Ich auch“, ich überlegte kurz, „oder zumindest glaube ich daran, dass es irgendetwas Göttliches gibt.“ Er lächelte. „Das gefällt mir. Nächste Frage?“ „Deine größte Angst?“ Er dachte nach. Dann sah er mich an. Wieder einmal versank ich in seinen leuchtenden Augen. Ich hörte seine Worte nur wie durch eine dicke Wand, dennoch ließen sie mein Herz schmelzen vor Glück. „Dich zu

verlieren.“ Ich überlegte noch, was ich darauf antworten sollte, da hatte Nando bereits lächelnd seine nächste Frage gestellt: „Möchtest du mich küssen?“ Und meine Antwort bestand nicht aus Worten, sondern aus einem sehr langen, sehr sanften Kuss, den ich ihm auf seine weichen Lippen drückte. Er legte seine Hände auf meine Hüften und zog mich näher an sich heran, und dass seine Eltern in diesem völlig unangebrachten und sehr intimen Moment hereinkamen, bemerkten wir erst nach einem erstaunten „Huch“, seiner Mutter. Blitzartig löste ich mich von Nando und

sah mit hochrotem Gesicht zu Dr. Amico und seiner Frau auf. Mein Therapeut hatte die Augenbrauen zusammengezogen und war offenbar sehr erstaunt darüber, dass eine seiner Patientinnen seinen Sohn küsste. „Was ist denn hier los?“, fragte er nach einer kurzen Pause, und aus seiner Stimme konnte ich zu meiner Erleichterung Neugier und vielleicht sogar ein bisschen Belustigung, jedoch keine Verärgerung heraushören. Nando grinste ihn frech an. „Ich habe Spaß mit deiner Lieblingspatientin, was sonst?“ Ich musste lachen. „Sehr witzig. Aber... seid ihr zusammen

oder so?“ Nando und ich wechselten einen Blick. Er lächelte, dann nickte er. „Ja, das... das sind wir.“ Auch ich nickte zustimmend, und das war ein wunderschönes Gefühl. Ich hatte einen Freund. Nandos Eltern wirkten erstaunt, jedoch nicht unerfreut darüber, dass ich die Freundin ihres Sohnes war. Es beruhigte mich, dass sie mich zu mögen schienen. Nando liebte mich, seine Eltern hatten kein Problem mit mir, dann waren da noch Enya und die anderen – vielleicht, nur vielleicht war ich doch gar nicht so ein schlechter

Mensch. Vielleicht war ich sogar ganz okay. Nur vielleicht. Ich verbrachte in der folgenden Woche viel Zeit mit Nando. Wir gingen ins Kino, in einen Park, picknickten, küssten uns. Manchmal trafen wir uns auch mit Enya zusammen und gingen ein Eis essen oder etwas in der Art. Außerdem lernte ich Moritz und Josua kennen, zwei von Nandos besten Freunden. Sie verhielten sich mir gegenüber sehr nett und humorvoll und wir verstanden uns auf Anhieb gut. Sie erzählten mir

einiges über Nando, zum Beispiel, dass ich seine erste richtige Freundin war, was mich auf eine merkwürdige Weise in Hochstimmung versetzte. Es war eine schöne, eine glückliche Woche, in der ich kaum an Kayla denken musste. Doch dann war ich wieder bei Dr. Amico. Und der schlug vor, ich solle Anton besuchen gehen. Der Freund meiner Schwester war nach wie vor im Krankenhaus, sein Zustand war jedoch stabil. Mehr wusste ich nicht, und eigentlich hatte es mich bis jetzt auch gar nicht

interessiert. Doch nun war ich irgendwie neugierig auf ihn. Auf das, was er sagen würde. Würde er mich beleidigen, so wie immer? Über mich lachen, ebenfalls nichts Neues? Oder würde er mich einfach wieder wegschicken? Was auch immer er sagen würde, ich fühlte mich merkwürdigerweise gewappnet dafür. Daher lehnte ich sogar ab, als sowohl Nando als auch Enya anboten, mich zu begleiten, nachdem ich ihnen von meinem Vorhaben berichtet hatte. Der Besuch bei Anton fühlte sich wie

etwas an, was ich alleine schaffen musste. Und auch konnte. Ich fuhr mit dem Fahrrad zum Krankenhaus und fragte nach Antons Zimmernummer. Eine Schwester nannte mir die Nummer 37. Als ich vor der Tür stand, die die silberfarbene Zahl 37 auf dem weißen Holz trug, begann mein Herz, schneller zu schlagen. Was würde mich wohl hinter dieser Tür erwarten? Ich klopfte an. „Ja?“, ertönte eine harte, arrogante, aber

auch ein wenig schwache Stimme, an der ich Anton sofort erkannte. Ich öffnete die Tür, schob mich hindurch und ging ein paar Schritte vorwärts, bis ich ihn in dem weißen Bett liegen sehen konnte. Sein schwarzes Haar, durch das Kayla immer mit ihren langen, schlanken Fingern gefahren war, war zerzaust und ein wenig fettig. Seine dunklen Augen wirkten stumpf und glanzlos. Er trug einen weißen Verband um den Kopf, sein rechter Arm war in einer Schlinge. Er trug ein weißes Krankenhaushemd mit himmelblauen Mustern. Als er mich erblickte, blitzten seine Augen verwirrt und überrascht

auf. „Luna... was... was machst du denn hier?“ Damit hatte ich nicht wirklich gerechnet. Eher mit einem Was willst du, verschwinde oder einem Geh mir bloß aus den Augen. Hinzukam, dass ich Anton noch nie hatte stottern hören. Normalerweise sprach er immer sehr selbstbewusst, als wüsste er genau, dass er die Oberhand hatte. „Hallo Anton“, meine Stimme zitterte, allerdings nur ganz leicht, „ich dachte, ich komme dich mal besuchen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten setzte ich mich auf einen Stuhl an dem einzigen Fenster im Raum und beobachtete

ihn. Dann überlegte ich, was ich als nächstes sagen sollte. Ihn zu fragen, wie es ihm ging, kam mir blöd vor, denn es interessierte mich kein Stück. Dass er am Leben war, konnte ich ja selbst sehen. Schließlich murmelte ich das, was er sowieso längst wusste – was aber auch der einzige Grund für meinen Besuch bei ihm war: „Kayla ist tot.“ Er nickte. „Ich weiß.“ Ich dachte daran, was Nando mir gesagt hatte. Sag einfach genau das, was du

denkst. Also stellte ich Anton eine Frage. „Vermisst du sie?“ „Natürlich vermisse ich sie! Sie war alles für mich! Sie war die Liebe meines Lebens!“ Ich überlegte, ob das stimmen konnte. Und ich kam zu dem Schluss, dass es durchaus möglich war. Anton war schrecklich arrogant, eingebildet und eitel, aber für Kayla hatte er wirklich alles getan. Er hatte auf sie aufgepasst, hatte dafür gesorgt, dass es ihr immer gut ging. Nachdem ich kurz darüber nachgedacht hatte, war ich mir plötzlich sicher, dass Anton meine Schwester geliebt hatte.

Sehr sogar. Dann musste ich plötzlich an die Nacht auf unseren sechzehnten Geburtstag denken. Die Nacht, in der Kayla Anton das erste Mal betrogen hatte. Ich dachte daran, wie ich sie mit Nikolai, drei Jahre älter als wir, im Bett gesehen hatte, ein eng umschlungenes Gemisch von zwei Körpern, die Lippen fest aufeinander gepresst. Die beiden hatten mich nicht bemerkt, und ich war wortlos wieder aus dem Zimmer verschwunden. Damals waren Kayla und Anton gerade einmal einen Monat zusammen gewesen. Ich sah den verletzten Jungen im

Krankenhausbett an und dachte an die insgesamt sechs Male, in denen Kayla mir während der Beziehung mit ihm von irgendwelchen Eroberungen erzählt hatte. Sollte ich ihm von ihren Affären erzählen? Ich entschied mich dagegen. Erstens schien er schon genug zu leiden, zweitens würde er mir wahrscheinlich sowieso nicht glauben. Beziehungsweise glauben wollen. Einige Minuten sahen Anton und ich uns einfach nur an. Dann fragte er erstaunlicherweise: „Wie geht es dir,

Luna?“ Ich überlegte. Die Gedanken an Kayla nahmen hier im Krankenhaus wieder zu, was auch meine Stimmung deutlich nach unten zog. Aber in den letzten Tagen war es mir ziemlich gut gegangen, ich war fast schon irgendwie glücklich gewesen. „Mal gut, mal weniger gut“, murmelte ich unschlüssig. Was sollte ich sonst auch Großes sagen? Ich sah dem Jungen mit dem zerzausten Haar in die Augen, und plötzlich spürte ich wieder den alten Hass. Die Wut. Weil er meine Schwester getötet hatte. Und die Worte sprudelten nur so aus mir heraus, ich dachte nicht über sie nach,

sie kamen einfach und sprangen Anton in sein schon nach kurzer Zeit schmerzverzerrtes Gesicht. „Es ginge mir sicher besser, wenn Kayla noch da wäre. Aber sie ist ja nicht mehr da. Sie wird nie wieder da sein, denn sie ist tot, tot, verstehst du, tot! Ich werde sie nie wiedersehen, nie wieder ihre Stimme hören, nie, nie wieder! Und alles nur deinetwegen! Du hast sie getötet! Du warst so dumm, total betrunken in dieses Auto zu steigen und loszufahren, du allein, es ist nur deine Schuld, dass sie tot ist, und dass sie nie wieder bei mir sein wird! Du hast Kayla das Leben genommen! Sie wird nie wieder lachen,

nie wieder sprechen, nie wieder irgendetwas machen können, sie ist verdammt nochmal tot! Weil du sie getötet hast!“ Meine Stimme wurde während dieses Monologs immer lauter, am Ende schrie ich ihn richtig an. Es endete in einem verzweifelten „Du hast sie getötet, du hast sie getötet, du hast sie getötet“, so lange, bis eine Schwester mit schockiertem Gesicht hereinkam und mir befahl, sofort das Zimmer zu verlassen. Erst da bemerkte ich an einem dieser Geräte, an die Patienten im Krankenhaus immer angeschlossen werden, dass Antons Herz viel schneller schlug als zu Beginn meiner

„Rede“. Er starrte mich an, mit weit aufgerissenen Augen, in denen ich Schock, Schmerz und sogar Schuldbewusstsein lesen konnte. Die Krankenschwester schob mich energisch aus der Tür hinaus, und das letzte, was ich von Anton hörte, war ein sehr leises und sehr vorsichtiges „Es tut mir leid“. Dann schloss sich die Tür hinter meinem Rücken

15

Als ich das Krankenhaus verließ und auf mein Fahrrad stieg, um nach Hause zu fahren, hatte ich Tränen in den Augen. Dass der Besuch bei Anton mich emotional so durcheinanderbringen würde, hatte ich nicht geahnt. Doch von einer Sekunde auf die andere hatte ich plötzlich komplett die Kontrolle über meine Worte verloren. Ich hatte einfach das gesagt, was mir gerade in den Kopf gekommen war. Eigentlich genau das, was Nando mir geraten hatte. Wobei er bestimmt nicht das damit gemeint

hatte. Ich holte tief Luft, dann fuhr ich los. Für diesen Tag war ich fertig mit der Welt. Doch zu Hause erwartete mich eine neue böse Überraschung. Meine Eltern saßen im Wohnzimmer an unserem großen Tisch und hatten vor sich einen großen Haufen Kleidung ausgebreitet. Kaylas Kleidung, wie ich bald festgestellt hatte. „Luna“, meine Mutter begrüßte mich ungewohnt überschwänglich, „schön, dass du wieder da bist!“ „Äh...“, ich traute dieser Sache nicht,

daher erwiderte ich stammelnd: „Ist irgendwas?“ „Hör mal“, nun ergriff mein Vater das Wort, „deine Mutter und ich hatten eine Idee. Wir glauben, dass es uns sehr dabei helfen würde, über Kaylas... Tod hinwegzukommen, wenn wir wüssten, dass ein Teil von ihr noch hier ist. Deshalb haben wir uns überlegt, dass du vielleicht ihre Kleidung tragen und dich wie sie frisieren und schminken könntest. Vielleicht... also vielleicht kannst du dir auch die Haare blond färben. Nur, damit wir wissen, dass es sie gegeben hat... und, dass sie irgendwie immer noch da ist. Würdest du das für uns tun?“ Mein Atem stockte. Ich sollte...

was?! Ich sollte für meine Eltern in die Rolle meiner toten Schwester schlüpfen? Das war doch... krank. Ich wurde so wütend wie noch nie in meinem Leben. Nicht einmal vorhin bei Anton hatte ich solchen Zorn gefühlt. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und rannte aus dem Haus. Ich rannte zur Brücke. Die Brücke, das war eine alte Autobahnbrücke, fast zwanzig Meter hoch. Kayla und ich waren früher oft darauf herumgeklettert. Ich warf mich gegen das Brückengeländer und brach in Tränen

aus. Verdammt, ich war nicht die Puppe meiner Eltern! Ich war nicht dazu da, ihnen über Kaylas Tod hinweg zu helfen! Ich wollte nicht werden wie sie, das begriff ich mit einem Mal. Mein Leben lang hatte ich nur versucht, ihr nachzueifern, so zu werden wie sie. Doch jetzt... ich hatte einen Freund, eine beste Freundin, und alles nur, weil ich ich selbst gewesen war. Weil ich nicht versucht hatte, wie sie zu sein, oder mich versteckt hatte vor Selbsthass. Ich wusste instinktiv, dass Nando mich nicht lieben würde, wenn ich wäre wie Kayla. Er liebte mich so, wie ich jetzt

war. Und ich hatte mich vorhin bei Anton geirrt. Es ginge mir nicht besser, wenn Kayla da wäre. Es ging mir so, ohne sie, viel besser. Dann dachte ich an das, was Kayla alles getan hatte. Ja, sie hatte mich an Treffen mit ihren Freunden teilnehmen lassen. Aber nicht nur das. Ich dachte daran, dass sie mich einen Schwächling genannt hatte, weil bei dem Film Titanic angefangen hatte, zu weinen. Wie sie mich als Heulsuse bezeichnet hatte, weil ich geweint hatte, nachdem

meine Lieblingslehrerin an Krebs gestorben war. Wie sie mich Dummkopf nannte, weil ich mit fünfzehn Jahren nicht genau wusste, ab wie viel Promille man nicht mehr Auto fahren darf. Ich dachte daran, wie sie Anton betrogen und unseren Eltern Geld für Zigaretten gestohlen und sich betrunken hatte. Und dann dachte ich an das schrecklichste, was sie je getan hatte. Es war im vergangenen Herbst gewesen. Eine Freundin von Kayla, Hannah, war zu ihr gekommen. Sie hatte ihr ihr größtes Geheimnis anvertraut. Ich war dabei gewesen, weil Kayla meinte, mir könne man vertrauen, mit

einer Stimme, als wäre ich ihr Schoßhündchen. Hannahs Worte hallten in meinem Kopf nach, als ich jetzt an der Brücke stand und nach unten starrte. Ich... ich muss dir was erzählen. Ich habe das noch niemandem erzählt, aber ich vertraue dir und ich glaube, dass du mir helfen wirst. Also... also... ich... mein Onkel hat was mit mir gemacht. Er hat mich... angefasst und... geküsst, obwohl ich ihm gesagt habe, dass ich das nicht will. Er hat nur gelacht und mich festgehalten und einfach weitergemacht. Und er hat mich auch ausgezogen. Und weiter angefasst. Es war so... demütigend. Ich habe mich danach so...

schmutzig gefühlt. Es war schrecklich. Und seitdem... seitdem will ich einfach nur noch sterben. Ich will so nicht mehr leben, Kayla. Ich will sterben. Ich will mich umbringen. Dann verstummte sie und sah meine Schwester mit Tränen in ihren großen braunen Augen an. Und was tat Kayla? Nahm sie sie in den Arm? Tröstete sie sie? Fing sie vielleicht selbst an zu weinen? Nein. Sie lachte. Hannah, rief sie spöttisch lachend, Hannah, das kann doch nicht dein Ernst sein. Selbstmord ist dumm und feige, nur

etwas für die Schwachen. Total lächerlich. Und nur aus dem Grund... sei froh, du hättest sonst nie jemanden abgekriegt! Wenn du dich umbringen willst, bitte. Sei halt dumm und schwach und feige! Das war es, was Kayla gesagt hatte, und dann hatte sie Hannah aus dem Haus geworfen, um sich für eine Party fertigzumachen. Am nächsten Tag hatte Hannah sich zu Hause in der Badewanne die Pulsadern durchgeschnitten. Daran dachte ich auf der alten Autobahnbrücke, und daran, dass es

Kayla noch nicht einmal leidgetan hatte, und daran, dass auch ich schuld an Hannahs Tod war, denn auch ich habe ihr nicht geholfen. Für ihren Onkel hatte es nie irgendwelche Konsequenzen gegeben. Weinend setzte ich mich auf das Brückengeländer. Auch ich wollte so nicht mehr leben. Ich hatte Nando und ich hatte Enya, ja, aber aus dieser Werd-doch-wie-Kayla-Sache würde ich nie wieder herauskommen, das wusste ich. Meine Eltern würden mich immer weiter in diese Richtung treiben, und irgendwann würde ich nachgeben, das war klar. Und dann würde ich so werden wie sie. Ein

Monster. Denn Kayla war ein Monster gewesen, das war mir nun klar. Sie war schrecklich gewesen. Ein unglaublich grausamer Mensch. Und ich hatte es sechzehn Jahre lang nicht gesehen. Sie hatte erst sterben müssen, damit ich es hatte erkennen können. Ich schwang die Beine über das Brückengeländer und sah nach unten in die Tiefe. Mein Entschluss stand fest. Ich würde springen, und dann würde ich niemals so werden müssen wie Kayla gewesen war. Ich holte tief Luft. Meine Hände schwitzten, meine Knie

zitterten. Ich rutschte ein wenig nach vorne. Und dann – schrie jemand meinen Namen. „Luna! Luna, warte!“ Ich fuhr herum, rutschte ab, konnte mich gerade noch so halten. Nando. Er raste auf mich zu, ganz plötzlich war er bei mir, hatte mich an den Armen gepackt und über das Brückengeländer zu sich gezogen. Und dann lag ich in seinen starken Armen, weinte und schrie, und er hielt mich fest und presste mich an sich und drückte seine Lippen auf meinen

Hals. „Tu das nie wieder“, flüsterte er mit zitternder Stimme, während seine Tränen über meine Haut flossen, „bitte, Luna, tu das nie, nie wieder.“

Epilog

Es ist drei Tage her, dass ich auf der Brücke saß und mich umbringen wollte. In diesen drei Tagen habe ich mit meinen Eltern gesprochen. Ich bin zu ihnen gegangen, mit Nando, der die ganze Zeit hinter mir stand und mir sozusagen Rückendeckung gegeben hat, und habe geredet. „Mama“, habe ich gesagt, „Papa, ihr habt keine Ahnung. Ihr wisst nicht wie Kayla wirklich war, denn wenn ihr es wissen würdet, würdet ihr sie nicht so lieben. Und ihr würdet mich nicht dazu zwingen wollen, zu werden wie sie. Ihr habt keine

Ahnung. Wacht auf! Kayla war nicht perfekt. Sie war schrecklich. Sie hatte auch gute Seiten, klar – aber auch viele schlechte. Und hört auf, mich zu behandeln, als wäre ich eure Marionette. Ich bin ein eigener Mensch. Ich bin ich. Nicht Kayla. Nicht Kaylas Abbild. Ich bin ein eigenständiger Mensch, und ich bin eure Tochter, genauso wie Kayla es war. Behandelt mich also so oder lasst es bleiben, das ist mir egal. Aber ihr sollt wissen, wer ich bin. Ich bin Luna. Eure Tochter.“ Das habe ich gesagt, dann habe ich

Nando an die Hand genommen und bin mit ihm aus dem Haus gegangen. Anton habe ich in all der Zeit nicht noch einmal gesehen. Vom Suizid habe ich mich distanziert. Ich habe Nando, ich habe Enya, ich habe meine anderen tollen neuen Freunde. Ich bin nicht allein. Und sie alle lieben, schätzen und respektieren mich als der Mensch, der ich bin. Luna. Das Mondmädchen. Ich brauche nicht meine Schwester, um Freunde zu finden. Ich brauche sie nicht, und ich will sie auch

nicht. Ich lächle, als ich mich bei Nando zu Hause auf sein Bett fallen lasse und mich an ihn schmiege. Ein weiterer perfekter, wunderschöner Moment, dem noch viele folgen werden, das spüre ich. Ich kann Kayla nicht zurückholen. Aber vielleicht will ich das ja auch gar nicht

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Über den Autor

DepressedGirl
Hallo :) ich heiße Isabella, bin 14 Jahre alt und schreibe seit gut zwei Jahren. In meinen Büchern verarbeite ich hauptsächlich meine Depressionen. Ich hoffe, ich kann hier noch einige Tipps bekommen ;)

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