Kurzgeschichte
Eine Seele von Mensch

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"Eine Seele von Mensch"
Veröffentlicht am 03. Januar 2017, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Eine Seele von Mensch

Eine Seele von Mensch


Hartmut Guntram war eine Seele von Mensch. So war zumindest die einhellige Meinung in dem Viertel, das er bewohnte. Er grüßte immer freundlich, half auch gerne wenn es etwas zu helfen gab. Hartmut liebte es, überall beliebt zu sein. Er mochte es, wenn ihn allezeit nur freundliche, fröhliche Gesichter entgegenblickten, Gesichter, die nichts aber auch gar nichts von seinem Doppelleben ahnten. Ja, er hatte ein Doppelleben! Sein Bürojob bei einer Versicherung brachte ihm zwar genug zum Leben ein, aber ihn drang es nach Höherem. Er war wie ein Künstler, der immer das Ziel vor Augen hatte, ein

großes Gemälde zu fertigen, eine weltbekannte Skulptur zu schaffen. Nur dass sein Ziel darin bestand, mittels eines richtig großen Coups landesweit bekannt zu werden, ohne wirklich bekannt zu sein. Denn er stellte es sich großartig vor, wenn alle über etwas reden, ohne auch nur im Entferntesten zu ahnen, dass er, der nette Nachbar von nebenan, dahinter steckte, hinter dem genialsten Einbruch seit Jahren. Er hatte alles schon mit seinem Kompagnon Karl "Kalle" Ritzfelder abgeklärt. Morgen nacht sollte die Sache steigen. Er ballte die Faust in der Manteltasche als er die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg. Übermorgen würde er berühmt sein!


Gleich am nächsten Tag traf er sich mit Kalle im "Bierbecher", einer schmierigen Kneipe am anderen Ende der Stadt, wo ihn keiner kannte. Kalle war mit einem Grundriss eines großen Hauses angekommen, den er sogleich ausbreitete, als die schlecht gelaunte Kellnerin ihnen Bier und Korn gebracht hatte. "Hier", Kalle deutete auf ein Kreuz an der äußeren Mauer des Grundrisses, "ist das Fenster, das nicht mehr richtig schließt. Am Montag soll es repariert werden, bis dahin muss der Coup über der Bühne sein. Die Familie will trotz des Sicherheitsmangels aber nicht auf die Opernpremiere verzichten,

die morgen im Staatstheater aufgeführt wird. Niemand wird im Haus sein. Das ist die ideale Gelegenheit!" Er deutete jetzt auf ein kleines Zimmer in der Ecke des 1. Stockwerks: "In diesem Zimmer befindet sich der Safe mit den 500 Riesen und den Schmuckcolliers der Hausherrin. Marie hat die Nummer aufgeschrieben." Hartmut lächelte und lehnte sich zurück. Marie Scheidwitz, das Hausmädchen in der Villa war die Verlobte von Kalles Bruder, der zur Zeit wegen verschiedener Delikte gesiebte Luft atmete. Sie war der Garant für das Gelingen ihres Coups, war die undichte Stelle im trockenen Herrenhaus. Am morgigen Abend, wenn alles dunkel war

im vornehmsten Viertel der Stadt würde seine Stunde kommen. Er sagte zum ersten Mal während des Treffens ein Wort: "Gut!"

Der Wind strich durch die Bäume des weiten Parks. Es war stockfinster in diesem abgelegenen Stadtteil weit draußen, weg vom Lärm und Trubel, eine teure Ruhe, kostete doch jede dieser Villen einige hunderttausend Euro. Hartmut und Kalle schlichen, ganz Profis, auf leisen Sohlen durch den Park und auf die Ostfront der Villa zu. Im 1. Stock, gleich beim Fenster, befand sich ein langer, eisernen Haken, an dem im Sommer die Blumenkästen befestigt

wurden. An diesem Haken war, fast mit der Wand verschmolzen, ein Seil aufgehängt, mit Knoten für die Füße versehen und absolut reißfest. Marie hatte es hinausgehängt, bevor sie wie üblich als Letzte das Haus verlassen hatte. Hartmut kletterte mit erstaunlicher Behendigkeit hinauf und steckte einen kleinen Draht durch den kaum fingerbreiten Abstand, den das kaputte Fenster hinterließ. Er fuhrwerkte einige Zeit herum, dann konnte er mit den, selbstverständlich handschuhbewehrten, Händen das Fenster aufdrücken und hineinsteigen. Kalle folgte auf ebendemselben Weg nach. Sie brauchten keine Taschenlampen, waren ja schon oft

hier gewesen, getarnt als Techniker einer Telekommunikationsfirma. Zuvor hatte Marie in einem unbeobachteten Moment die Telefonanlage sabotiert und dann behauptet, sie kenne eine fähige Firma, die schnell, sauber und preiswert arbeite. Niemand hatte Anlass zur Beunruhigung verspürt, war doch alles tatsächlich erledigt worden wie versprochen. Nach dieser eindringlichen Sondierung der Lage im obersten Stock konnten sie sich so nur mithilfe einer Mini-Leuchte, wie sie an Schlüsselanhängern gewöhnlich befestigt war, zurechtfinden, die sie gelegentlich aufblitzen ließen. So gelangten sie ohne große Probleme in das Arbeitszimmer des Hausherren, wo

der etwas altmodische, aber grundsolide Safe stand, dessen Nummer das hinterlistige Hausmädchen herausgefunden hatte, freilich nicht gratis, verlangte sie doch eine ansehnliche Beteiligung an der Beute. Mit etwas zitternden Händen drehte Kalle an der Mechanik. Ein erleichterndes Aufseufzen, als die Tür klickend aufsprang und die ganze Herrlichkeit preisgab. Säuberlich aufgereiht waren da Geldbündel, Hals- und Armketten, kostbare Rubine und und und...Hartmut musste sich zurückhalten. Jetzt war Vorsicht geboten! Gier und scheinbare Sicherheit hatten schon so manchen Coup vereitelt. Vorsichtig, aber

zügig packte er die Schätze in einen Leinenbeutel, den er in seinem Rucksack verstaute. Auch Kalle folgte seinem Beispiel und sackte gründlich ein. Nach nicht einmal 5 Minuten verließen sie den Raum wieder in Richtung Fenster. Hartmut wollte gerade vorsichtig hinaussteigen, als er auf einmal ein Wimmern vernahm. Er stutzte. Weinte da etwa ein Kleinkind? Er horchte. Ja, das war eindeutig ein Kind, wohl im angrenzenden Zimmer! Ob er kurz...? "Kalle! Ich muss nochmal kurz!" flüsterte er in die Dunkelheit und huschte zur Zimmertür. "Mensch Hartmut! Du kannst da jetzt nicht rein! Wir müssen weg!" Kalles Beschwörung

hörte Hartmut nicht mehr, er zog schon leise die Zimmertüre auf. Kurz blitzte die Lampe auf. Was er sah, rührte ihn. Ein etwa 3jähriges Mädchen saß aufrecht in ihrem Laufstall und weinte bitterlich. Sie war offensichtlich allein gelassen worden. Auf dem Nachttisch stand eine Flasche mit kaltem Tee oder etwas ähnlichem. Hartmut schaltete schnell: Die Gefahr, dass das Kleinkind ihn beschreiben konnte, bestand nicht. Andererseits war er empört über Eltern, die ihr kleines Kind einfach so allein im Haus zurückließen, ohne Rücksicht und nur aus Eigennutz. Er huschte zum Nachttisch und griff nach der Flasche, die einen Zugverschluss besaß, damit sie

nicht umfiel und auslief. Er öffnete die Flasche und gab sie dem Mädchen. Begierig trank sie und setzte erst ab, als die Flasche leer war. Dann sank sie in Sekundenschnelle nieder und schlief wieder ein. Hartmut war den Tränen nahe. Er beugte sich herunter und strich ihr über das Gesicht. Dann verließ er das Zimmer.

Am nächsten Morgen wurde er durch das Klingeln der Türglocke geweckt. Schlaftrunken öffnete er die Tür. Als er die zwei Polizisten, die davor standen, sah, jagte es ihm wie ein Schock durch den Körper und blitzschnell war er hellwach. "Herr Hartmut Guntram?"

fragte der Eine, eine hagere, hochgewachsene Person von Mitte 40. "Ja, was gibt es denn?" gab sich Hartmut ahnungslos. War etwas schiefgegangen? Hatte Marie ausgepackt? "Herr Guntram, wir nehmen Sie fest aufgrund des Verdachts, dass sie gestern Nacht in die Villa der Familie Steiner eingestiegen sind und den Safe ausgeräumt haben. Bitte ziehen Sie sich an und begleiten uns aufs Präsidium!"

Die Worte des dicklicheren der beiden Polizisten klangen Hartmut noch nach, als er im Verhörraum saß und wartete. Eigentlich konnten sie ihm nichts nachweisen, er hatte mit Sicherheit keine

Spuren hinterlassen...seine Kompagnons? Die logen, um sich selber aus der Schlinge zu ziehen! Plötzlich hörte er Stimmen vom Gang, die Tür war nur angelehnt. "...ganz schön blöd", vernahm er eine helle Stimme, "er hat zwar den perfekten Coup durchgezogen, aber einen unverzeihlichen Fehler begangen." Eine zweite, tiefe Stimme meldete sich zu Wort: "Wieso? Welchen denn?" " Er hat sich zwar redliche Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen, aber seine Kinderliebe hat ihm die Suppe versalzen. Er hat wohl Sandra, der kleinen Tochter der Hausherren, zu trinken gegeben als sie in der Nacht geweckt wurde und schrie. Um dies zu tun musste er

allerdings den Verschluß der Flasche öffnen. Und da haben wir seine Fingerabdrücke sichergestellt, weiß der Kuckuck warum er ausgerechnet da seine Handschuhe abgestreift hat!" Hartmut wurde schlecht, er erinnerte sich. Dieser verdammte Verschluß war für seine Finger mit Handschuhen viel zu klein gewesen. Er hatte sie ausgezogen! Er sank kraftlos in den Stuhl.

Die Meinung unter den Nachbarn hatte sich nicht geändert: Ein bedauerlicher Irrtum musste es sein, dass ausgerechnet Hartmut Guntram verhaftet wurde. Es würde sich gewiss bald aufklären. Er war schließlich ihnen besser bekannt als der

Polizei, bekannt als eine Seele von Mensch.

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