Das POESIE – Album meiner Mutter
Es fand sich zufällig beim Aufräumen zwischen den Fotoalben.
Der schmale Buchrücken ist schon ausgebleicht und die einstmals goldene Prägung auf dem Einband ist matt geworden.
Der erste Eintrag „Meiner lieben kleinen Freundin Christa zu Weihnachten 1936 von ihrer Tante Marie Kerber.“
Schon erscheint vor meinem inneren Auge eine alte Frau, die in der Straße nebenan gewohnt hat.
Diese Widmung schrieb sie in deutscher
Schreibschrift, die heute kaum noch jemand lesen kann.
Meine Omi, die Mutter meiner Mutti, hat den ersten Eintrag „Zur Beherzigung ...“ eingeschrieben.
Schwester Margot war am 16. Januar 1937 die Nächste und hinterließ auf der linken Seite ein abgeriebenes Herz nebst Aufschrift „Aus Liebe“.
Dann folgt ein langer Zeitraum ohne Eintrag.
Erst am 15.2.1951, kurz vor meinem Geburtstag, finden wir eine Notiz von Elsbeth Weisleder und auf der gegenüberliegenden Seite hat sich Monika Tilgner (unser Kindermädchen) am 14. 01.1955
verewigt.
Die jeweiligen Handschriften sagen viel über den Schreiber aus. Meist sind es Mädchen oder Frauen. Damit erklärt sich auch schon ein Stück dieser „Mode“. Man versichert sich der Freundschaft bzw. der Sympathie. Gleichzeitig wird Belesenheit, Niveau und künstlerische Begabung bei der Gestaltung dokumentiert.
Manchmal schlägt aber auch der Kitsch hart zu, jedenfalls aus heutiger Sicht.
Beim Weiterblättern bemerke ich, dass es doch chronologisch weiter geht. Somit waren die anderen zwei Seiten Nachträge und es gab keine Unterbrechung durch Landdienst oder den Krieg. Eine Seite ist
heraus gerissen und macht mich neugierig auf den Autor, den ich nun nicht mehr deuten kann.
Bis zum 14. Oktober 1937 finde ich laufend Eintragungen und hier quetscht sich auf der linken Seite eine Freundin aus Auma dazwischen. Dort war Christa beim Bauern Senf im Landdienst.
Als ein weiteres Beispiel der Denkungsart in dieser Zeit kann ich noch folgenden Spruch zitieren:
„Vergesse nie die Heimat, wo Deine Wiege stand. Du findest in der Ferne kein zweites Heimatland.
Zum Andenken an die Landdienstzeit von Deiner Anna Müller, Auma, den
5.5.43“.
Viele Jahre später waren diese Alben noch nicht aus der Mode. 1963/64 bekam ich das eine oder andere übergeben und das war für einen Jungen schon fast ein Ritterschlag. Eigentlich las man nur Eintragungen von Freudinnen und Bekannten darin.
Vielleicht war der tiefere Sinn solcher Privatalben ein „Abstecken“ des Freundeskreises?! Oder die Prüfung und Versicherung einer Freundschaft.
Gleichzeitig bewies der Eintragende Sinn für Zwei – oder Mehrzeiler, sowie für Kreativität bei der Gesamtgestaltung. Sie waren ein Spiegel des Geschmackes in
der Zeit. Klebebildchen und selbst gemalte Blümchen waren hart am Rand zum Kitsch.
Poesiealben sind wie Fotobücher, sie werden mit viel Liebe gestaltet, einmal gelesen und verstauben dann im Schrank.
JFW im Oktober 2016