Kapitel 30
,,Ich weiß es nicht.“ Balthasars Worte hatten für Mharis Bemühungen das Ende bedeutet. Selbst wenn der König Erindals sie unterstützen würde, viele der anderen Fürsten der freien Königreiche würden es sich nun zweimal überlegen, sich gegen den Kaiser zu stellen. Und ihr Clan war in alle Winde verstreut. Damit hatte Caius wohl alles erreicht, was er wollte, dachte Erik, während er über die Karge Ebene hinweg sah, die sich vor ihm erstreckte. Der felsige Untergrund aus dem immer wieder große Findlinge hervor ragten,
bot höchstens Flechten und Moosen Nahrung und wo die Felsen einmal verschwanden, wandelte der Boden sich in Sümpfe und Morastgruben, in denen sich das Schmelzwasser aus den nahegelegenen Bergen sammelte. Erik konnte die hohen Felsgipfel sehen, die im Norden in den Himmel ragten. Auch wenn sie noch mehrere Tagesreisen davon entfernt waren hatte er bereits das Gefühl, nur die Hand ausstrecken zu müssen um die Berge zu berühren. Schnee glitzerte auf ihren Gipfeln und auch Erik war, als könnte er dabei zusehen, wie sich die weiße Schicht langsam die Felsen hinab ausbreitete. Noch hatte der Winter das Land nicht
im Griff auch wenn die Tage begannen kürzer zu werden. Nachts jedoch begann sich bereits der erste Frost bemerkbar zu machen und wenn sie Morgens erwachten, waren die felsigen Ebenen von Eis überkrustet und das Wasser in Sumpflöchern und Gruben erstarrt. Niemand lebte hier draußen, zumindest hatte Erik bisher keine anderen Menschen gesehen. Geschweige denn Gejarn. Lediglich ein paar Rentiere die sich von den Flechten der Ebene ernährten bekamen sie zu Gesicht, jedoch hatte selbst Cyrus seine Schwierigkeiten nahe genug an sie heranzukommen um eines zu erlegen. Und so ernährten sie sich Größtenteils von trockenem Brot
und Dörrfleisch und was sie sonst noch aus der Siedlung hatten retten können.
Hasparen war mit Immerson eines der Kernländer der Menschen und obwohl es heute nur noch dünn besiedelt war, hatte hier in diesen Ebenen und hinter den verschneiten Gipfeln einst das Kaiserreich der Ordeal seinen Anfang genommen. Zwei Wochen lang führte ihr Weg sie nun schon beständig nach Nordwesten. Anfangs hatten sie sogar wieder den gleichen Weg eingeschlagen, den sie gekommen waren, vorbei an dem einsamen Gasthaus am Händlerweg. Dann jedoch führte Mhari sie fort aus den freien Königreichen und über die Grenzflüsse hinauf in die kargen Ebenen
Hasparens. Trotz ihrer besonderen Art zu Reisen nahm der Weg mehr Zeit in Anspruch als der von Vara zum roten Tal. Und er wurde bei weitem beschwerlicher. Gegen die aufkommende Kälte hatten sie sich bei einem fahrenden Händler mit Pelzen und schweren Umhängen eingedeckt, doch bot diese nur wenig Schutz vor einem ausgewachsenen Sturm. Es gab in diesem kargen Land nur wenig, das Schutz vor Wind und Wetter bieten konnte und so hatten sie mehr als einmal im Schatten eines großen Felsens oder in einem Wald voller verdrehter Kiefern ausharren müssen, während Blitzen die Wolken von innen zum Leuchten brachten und
Regenschauer über sie niedergingen. Zumindest im Augenblick jedoch, war der Himmel klar und Erik konnte die Ebene von Horizont zu Horizont überblicken.
Mhari stützte sich auf den Tränen-Speer, den sie als einzigen der acht Steine in ihrem Besitz niemanden sonst anvertraut hatte und schien nach etwas zu suchen. Doch was immer es war, Erik konnte jedenfalls nichts erkennen. Das Land vor ihnen war genauso öde und leer, wie schon die letzten Tage über.
,, Was machen wir hier draußen überhaupt ?“
Die Gejarn antwortete ihm nicht, sondern sah nur weiter stur grade aus.
Generell hatten sie in den letzten Tagen kaum zwei Worte miteinander gewechselt. Es schien beinahe, als hätte er sich jenen Moment kurz vor dem Angriff nur eingebildet. Oder vielleicht versuchte sie ihn jetzt doch zu vergessen. Und obwohl er oft genug erlebt hatte, das sie ihre Emotionen schlicht wechselte und kontrollierte. Nun jedoch fühlte er sich dadurch nur vor den Kopf gestoßen. Es war irritierend…
,, Mhari ?“
,, Erik…“ Ihre Stimme war leise und kaum mehr als ein Flüstern. ,, Ich bin grade wirklich darum bemüht euch nicht umzubringen… tut mir einfach den gefallen und schweigt. Es genügt das ihr
mein Dorf nieder gebrannt habt…“
,, Man könnte sagen wir sind quitt. Und ich habe uns gerettet.“
,, Ihr habt eine wirklich seltsame Vorstellung vom Retten, wisst ihr das ?“
,, Ach wirklich habe ich das ? Ich bin nicht derjenige, der genug Drachenfeuer bei Seite geschafft hat um einen See damit zu füllen.“
Cyrus sah ihrem Schlagabtausch eine Weile lang zu. ,, Könnt ihr nicht einfach…“ , setzte er schließlich an, kam jedoch nicht dazu, den Satz zu beenden, als Mhari und Erik fast gleichzeitig zu ihm herum wirbelten.
,, Euch hat keiner gefragt !“ Der Wolf machte einen unwillkürlichen Schritt
rückwärts, während Mhari und Erik sich nur einen Moment wortlos ansahen. Er wusste später nicht mehr zu sagen, wer von ihnen zuerst lachte. Vermutlich er. Aber Mhari konnte nicht viel später darin eingestimmt haben.
,, Geister… Ihr seid wirklich viel zu sehr wie er.“ Und da waren sie wieder, dachte Erik. All die Fragen, die nach wie vor im Raum standen. Er war es nicht, der versuchte ihnen ständig irgendetwas vorzuenthalten. Und doch ließ Mhari ihn dastehen, als hätte er etwas Schlechtes getan. Kalt und Abweisend nur um im nächsten Moment doch wieder versöhnlich zu scheinen? Vielleicht war es die Wut darüber, die
ihn sprechen ließ. So oder so… seine Geduld war am Ende. Mit ihr und mit all dem hier.
,, Mhari… ich muss jetzt einfach die Wahrheit wissen. Wer… was seid ihr, ich habe gesehen, wie ihr Magie nutz, das sollte einem Gejarn überhaupt nicht möglich sein. Und wie hat der Kaiser uns gefunden ? Da steckt doch auch mehr dahinter. Ich habe euch gesehen, ihr… Ich brauche Antworten.“
Alles an Mhari war ihm nach wie vor ein Rätsel. Vielleicht war es das, was ihn so an ihr faszinierte… auf eine Art, die er nicht Freundschaft oder Liebe nennen wollte. Oder Wut. Manchmal schien ihm, als stecke mehr dahinter, als würde er
sie bereits lange Zeit kennen, obwohl er ihr erst vor einigen Wochen zum ersten Mal begegnet war. Vertraute oder Seelenverwandte schien passender und doch klang es noch lächerlicher. Sie hatten praktisch nichts gemein und waren bei nichts einer Meinung. Und dennoch klang sie manchmal genau so verrückt und verloren wie er. Also war auch das nicht die ganze Wahrheit. Wie alles an dieser Frau nicht ganz die Wahrheit zu sein schien. War vielleicht auch der Kuss bloß Teil davon gewesen? Sie hatte ihn nicht angelogen, das würde er hoffentlich merken… aber das hieß auch nicht, dass sie ihm auch nur einmal die ganze Wahrheit gesagt hatte. Bis
jetzt…
,, Was den Kaiser angeht, glaube ich nicht, das er unsere Spur je verloren hat. Nicht ganz zumindest. Er muss gewusst haben, was ich vorhabe, nachdem ich die letzte Träne in meinen Besitz gebracht habe. Den Rest zu erklären könnte… etwas dauern.“
Erik verschränkte die Arme vor der Brust. ,, Ich habe Zeit und auch wenn ihr es mir vielleicht nicht glaubt, ich bin ein sehr guter Zuhörer.“
,, Zeit bis der Kaiser uns eventuell einholt ?“
,, Euer Risiko.“ Sie brauchte ihn, dessen war er sich inzwischen sicher. Irgendwie. Vielleicht war das eine der
Antworten, die er gar nicht hören wollte. Das Ergebnis jedenfalls, blieb dasselbe. Ginge er nicht, ging sie auch nirgendwo hin. Und er würde jetzt nicht klein bei geben. Nicht mehr…
Mhari drehte sich langsam zu ihm um. Ein schweres Seufzten entkam ihr. ,, So sei es denn. Kein Versteckspiel mehr.“ Ein dünnes Lächeln huschte über ihre Lippen, bevor sie direkt vor ihn trat. Und dann schien Mharis Form mit einem Mal zu verschwimmen, als würde er sie nur noch als Spiegelbild auf trübem Wasser oder Nebel sehen. Doch war es nicht Nebel, der ihm die Sicht nahm, es war Licht. Grellweiß und strahlend genug, das es ihn zwang, die Augen zu
schließen. Und selbst das schien nicht auszureichen. Erik konnte grellbunte Nachbilder vor seinen Liedern tanzen sehen und den roten Schein, als die Helligkeit hindurch drang. Cyrus schien es kaum besser zu gehen, er konnte den Wolf etwas rufen hören, doch drang es nur wie aus weiter Ferne zu ihm. Und von dem Licht ging Wärme aus, wie von einem lauen Sommertag. Langsam wurde das Glühen schwächer und erträglicher. Trotzdem wagte er es nicht, die Augen zu öffnen. Er hatte das Gefühl etwas gegenüberzustehen, das nicht mehr für sterbliche Augen gedacht war. Ein Wesen von einer Macht und Schönheit, das die unvorbereiteten in den Wahnsinn treiben
könnte. Bis zu diesem Augenblick hatte er selten so etwas wie Ehrfurcht verspürt. Nun jedoch zitterte er, als das Licht um ihn herum endgültig verlosch. Der Tag schien ihm mit einem Mal Finster und kalt genug, dass er fror. Und dennoch hielt er die Augen geschlossen, bis er spürte, wie ihn jemand an den Schultern fasste. Vorsichtig blinzelte er, doch da war nur Mhari, die wie eh und je vor ihm stand. Und ihm einen Kuss auf die Stirn gab.
,, Das ändert aber nichts.“ Es klang mehr wie eine Frage. ,, Wisst ihr, ihr seid süß… für einen extrem dummen Sterblichen.“
,, Was seid ihr ?“ Eriks Stimme war
kaum ein Flüstern. Mit einem Mal war er scheu geworden, wäre vielleicht sogar vor ihr zurück gewichen, hätte sie ihn nicht nach wie vor fest gehalten.
,, Die Elfte.“
Erik brauchte einen Moment bis er verstand, was sie ihm damit sagte. Dreizehn oder zwölf, welchen Unterschied machte das. Mhari war weder eine Gejarn noch ein Mensch. Sie war eine Unsterbliche.
,, Euer Clan weiß es oder ? Sie haben euch Herrin der Nebel genannt, nicht Älteste als sie euch begrüßten…“
,, Natürlich. Ich habe bereits die Ahnen der meisten von ihnen geführt. Sie wissen vielleicht nicht genau was ich
bin, aber das ich… aufgehört habe eine der ihren zu sein ist ihnen natürlich nicht entgangen.“
,, Aufgehört ?“ Eriks Stimme war nach wie vor kaum mehr als ein Flüstern.
,, Wenn ihr euer Gesicht grade sehen könntet. Ich wurde nicht als Unsterbliche geboren, Erik.“
,, Und wie… wird man bitte ein Unsterblicher ?“
Als Mhari Antwortete, war ihr e Stimme fast genau so leise, wie Eriks. ,, In dem man einen tötet.“
Erik wusste eine Weile nicht, was er sagen sollte. Sie log ihn nicht an. Nicht was das hier anging zumindest. Und es erklärte einiges. Aber immer noch nicht
alles…
,, Ich glaube ich habe dich noch nie Sprachlos erlebt.“ , bemerkte Cyrus, der sich scheinbar deutlich schneller von dem Schock erholte, als er. Oder hatte er es gewusst, irgendwie gewittert, das Mhari nicht ganz war, was sie vorgab zu sein?
,, Noch ein Wort, Wolf und ich mache mir doch ein paar Handschuhe…“ Er wendete sich wieder Mhari zu. ,, Ich verstehe es nicht. Welche Rolle spielt ihr bei all dem? Ich meine… wenn ihr wirklich seid was ihr behauptet, warum ist der Kaiser für euch überhaupt ein Problem?“ Er hatte die Macht gespürt, über die dieses Wesen, das sich Mhari
nannte, verfügte. ,, Es gibt nichts, das er euch entgegen zu setzen hätte. Ihr hättet seine Armee vor eurem Dorf vernichten können…“
,, Das ist…schwer zu erklären. Man würde es nicht zulassen, selbst wenn ich gewillt wäre, so etwas zu tun.“
,,Man ? Ihr meint die anderen Unsterblichen? Was ist mit ihnen? Wenn ihr den Kaiser bekämpft, warum sie nicht?“ Warum seid ihr alleine? Er wagte es nicht, die letzte Frage auch zu stellen. Und dennoch brannte sie ihn auf der Zunge.
,, Die kümmert noch weniger, was ich oder irgendjemand tut, als einen Stein. Die meisten von ihnen sind schon vor
Jahrhunderten verschwunden Erik. Viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Wir wurden als Wächter dieser Welt geschaffen. Aber unsere eigene Macht erschreckte viele von uns. Und deshalb kamen die ersten von uns überein, dass sie niemals einsetzen würden, solange es noch eine andere Möglichkeit gab. Es scheint manche von uns sind einen Schritt weiter gegangen und greifen auch nur noch ein, wo sie es nötig sehen. Einst gab es zwölf von uns aber jetzt… Ich glaube ich bin die einzige, die sich noch an ihre Aufgabe erinnert. Es ist Jahrhunderte her, dass ich einen der anderen auch nur gesehen habe. Vielleicht würden sie nicht einmal mehr
eingreifen wenn ich versage. Und doch muss der Kaiser aufgehalten werden. Und das ist, was ich vorhabe zu tun. Mit oder ohne Hilfe.“
Erik konnte nicht umhin festzustellen, wie viel Einsamkeit aus ihrer Stimme sprach. Wer so lange gelebt hatte wie sie pflegte wohl wirklich nicht viele Freundschaften. Was war ein Menschenleben im Vergleich zu ihrem? Nichts, ein Augenblick nur. Und doch stand sie hier, als ihr letzter Wächter… um sie zu verteidigen. Aber war das wirklich alles? Erneut hatte Erik nicht das Gefühl, das sie log. Aber auch nicht, das sie ihm die ganze Wahrheit sagte… Und es schien auch die Tränen in ein
neues Licht zu rücken.
,, Wisst ihr was ich immer noch nicht verstehe… Warum sollte der Kaiser die Tränen Falamirs überhaupt aus den Augen lassen? Ich gehe davon aus, dass er weiß, was ihr seid… Warum also geht er dieses Risiko ein statt die Steine weg zu schließen?“
,, Ich sehe man kann euch wenig vormachen. Es gibt wenig, das einem Unsterblichen gefährlich werden kann, Erik. Eine Träne jedoch… ist eines dieser Dinge.“
,, Ihr wolltet sie also haben um euch selbst zu schützen.“
Mhari nickte. Wieder eine Wahrheit. Aber war es auch die ganze? Sein Blick
wanderte zum Kristall auf der Spitze des Speers, den sie immer noch trug. Wenn der einzige Zweck der Tränen für Mhari war, sie dem Kaiser vorzuenthalten… war es dann Zufall, dass sie den Speer nicht ebenfalls hatte verstecken lassen? Erik seufzte. Er hatte Antworten, aber welche mit denen er im Leben nicht gerechnet hätte. ,, Und nun ?“
Die Gejarn lächelte. ,, Hasparen ist einer der wenigen Orte, die außerhalb der Reichweite des Kaisers liegen. Zumindest im Moment. Die Provinz hat sich als eine der ersten los gesagt, als die Unruhen begannen. Und geschützt wird sie von Männern, die man die goldene Garde
nennt.“
,, Und diese Garde…“
,, Wird geführt von niemand anderem als Macon Ordeal. Wir werden ihn suchen… und diesem Land wieder einen rechtmäßigen Kaiser geben.“