Kapitel 18
Das rote Tal war wie eine Narbe in der Landschaft, als wäre hier ein Stück der Welt selbst einfach herausgeschnitten worden. Eine rote, klaffende Wunde, die sich von Westen aus in Richtung Osten zog und am Horizont verschwand, eine Grube, breit genug um eine ganze Stadt zu verschlucken und lang genug um ein halbes Königreich darin verschwinden zu lassen . Klippen, zu glatt, als das man sie ohne Hilfsmittel erklimmen könnte, fielen steil nach unten ab und legten dabei tiefrote Felsen frei, die im Licht der aufgehenden Sonne wie mit Blut
übergossen wirkten. Erik wusste mit einem Mal, warum man diesen Ort das rote Tal nannte. Selbst der Staub, der die Ebenen in der Tiefe überzog, hatte eine rostrote Farbe und bedeckte alles, von den Blättern der Bäume, die im Schutz der Felsklippen gediehen, bis hin zu den Ruinen, die er aus der Höhe erspäht hatte. Einst mochten die eingefallenen Mauern und Kuppelbauten, die sich entlang einer staubigen Straße aufreihten in reinem Weiß erstrahlt haben. Durch den Sand jedoch, der über die Äonen mit ihnen verbacken war, schimmerten die Trümmer nun eher rosa. Zersprungene Säulen säumten die einstmals gepflasterten Wege der antiken
Stadt und gaben einen Eindruck davon, wie groß sie wohl einst gewesen sein mochte. Gigantisch, war das erste Wort, das Erik einfallen wollte. Vielleicht hatten Straßen und Gebäude einst den gesamten Tal-Grund bedeckt. Nun jedoch waren von den meisten Bauwerken nur Trümmer und lose Steinhaufen geblieben, durch die Wind und vielleicht die Geister heulen mochten.
Dieser Ort war uralt… und bereits seit langer, langer Zeit verlassen. Ähnliche Ruinen fand man auf dem ganzen Kontinent, wenn auch selten so offen zugänglich wie hier. Die meisten waren längst von der Vegetation überwuchert, ihre Schätze und Geschichten
Grabräubern und Dieben zum Opfer gefallen. Das alte Volk hatte ein gewaltiges Erbe hinterlassen, als es aus der Welt verschwand. Das meiste davon jedoch, war nicht von Dauer gewesen. Lediglich die fliegende Stadt selbst kündete noch von der einstigen Macht über die das Zauberervolk einst verfügt haben musste. Geblieben, war am Ende trotzdem nur Staub…
,, Das ist unglaublich…“ Erik war bis an den Rand der Klippen getreten und sah über das Tal und die tote Stadt hinweg. ,, Wie kommen wir am besten da runter ?“
Götter, diesen Ort musste er sich ansehen, dachte er. Egal, was Mhari
davon halten mochte. Die Gejarn jedoch grinste ihn lediglich an, genau wie Cyrus, der sichtlich Mühe hatte, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
,, Was ?“ Erik sah sich ratlos zwischen den beiden um.
,, Es ist nur… du siehst grade aus wie ein kleines Kind, kurz vor dem Winter-Fest.“, meinte der Wolf.
,, Und? Ihr habt wie ein kleines Kind geschrien als ihr einen Pfeil im Bein hattet.“ Das schien offenbar zu reichen um den Wolf zum Schweigen zu bringen, als er sich an Mhari wandte. ,, Und ihr ? Ich meine… euer Clan lebt hier, habt ihr euch nie Gedanken darüber gemacht, was hier alles verborgen liegen
könnte?“
,, Nein.“ Damit schien das Gespräch für Mhari beendet, den sie gab ihnen lediglich ein Zeichen ihr zu folgen, während sie einen kleinen Ziegenpfad in der Felswand hinab stieg. Und mehr war es wirklich nicht, dachte Erik. Auf einer Seite ragten die roten Klippen wie eine undurchdringbare glatte Mauer auf. Und auf der anderen erwartete einen der freie Fall in die Tiefe. Die Baumwipfel im Schatten des Abhangs wirkten aus der Höhe fast wie Spielzeug und das einzige, das sie davon treten, war ein schmaler Felsvorsprung, auf dem man sich mehr voran schob, als das man ging. An Manchen Stellen bot er nicht einmal
genug Platz für beide Füße neben einander.
,,Nein ?“ Erik brachte eine Weile um die Lähmung abzuschütteln. . ,, Kennt ihr so etwas wie Neugier den überhaupt nicht ?“
,, Neugier schon.“ , erwiderte die Gejarn immer noch lächelnd. ,, Wir wissen nur auch, dass man manche Geheimnisse besser ruhen lässt.“
,, Aber ein ruhendes Geheimnis ist doch langweilig.“ Erik schob sich an einer weiteren Felswand vorbei, wo der Pfad so schmal wurde, dass ihre Schuhe ein Stück über den Abgrund ragten. Oder besser, seine. Cyrus und Mhari waren wie die meisten Gejarn barfuß unterwegs
und fanden dabei erstaunlich gut halt, obwohl der Felsgrat hier leicht abschüssig verlief.
,, Würdet ihr auch herausfinden wollen, wie lange ihr braucht um unten anzukommen, solltet ihr fallen ?“ Der trockene Ton in dem die Gejarn sprach reicht aus um bei ihm eine Gänsehaut auszulösen. Götter, musste sie das wirklich unbedingt ansprechen? Er hatte beim besten Willen keine Höhenangst aber das hier war doch etwas anderes…
,, Nein ?“ , fragte er schließlich und war froh , als er das Ende des abschüssigen Wegs erreichte. Mittlerweile war der Grund des Tals bereits ein gutes Stück näher
gekommen.
,, Und genau so sieht es für uns mit den Ruinen aus. Manche Dinge brauch man nicht erst ans Licht zerren um zu wissen, dass sie besser verborgen hätten bleiben sollen.“
,, Ihr meint also, man soll lieber kein Risiko eingehen ?“ Erik verzog das Gesicht. ,, Langsam verstehe ich warum euer Volk immer noch in Hütten wohnt.“
Trotzdem atmete er erleichtert auf, als sie schließlich das Ende des Pfads erreichten. Die Felsen führten durch einen hohen Kamin hinab, bis ihr Weg schließlich auf einer Wiese am Waldrand endete. Die Sonne stand mittlerweile direkt über ihnen und brannte auf das
Land hinab, das sich vor ihnen erstreckte. Ausgedörrte, gerissene Erde in Rot und braun Tönen bedeckte das Zentrum des Tals. Einzelne Windhosen wirbelten dichte Staubwolken in Ocker und Rottönen auf und brachten das spärliche, gelbe Gras zum schwanken. Lediglich im Schatten der Klippen hielt sich etwas Grün, genauso wie in der Nähe eines breiten Flusses, der sich an der Ruinenstand vorbei schlängelte, die sie bereits von oben gesehen hatten. Selbst das Wasser hatte, wie Erik beim Näherkommen feststellte, einen leichten Rotstich . Als er im Vorübergehen eine Hand hinein hielt, hatte sich tatsächlich ein dünner Ring aus roten Partikeln um
das Gelenk gebildet. Doch das Wasser selbst war vollkommen klar und trinkbar. Einmal erspähte er sogar einen Schwarm Fische, der unweit des Ufers zwischen einigen Stromschnellen hindurch jagte.
Das Gras unter ihren Füßen wurde von einer verfallenen Straße abgelöst, die hinein in die zerstörte Stadt führte. Mhari ging voraus, ohne den Ruinen um sie herum große Beachtung zu schenken. Offenbar kannte sie sich hier aus, dachte Erik und warum auch nicht… immerhin sollte sich ihr Clan hier irgendwo verbergen. Auch wenn er zumindest bisher keine Gejarn entdeckt hatte. Nicht, das er sie bemerken würde, wenn
sie das nicht wollten. Aber Cyrus hätte sie sicherlich gewittert und noch gab sich der Wolf ganz entspannt, während er ihnen folgte. Erik hingegen konnte sich kaum satt sehen. Er drehte sich im Gehen einmal langsam um die eigene Achse um wirklich das gesamte Panorama einzufangen. Allein die Grundmauern manche der alten Gebäude nahmen eine Fläche ein, die andernorts als eigener Palast gegolten hätte. Halb verfallene, runde Tempelanlagen, deren zerbrochene Kuppeldächer einst von dutzenden Säulen getragen wurden, säumten die Straßen, zusammen mit lange vertrockneten Brunnen und immer wieder Überreste von alten
Pflastersteinen, die genau wie alles andere hier weiß oder rosa glitzerten.
,, Irgendetwas Interessantes ?“ , fragte er trotzdem.
,, Nicht für mich, aber mir scheint, dieser Ort hat es dir wirklich angetan. Auch wenn ich nicht weiß, was an einem Haufen Felsen so besonders sein soll.“
Erik erwiderte erst gar nichts, aber das Leichten in seinen Augen musste dem Wolf wohl Antwort genug gewesen sein, denn er nickte lediglich. Eine große, fast intakte Hausfassade tauchte vor ihnen auf. Vielleicht hatte sie ebenfalls einmal zu einem Tempel oder ähnlichem gehört, den Erik konnte immer noch die Überreste von Farbe und Inschriften aus
machen. Zwölf Gestalten waren darauf abgebildet und wenn die Farbreste irgendeinen Aufschluss darüber gaben, war einst jede in einer anderen Farbe bemalt gewesen. In einigen der in den Marmor gefrästen Augenhöhlen schimmerten winzige Edelsteine, bei anderen fehlten sie. Blattgoldfetzen umrahmten noch manche der Figuren und die Piktogramme und Runen der alten Sprache. Doch was die Zeichen anging, waren die meisten bereits so verwittert, dass Erik nur einzelne Wortesicher erkannte. Er beherrschte die Sprache der alten Zauberer zwar rudimentär, aber er war bei weitem kein Experte. Und manche der Piktogramme sahen sich in
verwaschenem Zustand so ähnlich, dass er bestenfalls spekulieren konnte. Und doch blieb er vor der Wand stehen und fuhr die Umrisse der zwölf Figuren mit den Fingern nach. In Vara hatte es Abdrucke und Abschriften von tausenden Tafeln und Wandinschriften des alten Volkes gegeben. Doch wirkliche Darstellungen waren selten darunter
Als Mhari merkte, dass weder Cyrus noch er ihr noch folgten, blieb sie schließlich stehen und sah einen Moment zu ihnen zurück. Erik rechnete fest damit, dass sie zum Weitergehen drängen würde, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen kehrte sie mit langsamen Schritten zu ihnen zurück und stellte
sich neben Erik, der nach wie vor die Tafel betrachtete.
,, Wie war das mit der Neugier ?“ , fragte er, doch Mharis ernster Gesichtsausdruck ließ den Spott in seiner Stimme schnell verstummen.
,, Das sind die Unsterblichen.“ , erklärte sie, auf den Speer gestützt und deutete auf die oberste der Figuren. Obwohl die Darstellung nur grob war, meinte Erik tatsächlich so etwas wie Flügel an der Figur zu erkennen. Oder zumindest Federn, die seinen Körper bedeckten… oder umgaben. Schwarze Farbreste schimmerten in den Fugen.,, Der Zwölfe er verlor sich… und er ging seinen Pfad in Schatten zu Ende.“ Mharis Finger
wanderte weiter zu einer Gestalt deren Umrisse ehemals wohl rot und gelb gewesen waren. ,, Der dritte der Herr der Flammen, erschuf seine eigene Welt. Aus Feuer und Asche und an fremden Gestaden.“
,, Was soll das bedeuten ?“
,, Es ist ein Gedicht.“ , antwortete die Gejarn. ,, Oder vielleicht auch eine Prophezeiung . Und es steht hier.“ Sie tippte mit dem Speer gegen die Inschrift am unteren Ende der Tafel. ,, Bevor ihr fragt, ein vorbeireisender gelehrter hat es einst für mich übersetzt.“
,, Und da wisst ihr den Text noch ?“
,, Ich schätze schon.“ Mhari schien einen Moment lang jede der Figuren einzeln zu
mustern, bevor sie wieder zu sprechen begann:
,,Der dreizehnte er fand den Tod
Und zerrstört die alte Welt
Der zwölfte er verlor sich
Und ging seinen Pfad in den Schatten zu Ende
Die elfte steht immer noch Wacht
In Nebel und Dunst und geht ihren langen Weg
Der zehnte , der seine Brüder betrog
Für Gold und Macht und ein Versprechen des Worts
Und der neunte er hinterging sich selbst
Sah Zeit und Raum und zählt die Tage die ihm geblieben
Die achte erschuf ihren
Traum
Herrin von Stahl, Schmiedet Maschinen in der Nacht
Die Siebte hinterließ eine Spur aus Tränen und Blut
Die Klinge des Kriegs zu erleuchten Mut in dunkler Zeit
Der sechste ist lang vergessen, nur nicht von ihm selbst
Und gehüllt hat er in spöttisches Schweigen sich
Der fünfte vergab sein Wort und trug einen Gott mit sich
Der Herr von Glaube und Hoffnung und Betrug
Die vierte verschwand in der Tiefe und Hammerschläge begleiten seinen
Schritt
Der dritte der Herr der Flammen, erschuf seine eigene Welt
Aus Feuer und Asche und an fremden Gestaden
Die zweite sie verging in Zornes Flammen
Ein letztes Opfer der großen Schlacht
Und der erste er fiel an den uralten Feind
Eine Ermahnung für uns wachsam zu sein“
Nachdem sie geendet hatte, schien es zwischen den Ruinen mit einem Mal sehr still zu sein. Nicht einmal mehr der Wind heulte in den leeren Fenstern und selbst der ewige Staubregen schien sich
für den Moment gelegt zu haben.
,, Das Gedicht erwähnt dreizehn.“ , meinte Erik nach einer Weile. ,, Aber da auf der Tafel sind nur zwölf…“
,, Wieder so eine Sache, die man möglicherweise gar nicht ausgraben will. Die Geschichte der zwölf ist entsetzlich genug. Götter, aber nicht ursprünglich als solche geboren, sondern geschaffen vom alten Volk. Als Diener oder Wächter oder vielleicht auch weil sie ihrer alten Götter überdrüssig geworden waren, wer weiß das schon. Aber sie folgten ihren Schöpfern nicht. Stattdessen vergaßen sie sie, sagten sich von ihnen los, selbst als das Ende über das alte Volk kam. Ihre eigene Macht hatte sie erschreckt,
eine Macht die, sollte sie je außer Kontrolle geraten noch viel schrecklichere Zerstörung anrichten könnte, als das Verhängnis, das über das alte Volk kam. Und was danach aus ihnen geworden sein mag, wer kann das schon sagen… Oder ob es sie je wirklich gab…“