Kapitel 5
Der Wolf, den er Cyrus getauft hatte, wartete auf den ersten Blick nichts zu sehen, als Erik schließlich das Ende der Treppe erreicht hatte. Menschen strömten aus den Toren jenseits des kleinen Platzes, auf den die letzten Stufen hinaus führten. Gelehrte, Bedienstete, Glücksritter und Abenteurer, einfache Reisende und auch ein paar fliegende Händler, die ihre wahren Anboten, die Universität und ihre Bibliotheken zogen Leute aus aller Welt an, Manche wollten Geschäfte machen, andere hofften wohl auf eine
Anstellung und wieder andere suchten vielleicht nach Schriften und Aufzeichnungen in den weitläufigen Archiven. Erik drängte sich zwischen ihnen hindurch und sah sich in alle Richtungen um, ohne jedoch den Wolf irgendwo entdecken zu können. Zu seinen Füßen sprudelte ein Bachlauf in einer Rinne über den Platz. Algen in allen Farben von Grün über braun und rot bewegten sich in der Strömung und ab und an bekam man sogar einen kleinen Fisch zu sehen, der durch den Kanal schwamm. Dieser mündete schließlich in einem kleinen Teich, der wiederum als Abfluss über mehrere, niedrigere Kanäle verfügte, die in den
umliegenden Gärten hinein führten und dort versickerten und so die Beete ständig bewässerten. Brücken und Trittsteine führten über diese künstlichen Wasserläufe hinweg und erlaubten es so, den Platz auch trockenen Fußes zu überqueren. Viele der Leute nutzen jedoch die Gelegenheit und liefen ein Stück Barfuß durch das kühle Nass, das beständig aus den Höhlen unter der Stadt nach oben Quoll.
Erik jedoch hatte dafür keine Zeit. Mit einem großen Schritt überquerte er den Bachlauf und suchte weiter die Umgebung nach seinem Begleiter ab. Nach wie vor gab es keine Spur von dem Wolf und wenn er noch rechtzeitig zu
seiner Prüfung kommen wollte, musste er sich beeilen. Er drängte sich an einer beisammen stehende Gruppe Gelehrter in blauen Roben vorbei, bis ans andere Ende des Platzes, wo die Pflastersteine wieder in Gärten und Wiesen übergingen. Zwei große, ausladende Bäume beschatteten eine Reihe von aus Stein gefertigten Bänken darunter, die jedoch verlassen dalagen. Aber sie waren es auch nicht, die Eriks Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Einem ungeübten Auge wäre der dunkle Schemen auf einem der Äste sicher entgangen, aber Erik wusste, wonach er Ausschau halten musste. Vorsichtig legte er das Buch, das er immer noch trug auf
einer der Bänke ab und zog sich nach kurzer Überlegung zog er sich an einem der tiefer hängenden Zweige nach oben. Ein Gejarn, der nicht gesehen werden wollte, den sah man auch nicht. Selbst wenn er technisch gesehen mitten in einer Menschenmenge war.
,, Hat es einen besonderen Grund, warum du dich als Eichhörnchen versucht ?“ , fragte Erik , als er neben dem Schemen auf einem Ast zum Stehen kam. Sein Rücken machte sich nach der kurzen Anstrengung schmerzhaft bemerkbar und so lehnte er sich an den Stamm und versuchte seine verspannten Muskeln zu lockern. Götter, er hatte zu viel Zeit in dunklen Kellern und in gebückter
Haltung in Gräbern verbracht. Das musste einen Mann ja vorzeitig alt werden lassen.
Der Wolf schien nicht sonderlich überrascht davon, als Erik neben ihm auftauchte. Scheinbar gelangweilt, saß er auf seinem Ast und ließ die Füße ins Leere baumeln, während unten die Leute vorbei zogen. ,, Ich meine außer das man von hier einen ziemlich guten Blick auf die Frauen werfen kann.“ Erik lachte, doch der Wolf sah ihn nur irritiert an.
,, Ich hege nicht wirklich Interesse an euren Frauen. Menschen sehen generell seltsam aus. Und selbst wenn nicht, ich glaube ich mache den meisten ohnehin
nur Angst. Deine Brüder und Schwestern fühlen sich durch meine Anwesenheit verunsichert, deshalb habe ich mich ja zurückgezogen. Sie mögen mich scheinbar nicht.“
,, Nun ja, wie würdest du reagieren, wenn plötzlich ein Mensch ungefragt in deinem Vorgarten auftaucht ?“
,, Ich bezweifle, das ich je so etwas besitzen werde. Wenn meine Schuld beglichen ist, werde ich zu meinem Clan zurückkehren, Erik. Das heißt wenn du es nicht zuvor schaffst, meinen Ruf zu ruinieren.“
Erik seufzte. ,, Götter musst du immer alles wörtlich nehmen, was ich sage ? Du bist schlauer als das, das weiß
ich.“
,, Nein, aber ich betrachte die Dinge lieber so, wie sie sind.“
,, Götter, du musst dir angewöhnen mehr zu trinken. Das bringe ich dir als nächstes bei, bis es nicht mal mehr deine Seele vergessen kann. Ihr Gejarn glaubt ja, das ihr wiederkommt, als wird dein nächstes Leben definitiv das eines Trinkers. Also was jetzt ? Bekomme ich noch eine Antwort?“
,, Ich würde ihn fragen, was er dort zu suchen hat und ein Auge auf ihn haben. Aber ich würde ihn nicht ansehen, als hätte er grade meine Familie ermordet und plane schlimmeres. Deine Brüder und Schwestern sind seltsam.“ Der
Gejarn grinste. ,,Und ich kenne dich. Also heißt das schon etwas.“
Erik überging den Seitenhieb. Aber Cyrus war intelligenter als er wirken wollte, das wusste er. Und er verstand mehr von dem, was um ihn herum vorging, als er wohl je zugeben würde. Er war hier Fremd, kannte eigentlich nur das Leben bei seinem Clan, ja, aber trotzdem hatte er sich schnell in Vara eingelebt. Wenn Gejarn eines waren, dann wohl Anpassungsfähig,
,, Ich würde sie auch nicht wirklich meine Brüder und Schwester nennen.“ , meinte Erik nach einen Moment des Schweigens. ,, Die Hälfte von ihnen würde mich ohne nachzudenken lynchen
wenn sie wüssten was ich tue und die andere Hälfte versteht nicht mal die Hälfte von dem, was man ihnen sagt. Ich würde behaupten du bist schlauer als sie und das obwohl die meisten eure Art wohl Wilde nennen würden. Vielleicht sollte die Universität lieber ein paar Gejarn aufnehmen.“
,, Wieder etwas, das ich nie verstehen werde. In einem Clan sind wir alle Geschwister. Nicht der Blutlinie nach natürlich, aber im Geiste. Unsere Ältesten sind unsere Väter und wir ehren sie entsprechend und sie hüten uns wie ihre Kinder. Ihr Menschen aber, ihr lebt ohne echte Verbundenheit. Eure Adeligen sind nicht eure Väter, sondern
nur eure Herren und ihr kuscht vor ihnen und vor einander. Aber wie kann man von jemanden erwarten, gerecht zu herrschen wenn er seine Untergebenen nicht als Kinder betrachtet sondern als Vieh?“
Diesmal war es an Erik zu lachen. ,, Es ist eine Sache das in einer kleinen Gemeinschaft zu tun. Aber ein Imperium baut man nicht auf Freundlichkeit und Menschenliebe auf. Und erhalten tut man es schon einmal ganz sicher nicht damit. Das Kaiserreich wurde durch Blut geformt, selbst bevor Caius anfing, Städte nieder zu brennen. Und sind wir mal ehrlich, eure Clans sind untereinander auch nicht grade friedlich.
Oder woher kam der Pfeil in eurem Bein?“
,, Vielleicht habe ich einfach zu lange auf einen Arzt gewartet.“ Die Augen des Gejarn funkelten. Erik wusste nicht ob er einen wunden Punkt getroffen hatte, aber was immer es war, Cyrus wollte jedenfalls nicht darüber reden. ,, Wie lange genau hattest du gedacht, mich dort unten stehen zu lassen?“
,, Wenn ich dir keine andere Aufgabe gebe, rückst du mir ja nicht mehr von der Pelle. Es gibt Gelegenheiten da will ich eben nicht ständig einen Flohteppich an meiner Seite haben.“
Der Wolf schien tatsächlich einen Moment darüber nachzudenken. ,, Wie
soll ich sonst je hoffen, meine Schuld zu begleichen , wenn du vor mir weg rennst ?“
Erik seufzte entnervt. Es hatte kaum Sinn in diesem Punkt mit ihm diskutieren zu wollen, das wusste er.
,, Ich habe dir auch oft genug erklärt, dass es keine Schuld gibt.“ Um genau zu sein hatte er irgendwann aufgehört zu zählen.
,, Nicht nach euren Gebräuchen, aber du hast mein Leben bewahrt. Das ist ein Geschenk, das nur schwer aufzuwiegen ist.“
,, Und wenn du mir zweimal das Leben rettest muss ich dann dir hinterher rennen ?“ Erik grinste bei dem
Gedanken. ,, Allerdings schleppst du mich dann vermutlich nur endlos durch die Wälder mit. Das ist nicht so interessant wie Städte und Friedhöfe.“
,, Das ist nichts, dass jemand von einem einfordern kann, sondern eine freiwillige Entscheidung. Oder siehst du Ketten an mir? Mein Leben gehört immer noch mir, aber ich habe mich entschieden, es mir auch zurück zu verdienen. Selbst wenn das heißt, dass ich mich nachts mit seltsamen Menschen auf Friedhöfen herumtreiben muss.“
,, Und jetzt hättest du mich fast so weit, das ich Mitleid mit dir gehabt hätte. Aber wie dem auch sei. Du wirst schön noch etwas länger hier warten müssen.
Wenn alles gut geht, habe ich endlich meinen Platz an der Universität wenn ich zurückkomme.“
,, Und wenn nicht ?“
Die Frage beunruhigte Erik mit einem mal mehr, als er zugeben wollte. Es gab keine Alternative für ihn. Das hier war alles, auf das er hingearbeitet hatte. Eine Aufnahme als Gelehrter an die Universität, bedeutete, dass er endlich Anerkennung für seine Arbeit bekommen würde. Das… und sie würden ihn finanzieren und mit den Mitteln die hier zu Verfügung standen… gab es kaum etwas, das er nicht tun konnte. Er wäre nicht mehr gezwungen, nachts die Verstorbenen auszugraben sondern
könnte wahrhaft anfangen, sich ganz auf seine weitere Arbeit zu konzentrieren. Was er bisher erreicht hatte, war nur ein erster Schritt, aber um damit abzuschließen würden noch Jahrzehnte vergehen. Wenn alles gut ging, würde er nicht ruhen, bis er jede Arterie, jeden Knochen und jedes Organ verzeichnet und ihren Zweck verstanden hatte. Ein Körper war nur ein Gefäß für den Geist, aber eines, das er brauchte um zu funktionieren. Und um das zu gewährleisten mussten sie bereit sein ihn zu verstehen. Es gab kein ,, wenn nicht.“ Wenn nicht bedeutete… das er versagt hätte.
,, Wenn nicht… gehen wir etwas
trinken.“ , meinte Erik schließlich, ehe er vom Baum kletterte und das Buch wieder aufhob. Erneut streckte er sich um seine verspannten Muskeln zu lockern, dann erst machte er sich auf den Weg über den belebten Platz und in Richtung der hoch aufragenden Gebäude. Die grün verfärbten Kupferdächer leuchteten im Licht der Morgensonne.
Der Eingangsbereich der Universität wurde durch ein großes Tor abgeriegelt, dessen Flügel jedoch Tagsüber weit offen standen. Im inneren war der Boden mit großen Marmorfacetten in weiß und schwarz ausgelegt, welche Eriks Schritte zurück in Richtung der hohen Decken warfen. Die Wände wiederum waren
nicht glatt oder von Fenstern durchbrochen wie sonst überall, sondern von großen Steinquadern durchsetzt, die gut eine halbe Armeslänge aus der Wand hervorragten. Manche der Blöcke waren noch unbearbeitet und roh, die meisten sogar, andere jedoch hatte man bereits zu Köpfen geformt. Wichtige Gelehrte und Magister zweier Generationen sahen ernst und streng auf jeden Neuankömmling herab, der die Halle betrat. Erik schenkte den Blicken der Toten jedoch kaum Beachtung, während er rasch den Saal durchmaß und die eigentliche Universität betrat. Offene Kreuzgänge führten zwischen Gärten und Gebäuden hindurch, Hallen noch größer
als die erste, die als Ruhe und Lesesäle dienten reihten sich aneinander. Einmal konnte er einen Blick durch eine Tür auf das große Planetarium erhaschen, das auch achtzig Jahre nach dem Bau dieser Hallen noch immer nicht ganz fertig gestellt war. Große, kupferne Zahnräder, die bereits von einer grünlichen Patina überzogen wurden, waren in den Boden des Gebäudes eingelassen worden und steuerten ein undurchsichtiges Gewirr aus Ringen und Sphären und Lichterspielen, das immer weiter feinjustiert wurde um eines Tages die Bewegungen der Planeten genau wiederzugeben. Eine ganze Generation hatte bereits daran gearbeitet und es
würde wohl noch einmal eine brauchen um ihr Werk zu Ende zu bringen. Eine Aufgabe, nicht unähnlich seiner eigenen Arbeit, dachte Erik. Auch er stand grade erst am Anfang, doch wo das Planetarium beschlossene Sache war, würde sich für ihn nun entscheiden müssen, ob es eine nächste Generation gab. Erneut wies er diesen Gedanken von sich. Seine Arbeit war perfekt, das mussten auch die hohen Gelehrten einsehen. Sie hatte gar nicht die Wahl ihn abzuweisen.
Er durchquerte eine weitere Halle unweit der Krankenquartiere, die den bereits von der Universität anerkannten Heilern als Lehrstätte dienten. Ein lang
gezogener Brunnen, durch den beständig frisches, sauberes Wasser strömte teilte den Raum fast gänzlich in zwei Hälften. Auf der einen Seite wandelten die Heiler zwischen den Türen hin und her, die auf einzelne Zimmer führte, auf der anderen, ging Erik. Und ganz am anderen Ende lag die Tür hinter der ihn die Prüfer erwarten würden…