Krimis & Thriller
Die Meerjungfrau

0
"Die Meerjungfrau"
Veröffentlicht am 19. Januar 2017, 44 Seiten
Kategorie Krimis & Thriller
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich versuche mit guten Geschichten zu unterhalten. Hoffentlich glückt es. Ich bin Jahrgang 1958, in München geboren. Seit meiner Kindheit schreibe ich, habe aber nie eine Profession daraus gemacht. Meine zarten Versuche mal eine meiner Geschichten bei einem Verlag zu veröffentlichen sind gescheitert. Hier gibt es eine Auswahl von Kurzgeschichten aller Art. Sie sind in ihrer Kürze dem Internet und e-pub Medium angepasst.
Die Meerjungfrau

Die Meerjungfrau

Vorbemerkung

Karin ist allein in ihrer Wohnung, bekommt aber Besuch. Im Fernsehen läuft Arielle, die Meerjungfrau.

Ein Kurzkrimi.









Copyright: G.v.Tetzeli

Cover: G.v.Tetzeli

www.welpenweste.de

Die Meerjungfrau

Karin stand an der Spüle. Sie fand das Abspülen immer schon die lästigste Arbeit und hatte es daher bis zu diesem späten Abend hinausgeschoben. Normalerweise bediente sie sich ihres Lakaien, ihrer Spülmaschine, aber ausgerechnet heute hatte das Biest seinen Geist aufgegeben. Wenigstens hatte sie Paul, ihren 5-jähriger Treibauf, schon heute Vormittag bei seinem Vater abgeliefert. Nun wartete endlich ein ruhiger, beschaulicher Abend auf sie. Sie würde etwas lesen, eine Flasche Wein aufmachen und verbotenerweise sich an etwas Knabber-Zeug vergreifen, obwohl es

ihren Diätvorsatz deutlich unterminierte. Um es kurz zu machen, es würde ein gemütlicher Abend mit Kräckern werden. Entspannend. Während sie an den Gläsern bürstete, dachte sie daran, wie sie es heute genießen würde, einmal in der Woche ihre Ruhe zu haben, wenn Paul bei seinem Vater abgeliefert war und ihm auf die Nerven fallen konnte, statt sie an zu quengeln. Sie hatten sich damals friedlich getrennt, ohne schmutzige Wäsche zu waschen. Und sie waren überein gekommen, dass Paul einen Tag, oder ab an sogar zwei Tage in der Woche bei seinem Vater verbringen durfte. Es war nur logisch, dass das Kind am Tag darauf immer quengelig war, weil er ihm immer alles durchgehen ließ, alles erlaubte.

Na typisch Michael eben. Aber Karin wurde damit entschädigt, dass eben an diesem einen Tag Ruhe herrschte. In diesem Fall hatte sie sogar noch das Glück, dass der Fratz ein ganzes Wochenende mit Papa verbringen würde. Erst Sonntagabend würde sie ihn wieder in die Arme schließen. Während sie schruppte, dachte sie daran, dass sie morgen gemütlich ausschlafen konnte. Kein Kindergebrüll, kein Frühstück machen müssen. Einfach sich himmlischer Faulheit hingeben können. Das war eine tolle Aussicht. Sie war nun mit dem lästigen Spülen fertig, schüttelte die nassen Hände aus, trocknete sie ab und ging ins Wohnzimmer. Vorher holte sie noch eine

gekühlte Flasche Wein aus dem Kühlschrank und machte es sich im Wohnzimmer gemütlich. Das Buch, das sie sich zum Lesen herausgesucht hatte, war leider langweilig. Sie goss sich ein Glas Wein ein, aber Gemütlichkeit wollte sich einfach nicht einstellen. Ohne Paul, dem Sohnemann, war es einfach öd. Sie wollte es sich eigentlich nicht eingestehen, aber die Wohnung wirkte leer, unbewohnt, wie ein Ausstellungsstück. Und eines dieser Ausstellungsstücke war sie selber. Sie fühlte sich einfach einsam. Konnte denn das die Möglichkeit sein? War sie denn nicht in der Lage sich irgendwie selbst zu beschäftigen? Wenn Paulchen wieder einmal besonders intensiv auf ihren

Nervensträngen herum hüpfte, wie hatte sie dann den Wunsch nach etwas Ruhe und Frieden vor Augen. Sie musste es dann als unerfüllbaren Wunschtraum wieder wegwischen. Und jetzt? Jetzt hatte sie Ruhe, Eimerweise und war auch nicht zufrieden. Irgendeine Unruhe ließ sie nicht los. Vielleicht sollte sie Michael anrufen? Ja, das wollte sie tun. Sie tippte. „Ja“ „Hallo, ich bin es, Karin.“ Sie konnte das glückselige Geplärr von Paulchen im Hintergrund hören. „Ach Karin! Was ist denn los?“ „Ach nichts. Ich wollte nur mal sehen, ob unser Kleiner sich anständig aufführt.“ „Ach, wir amüsieren uns prächtig. Heute Nachmittag waren wir auf dem Rummel. Na ja, den Rest kannst du dir ja vorstellen. Ich

denke, dass wir heute Abend noch ins Kino gehen.“ „Na, dann amüsiert euch mal schön. Tschüss denn.“ Sie legte das Handy ab. Soviel gute Laune konnte sie jetzt nur bedingt ertragen. Die leere Stille der Wohnung hüllte sie wieder ein. Auf die Couch gestreckt, nippte sie erneut an dem Wein. Wenigstens der war gut. Sie lehnte sie sich zurück und ließ ihre Gedanken schweifen. Sie zündete sich eine Zigarette an. Sie dachte an Karl, ihren Liebhaber. Sollte sie ihn anrufen? Ach nein. Sie hatte keine Lust auf ihn. Im Gegenteil. Sie könnte ihn jetzt gar nicht ertragen. Bloß nicht! Er war gut im Bett, zugegeben, aber ein furchtbarer Macho. Ja manchmal, so musste sie sich eingestehen, bekam sie direkt

Angst vor ihm. Er hatte etwas Animalisches an sich, wie ein Raubtier, das nur durch eine Kette an einem mörderischen Überfall gehindert wurde. Das hatte ja auch etwas Faszinierendes an sich. Sie fühlte sich ihm hingezogen. Diese Wildheit, diese Kraft, hatten es ihr angetan. Er war athletisch gebaut und hatte ein feines, fast zartes Gesicht. Sein Haar war weich, braun und anheimelnd. Wenn er sich bewegte, dann sah man die einzelnen Muskelstränge, wie sie arbeiteten. Er hatte keinen Bauch, sein Po war fest und muskulös. Auch konnte er charmant sein, zuvorkommend, wenn er wollte. Doch ab und an, wenn ihn etwas ärgerte, dann fuhr er sie in einem Ton an, den sie nicht gewohnt war.

Dann hatte sich sein Gesicht verändert. Es wirkte dann nicht mehr zart, sondern wie gemeißelt. Am Schlimmsten bei solchen Gelegenheiten empfand sie aber seine Augen. Sie wurden stechend, unerbittlich und absolut einschüchternd. Seine ganze Körperhaltung forderte hündische Ergebenheit von ihr. So empfand sie das jedenfalls. Irgendwie war er ihr nicht ganz geheuer. Und da das nicht der richtigen Liebe entsprach, wie sie sich das vorstellte, beschloss sie nun ihn demnächst abzustoßen. Nachdem dieser Entschluss gefasst war, trommelte sie die Zigarette im Aschenbecher aus. Ist doch wahr! Ihm ging einfach das Gefühl ab, das sie so sehnlichst suchte. Halt,

Verständnis, vielleicht einen Abend einfach nur ankuscheln. Ohne sonst was! Geborgenheit! Sie brachte es auf den Punkt. Er konnte einfach keine Wärme vermitteln, keine echte Zuneigung. Er war kalt und egoistisch. Er vermittelte einfach kein Geben und Nehmen, sondern er forderte Hierarchie. Er der Goliath und sie das kleine Mäuschen, das möglichst nicht aufmüpfig werden durfte. Den Eindruck des beschützt Werdens, dass er sie unter allen Umständen verteidigen würde, genau das war es, was sie vermisste. Es war halt doch nicht das Wahre. Sie dachte an die Konsequenzen. Was würde passieren, wenn sie es ihm eröffnen würde. Sie bekam Angst, wenn sie nur daran dachte. Würde er weiß

vor Zorn explodieren? Würde er sich voller animalischer Wut, tierisch, viehisch auf sie stürzen, sie schlagen? Und bei diesem Gedanken passte es ihr nicht, dass sie allein zu Hause war. Die ganze Wohnung wirkte plötzlich irgendwie leblos und sie fühlte sich allein, wie ein Fremdkörper. Der Raum wirkte kahl, leer und feindlich auf sie. Sie fühlte sich mit einem Mal fehl am Platz, obwohl es doch ihre eigenen vier Wände waren und sie zu solch unangenehmen Gefühlen eigentlich gar keine Veranlassung hatte. Er hatte sie sogar schon auf ihre Kontenangesprochen, auf ihre Lebensversicherung, obwohl ihn das doch wohl einen Scheißdreck angehen sollte. Sie musste an diversen Krimis denken, bei dem solche Fragen meist in einem blutigen

Desaster endeten. Die Leere des Zimmers wurde immer erdrückender. Sie raffte sich wieder aus ihren Gedanken auf und ging quer durch das Zimmer Richtung Balkon, nur um durch Bewegung die Beklemmung abzuschütteln. Sie öffnete die Balkontüre, atmete die Brise ein. Dann ging sie zurück, goss sich Wein nach und wollte sich irgendwie ablenken. Fernsehen! Mal sehen was es gab. Sie zappte durch die einzelnen Kanäle und blieb bei dem Disney Zeichentrickfilm stehen: Es kam „Arielle, die Meerjungfrau“ Das war genau das Richtige! Dann fläzte sie sich in die Couch zurück, wurde schläfrig, musste gähnen. Schließlich nickte sie ein. Während Arielle allen möglichen Gefahren ausgesetzt

war, Haifischen mit knapper Not entkam und fortwährend um ihr Leben ringen musste, war sie selig und tief eingeschlafen. Sie hatte die Balkontüre offen gelassen, um den nächtlich sanften Südwind zu genießen. Sie lüftete oft und gründlich. Da sie Raucherin war, wollte sie nicht, dass alles nach abgestandener Asche stank. Auch Sohnemann Paul miefte immer: „Es stinkt“. Vielleicht haben Kinder empfindlichere Spürnasen. Vielleicht empfanden sie aber auch nur intensiver. Karin konnte das nachempfinden, wenn sie sich an ihre eigene Kindheit zurück erinnerte. Ihr Vater war ihr immer wieder mit übergroßem Kopf im Traum erschienen und sie hatte dabei Angst vor ihm gehabt. So übermächtig wirkte er. Und sie erinnerte sich

auch, wie er aus dem Mund roch. Er hatte irgendwie erdige Ausdünstungen an sich gehabt und das war einfach unangenehm gewesen. Vor allem, wenn er sie herzigte und abbusselte. Das nachgefüllte Glas Wein war ihr aus der Hand geglitten. Sie lag da, schlief tief und fest, während die Meerjungfrau versuchte den Fangarmen des Oktopus zu entfliehen. Plötzlich erwachte sie wieder. Inzwischen lief das Nachtprogramm, das ihr aus der Glotze entgegen flimmerte. Bevor sie es sich auf der Couch gemütlich gemacht hatte, hatte sie das Licht gedämmt. Nun lag ein fahles Grau über dem Zimmer, und sie fühlte sich irgendwie benommen. Die Vorhänge wedelten hin und her von den Briesen, die sich von draußen wie ein Aal

herein schlängelten. Karin schüttelte ihren Kopf und ihre Haare aus, um wieder richtig zu Besinnung zu kommen. Ihre Kopflastigkeit könnte auch von dem Wein herrühren, aber so viel hatte sie eigentlich gar nicht getrunken. Und hatte sie das Geräusch geträumt von dem sie aufgewacht war, oder war es Wirklichkeit gewesen? Sie meinte ein Klappern gehört zu haben und davon aufgewacht zu sein. Ihr war richtig schwindelig im Kopf. Was ist bloß mit mir los, dachte sie. Sie fühlte sich benommen und gar nicht ganz da. Karin wankte in die Küche und ging zum Kühlschrank. Ein kaltes Glas Milch wäre jetzt richtig, war ihr Gedanke. Sie öffnete die schwere Angel mit einem schmatzenden Geräusch. Sie wollte gerade

hinein greifen und die H-Milch im Pappkarton herausnehmen. Sie erstarrte einen Augenblick und prallte dann mit seelisch abgrundtiefem Entsetzen zurück. Die Augen weiteten sich. Sie schlug die Hand vor den Mund, damit sie nicht das ganze Haus zusammen schrie. Es wäre gar nicht nötig gewesen, denn vor unglaublichem Schrecken versagte ihre Stimme. Sie war im ersten Augenblick gelähmt. Dann durchfuhr ein Zittern, eine Art Tremolos ihren ganzen Körper. Mitten im Kühlschrank über dem Gemüsefach grinste sie ein Totenkopf durch seine hohlen Augenlöcher an. Die Zähne bleckten ihr entgegen. Karin dachte im Nachhinein sogar, dass sie geschrien hätte. Und im ersten Schock kam ihr merkwürdiger

Weise der Gedanke, was wohl die Nachbarn dazu sagen würden, wenn sie es ihnen erzählen würde. Mit voller Wucht, mit der ganzen Kraft, die sie aufbieten konnte, schmiss sie die Kühlschranktüre wieder zu und drückte sich erschöpft mit dem Rücken gegen den verschlossenen Kühlschrank, damit das reineGrauen nicht entweichen konnte. Die Hände krallten sich nach Hinten an die Kühlschrankseiten. Sie atmete schwer, versuchte sich zu fassen. Dann stürzte sie in Richtung Wohnzimmer, so schnell es nur eben ging. So weit weg, wie möglich. Es wurde aber nur ein Torkeln daraus. Wankend ließ sie sich auf das Sofa fallen. Erst einmal durchatmen, dachte sie. Du beginnst hysterisch zu werden. Du bist einfach ein

durch geknalltes Weib, sagte sie sich. Vielleicht war es auch nur eine Schutzbehauptung. Hirngespinste! Vielleicht werde ich verrückt? Es könnte auch sein, dass jemand ihr einen Streich spielen wollte. Halloween lässt grüßen. Aber wenn, wer? Und dann müsste dieser jemand sich Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft haben. Du spinnst! Das hast du dir alles nur eingebildet! Ihr Herz raste immer noch. Mechanisch räumte sie das leere Glas vom Sofa, goss sich nochmals ein und nahm erst mal einen tiefen Schluck. Dann fixierte sie den Fleck in der Couch, welches das fallen gelassene Glas produziert hatte. Verdammter Mist! Den Fleck bekomme ich nie raus, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre Gedanken kreisten jetzt

hauptsächlich um diesen vermaledeiten Fleck und verdrängten den unbeschreiblichen Schrecken um den Schädel. Gegenüber auf dem Sessel lag noch Pauls Teddybär und schaute sie mitleidig an. Der Schlamper ließ aber auch überall sein Spielzeug liegen! Lief denn alles schief? Es war zum Verzweifeln! Das Bild des Schädels kam enervierend wieder zurück. Sie nahm all ihren Mut zusammen und ging wieder in die Küche, um einen Lappen zu holen. Irgendetwas musste sie tun. Und wenn es nur das Aufwischen der Weinlacke war. In der Küche angekommen begutachtete sie erneut den Kühlschrank. Sie umkreiste ihn in respektvollem Abstand. Es kostete sie unendliche Überwindung, aber dann hatte

Karin einen Entschluss gefasst. Sie musste den Kühlschrank nochmals öffnen. Nur wenn man Angst überwindet, vermeidet man das Aufkeimen von Paranoia. Und schizoid wollte sie nicht werden. Wenn, dann richtig, beschloss sie und riss die Tür auf. Entsetzlich! Der Totenkopf war noch da. Sie nahm sich ein Herz und fasste hinein. Der Schädel war aus Plastik, sah aber ungemein echt aus. So, wie man manchmal solche Schädelmodelle in Arztpraxen zu sehen bekam. Nur aus Plastik. Gekühltem Plastik! Sohnemann Paul hatte es auch einmal mit einer Plastikspinne geschafft, dass sie aufkreischte, der Racker. Die Furcht war wie weggeblasen. Plastik! In jedem Faschingsladen, oder ähnlichem zu

bekommen. Sie drehte ihn in ihren Händen. Kalt war fühlte sich das Plastik an. Und plötzlich durchfuhr sie Kälte über den ganzen Körper. Wie mag er hineingekommen sein? Irgendjemand musste ihn dort deponiert haben? Wer? Sie hatte keinen Besuch gehabt. Pauls Vater Michael konnte es nicht gewesen sein. Er hatte die Wohnung gar nicht betreten. Und auch Karl hatte sie seit fünf Tagen schon nicht mehr gesehen. Sie legte den kahlen Schädel in die Spüle und ging nachdenklich in das Wohnzimmer zurück. Totenkopf im Kühlschrank! Welch perfide Idee. Arielle, die Meerjungfrau wurde nun im Nachtprogramm wiederholt. Sie grübelte, als sie sich wieder auf das Sofa setzte und einen weiteren Schluck Wein zu

sich nahm. So ein Scheiß! Vor lauter Verwirrung hatte sie den Lappen vergessen. Seufzend stand sie wieder auf und begab sich erneut in die Küche. Dort kramte sie zwischen Spülmitteln und Putzutensilien im Unterbau der Spüle ein Wischtuch heraus. Dazu musste sie tief in den Verschlag rein reichen. Ihr war verständlicher Weise unwohl dabei. Mehr denn je fühlte sie sich verlassen und verletzlich. Der Totenkopf ruhte immer noch in der Spüle, die Kühlschranktür war geschlossen. Sie öffnete wieder und stellte fest, dass sonst im Kühlschrank alles an seinem gewohnten Platz war. Karin beruhigte das ein wenig. Nun nahm sie sich ihre Milch, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte. Mit Lappen und Milch bewaffnet ging sie wieder

zurück. Die Meerjungfrau Arielle unterhielt sich gerade mit dem Kugelfisch. Karin trank einen Schluck Milch und wischte am Sofa herum. Jetzt fiel ihr auf, dass die Balkontüre geschlossen war. Sie stutzte. Sie war sich ganz sicher sie offen gelassen zu haben! Der Wind konnte sie nicht zugeschlagen haben. Siedend heiß überfiel sie die nackte, unbarmherzige, grausige Wahrheit. Es war jemand Anderer in der Wohnung! Jemand hatte sich hereingeschlichen. Es konnte gar nicht anders sein. Dieser Jemand musste sich auch den geschmacklosen Scherz mit dem Totenkopf erlaubt haben, als sie eingenickt war. Als sie nämlich den Wein aus dem Kühlschrank geholt hatte, da war er noch nicht drin gewesen, wie sie jetzt klar

erfasste. Also war dieser Jemand schon eine ganze Weile in der Wohnung. Eingestiegen musste er sein, als sie auf dem Sofa schlummerte. Sie schüttelte sich vor Horror bei dem Gedanken, wie er vielleicht vor ihr gestanden hatte. Wie er sie angesehen hatte, als sie hilflos, ohne sich wehren zu können im Schlaf ausgestreckt vor ihm lag. Wie auf dem Präsentierteller. Er hatte sie bestimmt von oben bis unten betrachtet, förmlich ausgezogen. Er hätte sozusagen nur zugreifen müssen. Entsetzlich! Irre! Ein Wahnsinn. Tränen schossen ihr in die Augen. Scheiße! Verdammt noch mal. Sie wimmerte und das immer wieder hochkommende Schluchzen rüttelte sie durch. Verdammt! Verdammt! Das mit dem

Totenkopf. Warum nur? Was sollte dieser blöde Scherz? Was bezweckte dieser jemand mit diesem Blödsinn: ein Plastiktotenkopf. Die brennendste Frage aber war: Wer? Es schüttelte sie und sie hatte das Gefühl gleich in Ohnmacht zu fallen. Animalische Angst drückte auf den Brustkorb, wie ein tonnenschwerer Amboss. Ihr Atem ging stoßweise. Jetzt nur nicht verrückt werden! Nicht durchdrehen, Karin. Sie zwang sich gleichmäßig tief durchzuatmen. Es war klar, sie musste handeln. Sie griff sich hastig das Handy. Sie wollte schon auslösen, aber was sollte sie der Polizei sagen? Sehr geehrter Herr Polizist. Ein Einbrecher ist in meiner Wohnung. Nein, gesehen habe ich

ihn noch nicht, habe auch keine Lust dazu. Ich weiß, es ist aber sicher, dass jemand in der Wohnung ist. Woher ich das weiß? Ja wissen sie, die Balkontüre war plötzlich zu und dann war da noch ein Totenkopf im Kühlschrank. Wenn sie das sagen würde, würde bestimmt nicht die Polizei kommen, sondern nette, weiß bekittelte Herren mit weißen Turnschuhen. So konnte sie das nicht angehen. So ging es also nicht. Sie zitterte immer noch. Jetzt erst, nachdem sie sich das überlegt hatte und das Phone vom Ohr genommen hatte, bemerkte sie, dass das Handy tot war. Kein Mucks! Sie öffnete und entdeckte, dass der Akku fehlte. Panik umwickelte sie, schnürte sich wie ein Galgenstrick um ihren Hals. Sie drohte

zu ersticken. Sie schaute sich erschrocken um. Warf gehetzt den Kopf in jede Richtung. Wähnte hinter jeder Ecke ein Phantom, meinte sich schon in den Klauen eines Untieres zu befinden. Die Meerjungfrau Arielle schwamm immer noch fröhlich und singend auf der Mattscheibe herum. Da erfasste sie Pauls Teddybär auf dem Sessel. Er weinte Blut! Blut? Sie stürzte zum Sessel und hob ihn auf, umhin zu untersuchen. Jemand hatte rote Farbe unter die Glasaugen geschmiert. Einfach unheimlich. Wer konnte dies einem Stoffbären nur antun? Es ließ ihr das eigene Blut in den Adern gefrieren. Kalter Schweiß bildete sich auf der Stirn, während sie die Hände um den blutverschmierten Teddy krampfte. Rote

Farbe war es, oder etwa... Sie schmiss den Teddy in den Sessel zurück, sank in die Couch und heulte in tiefer, leerer, unsagbarer Verzweiflung. Nach einer gewissen Zeit hatte sie sich wieder in der Hand. Vorn übergebeugt den Oberkörper auf den Knien, heulend würde sie ein prächtiges Ziel abgeben. So nicht, Karin! Noch bin ich! Noch lebe ich! Kämpfe! Tue etwas! Sie musste sich, auch wenn es ihr noch so graute, Gewissheit verschaffen. Sie musste systematisch die Wohnung durchsuchen. So, und nur so könnte es sein, dass sie die ganze Nacht aushalten könnte ohne verrückt zu werden. Mechanisch blickte sie zu dem weinenden Teddy herüber, begann sich dann langsam vorwärts zu tasten und dachte, wie

blöd es doch sei, in der eigenen Wohnung wie ein Dieb herum zu schleichen. Und warum verdammt noch mal hielt sie den Atem an? Vorsichtig öffnete sie die Schlafzimmertüre. Alle Muskeln waren angespannt. Sie befürchtete, dass ihr gleich ein Unhold mit Sprungfedern sie überfallen und wie ein Krake umschlingen würde. Sie drückte die Türe bis zum Anschlag auf. Es hätte ja sein können, dass sich jemand hinter der Türe verbarg. Aber sie stieß auf keinen Widerstand. Das Schlafzimmer war leer. Sie schaute trotzdem sicherheitshalber noch verängstigt hinter die Türe, obwohl dort niemand sein konnte. Sie war einfach panisch und fühlte sich beobachtet, verfolgt. Nichts! Das Bett war unberührt. Karin sah

sicherheitshalber noch im Kleiderschrank nach. Eigentlich hätte sich dort mit all den Zwischenbrettern allenfalls ein Zwerg verstecken können. Also wieder zurück ins Wohnzimmer. Doch halt! Was war das! Der blutbeschmierte Teddy, den sie gerade noch in der Hand gehabt hatte. Er war verschwunden! Verdammte Scheiße! Und das Handyfunktionierte auch nicht! Ich muss irgendwie Hilfe holen! Raus hier! Sie war nur von dem einen Gedanken beseelt aus dieser unheimlichen Wohnung zu verschwinden. Karin rannte durch die Küche zum Flur. Während sie spurtete, stellte sie mit einem Seitenblick fest: Die Kühlschranktür stand sperrangelweit offen, der Totenschädel saß plötzlich auf einem Schneidbrett und grinste

sie an. Sie schrie, fasste sich mit den Händen an den Kopf und raste wie von Furien gehetzt weiter. Fast hatte sie die Haustüre erreicht. In der Seitentüre zum Bad stand hingegossen Karl. Er hatte den Teddy in der Hand und blickte sie von oben herab spöttisch an. Karin erstarrte mitten im Lauf, während er langsam und genüsslich die Knopfaugen des Teddys herausdrehte. „Ich habe abgesperrt!“ „Bist Du verrückt? Was machst Du überhaupt hier? Wie bist Du hereingekommen?“ „Über den Balkon natürlich, Schätzchen.“ Er schlenderte langsam auf sie zu, während sie Schritt für Schritt rückwärts in Richtung Küche zurückwich. „Ich bin ganz gut im

Klettern, wie du weißt. Vier Stockwerke sind für mich ein Pappenstiel, zumal bei diesem Klinkerbau. Da gibt es so schöne Absätze.“ Er lächelte mit Vampir-Gebiss. Er erinnerte sie an einen Werwolf, der die den Fang fletschte. "Warum nicht klingeln?" "Habe meine Gründe. Muss ein wenig verdeckt agieren. Quasi unsichtbar." Der Teddybär hatte nun nur noch zwei blutunterlaufene, hohle Löcher. Karl ließ ihn achtlos fallen, wie wenn er ihn vergessen hätte. Sie konnte sich nicht rühren. Wie gelähmt! Wie ein Kaninchen vor der Schlange. Er hatte immer noch sein ekelhaftes Grinsen im Gesicht festgefahren. Lässig, überlegen und arrogant. „Du hast die

Nachrichten gesehen?“ Es war nicht so sehr die Frage an sich, die sie so beutelte, sondern der leise drohende Unterton in seiner Stimme. „Nein, nein!“, schrie sie verzweifelt, „ich habe mir nur Arielle, die Meerjungfrau angesehen! Sonst nichts!“ „Soll ich dir was ganz persönlich sagen, Schätzchen? Ich glaube dir nicht!“ „Doch, doch!“ schrie sie verzweifelt. „So glaube mir doch! Ich habe dich doch noch nie angelogen.“ Er spielte mit dem Fläschchen mit roter Flüssigfarbe zwischen den Fingern. "Jochen, oder vielmehr das, was von ihm übrig ist." Sie erinnerte sich, dass Karl einmal von einem Kumpel mit Namen Jochen gesprochen hatte. Er legte den Kopf schief und blickte sie von unten

herauf an. „Ach ja, nichts gehört?“ Und warum liefen dann die Nachrichten, als ich hereinkam?“ „Da hab ich doch schon geschlafen! Die ganze Zeit!“ Sie blickte ihn voller Verzweiflung an. Siehoffte, dass noch ein Funken Menschlichkeit bei ihm vorhanden war und er ihr glaubte. „Ja sicher! Und ich bin Rumpelstilzchen. Weißt Du“, fuhr er gelangweilt fort, “ich war nämlich im Fernsehen und ich nehme an, dass du mich natürlich erkannt hast. Die blöde Kamera hat mich in der Bank aufgenommen. Ich gebe ja zu, dass ich unaufmerksam war.“ Langsam, wie in Zeitlupe, machte sie ein paar weitere Schritte rückwärts, während er ihr bedächtig schlendernd und mit unheimlicher, zielstrebiger Ruhe nachging.

"Du weißt zu viel über mich. Die alte Scheune, usw." Schließlich stieß sie an den Kühlschrank. Ende der Fahnenstange. Fieberhaft dachte sie über eine Fluchtmöglichkeit nach. Zum Balkon, kam ihr in den Sinn, aber es musste schnell gehen. Dort könnte sie wenigstens um Hilfe rufen. Irgendwer würde sie schon hören. „Aber Karl! Hör doch! Ich werde bestimmt nichts sagen! Ich versprech`s dir hoch und heilig! Ich, ich, ich helfe dir auch. Ich helfe dir aus der Stadt raus. Du kannst auch allein nur mein Auto nehmen.“ Sie wurde hastig. „Oder nimm mich mit. Da gehen wir als Ehepaar durch. Ist doch weniger auffällig, nicht wahr?“ Ihr war ein Rätsel, woher sie die Kraft nahm. Es war

wahrscheinlich nur das Klammern an das Leben, das sie jetzt so stark machte. „Ich bin mir eigentlich sicher, dass du nichts sagen wirst“, bleckte er. "und deine Karre kriege ich auch so." Sie sagte nichts, sondern blickte ihn nur mit großen Augen an, die in der Iris einen bodenlosen See erkennen ließ. "Du dachtest der Schädel ist aus Plastik? Das ist Jochen, wenn ich vorstellen darf. War Jochen", verbesserte er sich, "bevor er in Säure gelegt wurde. Der Bottich in der Scheune. Ich dachte, das Netteste an dieser Verräter-Drecksau kann ich bei Dir unterbringen. Sein Blut und so außerdem. Man wird Dich mit diesem Bankraub in Verbindung bringen, während ich über alle Berge bin." Den richtigen Zeitpunkt abwarten,

darauf kam es jetzt an. Verzweifelt blickte sie sich um. Er hatte die Fluchtlinie zum Wohnzimmer, zum Balkon noch nicht abgedeckt. Und sie sah auf dem Schneidbrett ein großes Küchenmesser neben dem gottverdammten Schädel liegen. Er blickte hinüber und hatte das Messer ebenfalls erfasst. „Da wird wohl nichts draus“, knurrte er kalt. "Du verstehst doch, dass ich einen gewissen Vorsprung brauche. Und die Schnauze halten, das kannst Du sowieso nicht." Jetzt war er durch das Messer abgelenkt. Sie nahm sich ein Herz und hechtete los, schnellte durch das Wohnzimmer, riss die Balkontüre auf, aber da hatte er sie bereits eingeholt. Im schnellen Klammergriff suchte

sie wild um sich schlagend irgendetwas, woran sie sich festhalten konnte. Die Arme ruderten. Die Hand schnappte zu, als sie Leinen verspürte. Festhalten, einen Halt finden! Die Vorhänge rissen ab. Sie stürzte nach vorne zu Boden und japste nach Luft. Er presste seine Pranke vor ihren Mund und der Schwung mit der er sie wie ein Tiger angesprungen hatte, schwappte Beide auf den Balkon hinaus. Er atmete schwer, keuchte entweder vor Anstrengung, oder vor Erregung. Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Todesangst! „Ich kann das Risiko nicht eingehen“, flüsterte er ihr stoßweise ins Ohr. „Das musst du doch einsehen. Ich werde wegen Mordes gesucht.“ Der heiße Atem blies ins Trommelfell. Und

während er ihr erklärte, dass es ihm nun auf einen zweiten Mord auch nicht mehr ankam, zerrte er sie grob wieder auf die Beine und schob sie langsam immer weiterauf das Balkongeländer zu. Unweigerlich! „Ich werde bestimmt nichts sagen!“ Leider kam nur ein nuschelndes Grummeln hervor und er ließ sich in keiner Weise beeindrucken, sondern schob sie zielstrebig weiter. Sie versuchte erneut sich verzweifelt zu wehren, aber er hatte ihr einen Arm auf den Rücken gedreht und hielt ihren Mund weiterhin verschlossen, so dass sie nicht um Hilfe rufen konnte. Sie wollte das drohende Ende vermeiden und entwickelte ungeahnte Kräfte. Sie wand sich, wie eine Schlange, versuchte zu treten. Er aber hatte sie fest im

Griff. Sie fühlte sich wie in einem Schraubstock, aber einen Arm hatte sie noch frei. Wild peitschte sie damit um sich. Im Blumenkasten, der am Balkongeländer eingehängt war, lag noch eine Harke. Sie fischte rudernd danach, bekam sie zu fassen und schlug damit blind mit aller Kraft in einem Halbbogen nach hinten. Sie traf Karl mitten ins Gesicht. Er schrie fürchterlich auf, brüllte, schlug die Hände vor die Augen und riss die Harke heraus. Karin drehte sich, um von ihm weg zu kommen, stolperte rückwärts und stürzte zu Boden. Ihm rann ein entsetzlicher Blutstrom durch die Finger samt Augenflüssigkeit. Er wand sich vor unsäglicher Pein, wie eine unkontrollierter Ast im Sturm, wankte und konnte sich fast

nicht mehr auf den Beinen halten. Er taumelte wie ein Betrunkener, wimmerte tierische Laute ob dieser unsäglichen Schmerzen, die an ein Schluchzen aus dem tiefster Seele erinnerte. Aber diese Töne kamen aus dem Inneren, aus den Tiefen unmenschlicher, gefolterter Brust. Er torkelte auf das Geländer zu, sie trat nach ihm. Er verlor das Gleichgewicht und verschwand, wie ein Hauch in der Tiefe. Er schrie nicht, sondern stürzte ohne einen Laut hinunter. Er hatte Sekunden später ausgelitten. Arielle, die Meerjungfrau hatte genügend geplanscht.

Die Sendung war vorbei und die leeren Augenhöhlen des Teddybärs im Gang hatten das Drama nicht mitbekommen.

Karin lag schwer atmend, erschöpft auf dem Balkon, allein. Der Totenkopf auf dem Schneidbrett, Verzeihung Jochen, hatte auch nichts mehr dazu zu sagen.

0

Hörbuch

Über den Autor

welpenweste
Ich versuche mit guten Geschichten zu unterhalten.
Hoffentlich glückt es.
Ich bin Jahrgang 1958, in München geboren.
Seit meiner Kindheit schreibe ich, habe aber nie eine Profession daraus gemacht. Meine zarten Versuche mal eine meiner Geschichten bei einem Verlag zu veröffentlichen sind gescheitert.

Hier gibt es eine Auswahl von Kurzgeschichten aller Art. Sie sind in ihrer Kürze dem Internet und e-pub Medium angepasst.

Leser-Statistik
21

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
CHM3663 Hut ab! Hier hast Du mal wieder ganz fantastisch Schritt für Schritt die Spannungsschraube angezogen, Deine Leser mitfiebern lassen, ob das alles echt oder nur Einbildung ist, und einen stinknormalen, gemütlichen Alltagsabend nach und nach in ein Horror-Szenario verwandelt. Diese tolle Geschichte hat mich von Anfang an gefesselt und begeistert! Dieser Spannungsaufbau ist absolut genial!
Alle Achtung, herzlichen Dank und viele liebe Grüße,
Chrissie
Vor langer Zeit - Antworten
Kornblume Hallo Günter, sitze hier um Mitternacht ganz allein und lese nichtsahnend Deinen Krimi. Trau mich nicht mehr ins Bett ,verbarrikadiere die Wohnzimmertür, draußen im Flur schleicht jemand ,"Wer kann das bloss sein, um diese Zeit", denke ich. Da ertönt ein fürchterlich gräßliches Lachen.
Hil................................................................................................
Vor langer Zeit - Antworten
schnief Ein super Krimi!
LG Manuela
Vor langer Zeit - Antworten
gela556 Ich wäre gerannt.
Wohin???
Keine Ahnung, einfach nur fort von so viel grusliges, lächle nett.

Hat mir Freude bereitet, es zu lesen
LG, Gela
Vor langer Zeit - Antworten
Marle Das ist mal ein Krimi besonderer Art. Spannend zu lesen.
Echt Klasse geschrieben.
(Bitte korrigiere die Tippfehler, die mindern das Buch)
Liebe Grüße Marle
Vor langer Zeit - Antworten
welpenweste Danke für den Hinweis, habe bereits den Radiergummi geschwungen.
Günter
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
6
0
Senden

150301
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung