Kapitel 86 Der Herr der Ordnung
Jetzt war also der Moment gekommen, dachte Galren. Ab hier hinge alles von ihm ab. Wenn sie diese Schlacht gewinnen wollten, musste der Herr der Ordnung fallen. Nicht seine Diener. Und das hieß, er würde mit ihm gehen müssen… Erneut lief ihm ein Schauer über den Rücken, dieses Mal, als sich der Blick des roten Heiligen genau auf ihn richtete. Einen Moment lang konnte er nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden, während Visionen durch seinen Verstand blitzen. Er stand mit beiden Beinen fest auf dem
Boden des Tempelplatzes, konnte spüren wie der Regen ihn durchnässte und doch fand er sich plötzlich im inneren der Katehdrale wieder. Dunkler Stein umgab ihn auf allen Seiten, erhellt nur vom Schein vereinzelter Fackeln, während Regen über ihm durch eine kreisrunde Öffnung in der Decke herein fiel. Stimmen flüsterten und wisperten in seinem Verstand, vertraut und doch fremd, lockten ihn, forderten ihn auf zu folgen…
Dann war alles vorbei und Galren fand sich auf den Knien wieder. Ein großer, dünner Schatten hatte sich vor ihm aufgebaut, schirmte ihn vor dem Blick des roten heiligen ab. Träumer wankte
nicht unter dem Blick der glühend roten Augen und auch wenn Galren nicht sehen konnte, was geschah, der mentale Kampf, den die beiden Männer führten, war für jeden in ihrer Nähe spürbar. Ein Kribbeln überlief ihn am ganzen Körper. Er wusste später nicht zu sagen ob sie einige Minuten oder doch Stunden so dastanden und einander anstarrten, aber schließlich war es der rote Heilige, der kaum merklich zusammen zuckte.
,, Ich ergebe mich.“ , erklärte Galren schließlich und in diesem einen Moment wurde ihm alles klar. Melchiors Worte geisterten durch seinen Kopf und vertrieben die letzten Zweifel. Er konnte sich kein Zögern und kein Straucheln
mehr erlauben. Es genügte nur ein Funke der alten Dunkelheit die immer wieder nach ihm griff und alles wäre umsonst. Und deshalb hatte er diese Erkenntnis auch alleine treffen müssen. Galren Lahaye verstand am Ende, ,, Ich bin es Müde, wegzulaufen. Und vielleicht hätte ich es nie versuchen sollen. Welchen Nutzen hat man davon sich vor seinem Schicksal zu verstecken?“
Langsam bahnte er sich einen Weg zwischen den wartenden Gardisten hindurch. Merl stellte sich ihm als erster in den Weg. Nicht Elin. Armell folgte ihm. Mit ihr hatte seine Reise begonnen, dachte er. Und ohne die beiden wäre er wohl nie so weit
gekommen.
,, Ich hoffe ihr wisst was ihr tut.“
Galren konnte nur nicken. Seine Kehle war trocken, seine Haut klamm und das nicht nur vom Regen. Er fürchtete sich, vor dem was kommen mochte. Und doch rang er sich ein Lächeln und Worte ab.
,, Ich danke euch… Freund. Wenn das alles vorüber ist, und der Sturm sich gelegt hat…“ Galren zögerte. Er wollte keine Versprechungen machen. ,, Was auch geschieht ich wünsche euch alles Gute. Euch beiden…“
Er beeilte sich, weiter zu gehen, vorbei an Naria, Janis und Syle und allen anderen. Den Gesichtern, die ihm so vertraut waren und von denen er viele
Freunde nannte. Würde er sich überhaupt noch an sie erinnern, wenn er scheiterte, oder würde der Herr der Ordnung schlicht alles auslöschen? , fragte er sich schließlich als er an das Ende der Reihe kam. Und würde er sich an sie erinnern? Elin wartete neben Träumer auf ihn. Es gab keine letzten Worte zwischen ihnen, als sie seine Hände umfasste. Ihr Blick sagte alles, was er wissen musste. Lass mich nicht alleine hier zurück. Wenn er versagte würden sie getrennt sterben. Und doch konnte er sie nicht mitnehmen. Elbst wenn es hier draußen nicht weniger gefährlich wäre. Das Dunkel jenseits der hoch aufragenden Tempelpforte gehörte ihm alleine. Ihm und Träumer von dem
so viel bei diesem Plan abhängen würde. Es fühlte sich seltsam an diesem Mann so vertrauen zu müssen. Und doch war es die einzige Wahl die ihnen blieb. Trotzdem konnte er sich fast nicht überwinden, Elin schließlich los zu lassen. Mit Träumer an seiner Seite überquerte er den Streifen leeren Marmors zwischen ihm und dem wartenden roten Heiligen. Mit jedem Schritt schien der unsichtbare Sog, den dieser Ort auf ihn ausübte stärker zu werden. Es kostete ihn Mühe nicht zu rennen, obwohl er sich davor fürchtete, mühe, die Stimmen nieder zu ringen, die ihm sagten, er solle vor dieser Gestalt auf die Knie fallen und sich wahrhaft
ergeben. Stattdessen trat er nur stumm durch das hohe Tor, vorbei an dem roten Heiligen und in das Zwielicht dahinter. Die Kunstfertigkeit der Halle, die ein helles, freundlicheres Spiegelbild der Fresken draußen darzustellen schien, schenkte er kaum Beachtung. Doch die Worte des roten Heiligen, als er ihnen schließlich folgte, rissen ihn noch einmal zurück in die Wirklichkeit.
,, Ihr Träumer könnt mitkommen. Werdet zeuge gegen was ihr euch gestellt habt. Vielleicht seid ihr auch nur deshalb hier? Um euch wieder vor mir auf die Knie zu werfen? Wir werden sehen. Was den Rest angeht… tötet sie.“
Er fuhr herum, wollte zurücklaufen.
Träumer packte ihn an der Schulter und riss ihn zurück, während der Platz draußen im Chaos versank. Schreie und das Klirren von Stahl waren zu hören, der Klang einer Schlacht und einmal sah Galren eine Schneise aus Licht, die sich durch die Reihen der Kultisten fraß. Janis… Doch mehr konnte er nicht mehr erkennen, hatte der Ring aus Männern sich doch bereits vor dem Tempeleingang geschlossen. Träumer hielt ihn nach wie vor fest. Aber er musste nicht mehr fürchten, das Galren davon laufen konnte. Sie hatten alle um das Risiko gewusst. Jetzt lag es an ihnen, es auch zu Ende zu bringen.
Als er sich wieder umdrehte um den
roten Heiligen zu folgen, der ihnen voraus durch die nachtschwarzen Korridore ging, konnte er den Sog noch stärker spüren als zuvor. Sein Verstand wurde unter dem beständigen Angriff gefährlich Träge, seine Schritte schienen von jemand anderen gesteuert. Und als sie schließlich die innerste Kammer erreichten, jenen Ort den er immer und immer wieder in seinen Visionen gesehen hatte, sank er auf die Knie. Es kostete ihn jeden letzten Rest Willen um nicht schlicht alles zu verleugnen was er war… und aufzugeben. Zu verlockend und zu überwältigend waren die fremden Gedanken in seinem Geist und beinahe war ihm, dass er hinter dem roten
Heiligen eine weitere Gestalt sehen konnte. Ein unförmiger Schatten in dem ein rotes Herz pulsierte. Seine Form wandelte sich beständig, schien einmal wunderschön und strahlend vor blutrotem Licht und dann wieder düster und kaum von der Dunkelheit zu unterscheiden, die an diesem Ort herrschte. Galren kniete direkt unterhalb der Öffnung im Kuppeldach. Der Regen hatte die rauen Steinfließen unter ihm rutschig werden lasse. Er konnte sein eigenes Spiegelbild auf dem dünnen Wasserfilm sehen und starrte doch in die Augen eines Fremden…
Der rote Heilige hingegen hatte sich ihnen wieder zugewandt. ,, Seid ihr
bereit eure wahre Rolle anzunehmen, Galren Lahaye ?“
Er nickte nur, wollte diesem Monster nicht mehr Worte gewähren. Und doch war da der leise Kern des Zweifels, der ihn nicht verlassen wollte. War er deshalb hierhergekommen? Ja. Nein… Es schien wichtig, dass er eine Antwort auf diese Frage fand. Und doch konnte er sich nicht erinnern. Was er einst gewesen war schien weit weg, Gefangen irgendwo im hintersten Winkel seines leergefegten Geistes.
Der Schatten de er zuvor schon gesehen hatte, nahm langsam hinter dem roten Heiligen Gestalt an. Galren konnte seine Präsenz spüren, noch ehe es ganz
erschienen war. Wie ein physisches Gewicht, das nicht länger nur seinen Geist erdrückte sondern nun auch verhinderte, dass er sich von der Stelle rührte. Es umfloss ihn wie Nebel, wie eine Schlange aus flüssiger Finsternis. Es umkreiste und umfloss ihn, zog immer engere Kreise.
Warum war er hier? Er musste sich erinnern, aber alleine die Gegenwart dieses Wesen machte jedes denken fast unmöglich. Es war, als würde sein Geist ertrinken, während sein Körper noch bei vollem Bewusstsein war. Und dann floss der Schatten wieder zusammen, manifestierte sich zu einer Wand zwischen ihm und dem roten Heiligen,
die langsam auf ihn zukam. Galren musste den Blick senken, sah erneut hinab auf die spiegelnde Wasserfläche, in die Augen des Fremden, der er war. Er… Und nicht dieses Wesen da vor ihm. Er kannte dieses Flüstern, dieses Gefühl zu verschwinden. Galren Lahaye sah auf, sah der Wand aus Dunkelheit und pulsierendem roten Licht entgegen. Es hatte ihn Verfolgt, seit er den ersten Schritt in jene verfluchte Stadt auf der anderen Seite der Welt gesetzt hatte. Es hatte ihn dazu getrieben jene zu verraten die ihm vertraut hatten und hätte beinahe ihr Vertrauen in ihn für immer zerstört. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Es hatte ihm keinen Frieden gewährt, als er,
so unwahrscheinlich das war, Liebe gefunden hatte, wo Hass hätte sein müssen. Und Vergebung. Sein Fuß wollte wegrutschen, als er sich halb aufrichtete, doch Galren wusste, wenn er jetzt fiel, würde er nicht wieder aufstehen. Mit allem was er hatte, was ihn ausmachte, sei das gut oder schlecht, warf er sich gegen seine unsichtbaren Ketten, er akzeptierte die Stimmen, ließ sie schlicht durch ihn hindurch wandern , akzeptierte was sie waren und was er war. Aber das hieß nicht, dass sie ein Schicksal teilen mussten. Der Schatten war fast über ihm und er kam auf die Füße, sah zu Träumer. Und in diesem Augenblick erkannte auch der rote
Heilige, was vor sich ging.
Träumer zog das Schwert, die Waffe die er bisher mit aller Macht vor dem roten Heiligen abgeschirmt hatte. Die Klinge schimmerte weiß wie Mondlicht, ein gefrorener Lichtstrahl inmitten der Dunkelheit. Und als er Galren die Waffe zuwarf, schien sie einen Schimmer hinter sich her zu ziehen. Das Schwert erkannte sein Schicksal genauso wie Galren das tat. Der einzige, der es nicht verstand war scheinbar der rote Heilige. Er schrie auf, machte einen Schritt vorwärts, während der Nebel und Galren nur noch wenige Schritte auseinander waren.
,, Das wagt ihr nicht!“ Seine Stimme war ein bösartiges Kreischen, ein Laut
so voll Zorn, Hass und Unglaube, das er Galren unter anderen Umständen bis ins Mark erschüttert hätte. Doch in diesem einen Augenblick gab es für ihn nichts mehr als den weißen Schatten in der Luft und den schwarzen vor ihm. Er streckte die Hand aus, seine Finger umschlossen den Griff der Klinge. Mit einer einzigen Bewegung brachte er sie zwischen sich und den Schatten, der grade im Begriff war sich auf ihn zu stürzen. Es gab keine Zweifle mehr. Nur noch eines von zwei Schicksalen für ihn. Und eines würde hier sterben. Der Schatten war über ihm, stürzte sich mit einem unwirtlichen Kreischen auf ihn, ein Bolzen aus Dunkelheit. Er sollte Galren nie
erreichen. Der Schatten prallte gegen das Schwert, kollidierte mit den magieverzehrenden und reflektierenden Sterneneisen. Unwirtliches Heulen drang an Galrens Ohren, als die Klinge begann mit der Energie des Herrn der Ordnung zu resonieren. Der Kristall färbte sich schwarz und wieder weiß, als seine eigene Macht auf ihn zurück geworfen wurde, Lücken in den Schleier riss. Und je mehr er versuchte Galren zu überwältigen desto mehr Macht floss durch die Klinge und wurde gegen ihn gerichtet. Seine eigene Macht begann ihn immer schneller zu verzehren. Doch ehe Galren zusehen konnte, wie der letzte Rest Finsternis verschwand, geschah
etwas. Der Schatten wich vor ihm und der ausströmenden Energie des Schwerts zurück, floh, durch die Tempelhalle. Und fand schließlich die einzige Hülle, die es für ihn noch gab. Zerfetzt und zerfasert war das Wesen immer noch schnell. Und bei weitem schneller als der rote Heilige, als es sich zu ihm umwendete. Galren sah nur kurz seine weit aufgerissenen Augen, bevor die Dunkelheit ihn verschluckte. Und seine Schreie als sich der Herr der Ordnung in seinen Geist brannte und auslöschte, was immer dort noch an Menschlichkeit geblieben sein mochte. Galren und Träumer sahen beide nur ungerührt zu, wie der rote Heilige verzehrt wurde. Im
gleichen Moment schien die Realität selbst sich vor ihren Augen aufzulösen. Der gesamte Tempel erzitterte, risse bildeten sich in den Wänden, während Steintrümmer herabfielen nur um auf halbem Weg zum Boden zu erstarren. Blitze zuckten aus dem nirgendwo, schmolzen Stein zu Lava, die langsam zu Boden troff. Manche der Tropfen erstarrten einfach, hingen in der Luft wie unheimliche Lampen und tauchten die innerste Tempelkammer in rötliches Licht. Staub tanzte in einem grellen Schein, das die Schatten vertrieb und enthüllte, was aus dem roten Heiligen geworden war. Galren und Träumer wichen zeitgleich zurück, gleichzeitig
von Ehrfurcht und Abscheu erfüllt.
,, Das ist die Macht, die ihr hättet haben können, Galren.“ , tönte eine Stimme, die nichts menschliches mehr hatte. Sie klang tief und hoch zugleich, hatte einen unangenehmen Nachhall, der sich ihnen in die Köpfe brannte und jedes Wort zu einer Qual machte. Die letzten Überreste des Schattens verzogen sich. Der Herr der Ordnung war hier…