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Ein Kind spricht nicht - Ein selten trauriger Fall

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"Ein Kind spricht nicht - Ein selten trauriger Fall"
Veröffentlicht am 20. Mai 2017, 6 Seiten
Kategorie Sonstiges
© Umschlag Bildmaterial: Danussa - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Geboren und aufgewachsen in Süddeutschland. Lange in Berlin und Hamburg gelebt, später in der Lüneburger Heide. Neuerdings wieder in Berlin. Autor von bisher drei Romanen, von Erzählungen und von Kurzprosa. Eine Buchveröffentlichung: Alle Männer sind Brüder, Roman (BoD Norderstedt 2007). Weitere Werke als eBooks unter www.bookrix.de/-arno.abendschoen gratis lesen und herunterladen!
Ein Kind spricht nicht - Ein selten trauriger Fall

Ein Kind spricht nicht - Ein selten trauriger Fall

Ein Kind spricht nicht

Ich habe sie niemals sprechen hören - dabei sind wir einige Jahre in dieselbe Klasse gegangen. Sie wurde mitten in einem Schuljahr in unseren Klassenraum geführt, mitten in einer Stunde. Sie hieß Armgard und lächelte bei ihrer Vorstellung angstvoll. Dann huschte sie an den ihr zugewiesenen freien Platz und rührte sich nicht mehr. Als hätte ihr einer gesagt: Mucks dich ja nicht! Armgard muckste sich niemals, darin bestand das Problem.

Sie war in einem anderen Schulsprengel ansässig und ihre Lehrer dort waren an

ihrem Mutismus verzweifelt. Selbst für die Sonderschule schien sie ungeeignet. Die Schulpflicht musste dennoch erfüllt werden – nur wie? Ihr Vater kannte den Lehrer unserer Schulklasse und erreichte über ihn die Aufnahme bei uns. Unser Lehrer wusste, mit wem er es zu tun bekam, mit einem stummen Kind, dessen Schweigen in der Schule mit keinem Mittel zu brechen gewesen war. Sie kam nur zu uns, um die restlichen Pflichtschuljahre abzusitzen und sich dabei womöglich noch etwas Wissen anzueignen. Sie wurde automatisch versetzt, ohne Prüfung ihrer Kenntnisse.


Damals war ich acht oder neun Jahre alt,

Armgard etwas älter. Sie wirkte kindlicher, als es ihrem Alter entsprach, und wies zugleich schon greisenhafte Züge auf. Sie saß verkrampft in der ersten Reihe, machte einen Buckel, hörte hin und schwieg immerzu. Für uns blieb sie ein Rätsel, das wir gern ungelöst ließen. Es sickerte durch, dass sie mit ihren Eltern daheim sprach, nur außerhalb des Hauses nie.

Wie viel erfasste sie im Unterricht, was eignete sie sich an? Das blieb allen verborgen, auch dem Lehrer. Manchmal geriet er bei ihrem Anblick in Zorn. Er warf ihr Trotz und Verstocktheit oder sogar Bösartigkeit vor. Armgard presste

dann die Lippen nur noch fester aufeinander und kicherte angstvoll. Ihr Rücken krümmte sich noch mehr, wie bei einem Igel, der die Stacheln aufrichtet. Es war deutlich zu sehen: Es war für sie auch ein Machtkampf, den sie ein wenig genoss.


Sie war noch im Klassenverband, als ich Jahre später aufs Gymnasium wechselte. So ist sie mir im Gedächtnis geblieben: ängstlich und störrisch, schon etwas dicklich und unbeweglich, fast steif. Wie mag sie durchs spätere Leben gekommen sein?

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Über den Autor

Abendschoen
Geboren und aufgewachsen in Süddeutschland. Lange in Berlin und Hamburg gelebt, später in der Lüneburger Heide. Neuerdings wieder in Berlin. Autor von bisher drei Romanen, von Erzählungen und von Kurzprosa. Eine Buchveröffentlichung: Alle Männer sind Brüder, Roman (BoD Norderstedt 2007). Weitere Werke als eBooks unter www.bookrix.de/-arno.abendschoen gratis lesen und herunterladen!

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Pfauenfeder Ich erinnere mich, dass ich als Kind auch einmal eine Phase hatte, in der ich nicht reden wollte. Es war eine Mischung aus Protest und Nachdenklichkeit. Menschen reden viel zu viel. Sie reden alles, was sie denken, meist nur das, was sie fühlen - und fühlen tun sie dauernd. Irgendwas.Meine Eltern und Geschwister hatten das akzeptiert. Sie wurden niemals böse deswegen, manchmal kam ein Scherz, meist gingen sie drüber hinweg. Das war mit ein Grund, weshalb ich nicht mehr reden wollte, war ich die Jüngste, die Kleinste, die, die noch nichts zu wissen haben konnte, sich einfügen sollte. So viele Regeln und Vorschriften! Trotz kam deshalb auf, weil ich noch nichts wissen konnte - sie und andere Leute alle aber auch redeten, was nichts mit Wissen unbedingt zu tun hatte.... -

Vielen Dank, für Deine Erinnerung an ein Mädchen, dem es vielleicht ähnlich ergangen war, und vielleicht war sie irgendwann in diese Rolle so verstrickt gewesen, dass sie deshalb nicht mehr heraus kommen konnte.
Lieben Gruß und einen schönen sonnigen Sonntag!

Vor langer Zeit - Antworten
Abendschoen Es war wohl ein Fall von selektivem Mutismus und schon chronifiziert. Eben las ich einiges darüber und erfahre, dass die meisten dieser Kinder zu Hause reden. Es scheint häufig eine Sozialphobie zugrundezuliegen. Auf jeden Fall war der Umgang des Lehrers mit der Störung hier kontraproduktiv. Er hatte selbst eine Tochter (Einzelkind), die infolge zu hoher Anforderungen vor dem Abitur zusammengebrochen war und zu meiner Zeit als Frau in den Dreißigern geistig-seelisch behindert auf der Stufe eines Kindes im väterlichen Haushalt dahindämmerte.

Genug von diesen Dramen. Dir noch einen schönen Restsonntagabend.
Vor langer Zeit - Antworten
tooshytowrite Vielleicht erinnert sich niemand mehr an sie - ausser Dir?
Vor langer Zeit - Antworten
Abendschoen Gut möglich, da sie meines Wissens das einzige Kind war und die Eltern kaum noch leben dürften. Auch der Lehrer ist schon lange tot.

Freundlichen Gruß
Vor langer Zeit - Antworten
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