Romane & Erzählungen
Black Trap

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"Wir waren gespalten worden. Wir, das war die Menschheit."
Veröffentlicht am 08. Oktober 2016, 130 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Schülerin, sechszehn Jahre alt, Hobbyautorin. Ich begeistere mich gerne für Musik und Film, häufig so sehr, dass es anderen um mich herum zu viel wird. Ich liebe das Erfinden und Aufschreiben von Geschichten sowie die Schrift selbst. Wenn ich schreibe, kann ich alles um mich herum vergessen und in meine eigenen Welten eintauchen.
Wir waren gespalten worden. Wir, das war die Menschheit.

Black Trap

Vorwort

Black Trap ist ein Projekt, das ich vor einiger Zeit mal angefangen und seit einiger Zeit nicht mehr weitergeschrieben habe. Es lässt sich in nur drei, aber dafü recht große Teile aufspalten und hier ist der erste Teil.

Ich weiß nicht, ob es nötig ist, aber ich warne einfach mal vor grober Sprache und empfindlichen Themen.
So. Nur, damit ich's gesagt habe.

Und nun wünsche ich viel Spaß beim Lesen.

Prolog

Die Gesellschaft war gespalten. Die Kluft zwischen ihnen und uns war so groß geworden, dass wir einander schon längst nicht mehr sehen konnten, wir hatten uns aus den Augen verloren. Aber wir waren da, sie waren da, und es gab einige wenige Dinge, die uns täglich daran erinnerten, dass es sie noch immer gab. Ob sie noch an uns dachten, wusste ich nicht. Vielleicht hatten sie ja vergessen, woher ihr Reichtum kam, vielleicht machten sie sich keine Gedanken um uns. Mit Sicherheit sogar.

Ich hätte es ihnen nicht einmal übelgenommen. Ich dachte ja auch nicht viel an sie, obwohl sie mein Leben und das aller anderen von Grund auf entscheidend prägten. Aber eine wirkliche Rolle spielten sie für mich nicht. Sie waren der Grund, warum wir in Armut und Elend lebten, in einer Welt, die nicht mit der Hölle verglichen werden konnte. Vermutlich wäre Satan beleidigt gewesen. Sie hatten uns hinabgezwungen, in ein menschenunwürdiges Dasein, in ein Leben, das aus Hunger und Kälte und düsteren Gedanken bestand.

Doch ich empfand keinen Hass gegen sie, mein ganzes Leben lang nicht. Ich glaube, ich akzeptierte es einfach. Dinge, in die man hineingeboren wird, lernt man zu akzeptieren. Ja, ich glaube, so dachten wir. Wir alle. Zwei Seiten. Sie und wir. Wir waren gespalten worden. Von der Zeit, der unbändigen Gier, einst hatten wir uns entfremdet und dann hatten wir einander nicht mehr gekannt. Und dann hatten sie begonnen, uns zu unterwerfen, uns einzusperren wie Vieh, weil wir nichts weiter waren als Fremde. Die Starken befehligen die Schwachen.

Das ist ein Naturgesetz, jeder hier kennt es, jedes noch so kleine Kind hat dieses Gesetz bereits mit der Muttermilch in sich aufgenommen, alle wissen es und keiner wird es jemals anzweifeln, denn niemals ist der Spalt überbrückt worden. Wir waren gespalten worden. Wir, das war die Menschheit.

Teil 1 - Gefallen


Es war kalt und schwül zugleich, ein ekelhaftes Wetter, bei dem einem die Klamotten am Leib kleben und man zugleich schwitzt und friert wie ein Rind. Ein Wetter, bei dem sich sogar die Ratten in ihre Löcher verkriechen. Vor kurzem hatte es angefangen zu nieseln. Immer nur ein paar Tropfen, aber mittlerweile war die ganze Straße nass. Und leer war sie. Beinahe alle hatten sich in irgendwelche Hütten zurückgezogen, in die Gosse, in irgendeine halbwegs dichte Kiste. Ich musste mich auch nach einem Dach

umsehen. Meine Zehenspitzen waren schon taub. Sie würden wehtun, wenn sie wieder auftauten, falls sie das denn irgendwann taten. Warm wurde es nur im Sommer oder wenn Oliver Feuerholz auftreiben konnte. Damit war es vermutlich vorbei, er konnte ja nicht mal mehr stehen. Er würde nie wieder an Feuerholz kommen. Ohne mich würde er von nun an in seiner alten Scheune verhungern. Wahrscheinlich wäre das sogar ein gnädiges Los gewesen … Ja, eigentlich hatte ich ihn einfach verhungern lassen können, dann hätte der alte Schuppen mir gehört. Aber was hätte ich schon davon gehabt?

Es wäre einsam ohne ihn gewesen … Die Stiefel an meinen Füßen waren viel zu groß und ich schwitzte darin, sodass es sich anfühlte, als stünde ich in einem Tümpel. Kein schönes Gefühl. Großartig, dass wasserfest vor allem bedeutet, dass das Wasser auch nicht abläuft … Aber ich sollte mich nicht beschweren. Dafür, dass ich nur eine Nacht geblieben war, war ein neues Paar Schuhe – ziemlich gut erhalten – ziemlich großzügig. Tja, es waren eben doch nicht alle Männer durch die Reihe weg Scheiße … Nichtsdestotrotz ging es mir wirklich

dreckig. Ich fror erbärmlich in dem grauen Lumpen, der um meinen mageren Körper herumschlackerte. Wahrscheinlich war es mal ein Kartoffelsack gewesen. Keine Ärmel und dieses „Kleid“ reichte mir gerade mal bis zu den Knien, dann waren da meine nackten Beine, bis oberhalb des Knöchels dann der Saum der Stiefel ansetzte. Ich musste wirklich irgendwo unterkommen, aber wo? Vielleicht würde sich ja jemand finden, dem genauso kalt war wie mir … Vielleicht würde der mir dann auch was von seinen alten Sachen abtreten, eine Hose vielleicht, ja, das Leben war wirklich

wie eine große Holzkiste – man wusste wirklich nie, was drin war. Eigentlich war es doch sogar ganz aufregend. Ich rieb meine Arme, um mich warm zu halten. Meine Haut fühlte sich kalt und glitschig an vom Regen, wie die Haut einer Kröte und ich ekelte mich einen Moment lang vor mir selbst, ehe ich mich darauf besann, dass das hier nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt war, um Prinzessin zu spielen. Die Straße vor mir war bedeckt mit hellem Schlamm, der zuvor, während der Trockenzeit, Staub gewesen war, der die Augen und die Lungen reizte. So war er wesentlich angenehmer und da ich die

völlig intakten Stiefel trug, störte er mich nicht. Die heruntergekommenen Häuser links und rechts von mir wirkten alle so verlassen, so einladend … aber der Schein täuschte meistens. Wenn man nicht bereit war, sich die Kehle aufschlitzen zu lassen, machte man am besten nicht einmal Anstände, in ein Fenster zu gucken. Die Leute waren paranoid und blutdurstig wie Kettenhunde. Es gab nicht viele Menschen, denen ich mein Leben anvertraut hätte, aber nur mit diesen Leuten sollte man irgendein fremdes Haus betreten. Nur mit denen, von denen man wusste, dass sie einen

nicht bei der nächsten Gelegenheit um die Ecke bringen. Also, so lange ich nicht Michael oder Oliver oder vielleicht auch Annika und ihrem Bruder Florian begegnete, würde ich mich mit einer der zuvor erwähnten Kisten zufrieden geben müssen. Hoffentlich war noch irgendwo ein trockenes Plätzchen frei … Zwischen den Häuser gab es dunkle Gassen, in denen zwielichtige Gestalten hockten, doch die meisten von ihnen wirkten eher wie begossene Hunde als wie gefährliche Ganoven. Sie hatten keine Lust, ihre Deckung zu verlassen, um mich anzugreifen. Na ja, ein Mädchen wie ich hatte ja auch nicht viel,

das sah man mir von weitem an. Ich hatte absolut gar nichts, nichts außer mir selbst. Na ja und wenn jemand mich haben wollte, dann musste er nur freundlich fragen. Unhöfliche Kerle konnten schon mal mit einem ordentlichen Tritt in die Eier rechnen. Oder Schlimmeres, das kam auf meine Laune an. Ich war nicht so harmlos, wie ich aussah, auch wenn ich unbewaffnet war. Eine schwarze Katze kreuzte meinen Weg und sprang dann über einen völlig demolierten Planwagen auf ein Hausdach hinauf. Ich sah ihr nachdenklich hinterher. Ich fragte mich, was die Hunde, die Katzen, die Ratten

und die Kakerlaken noch hier hielt. Warum hatten sie Black Trap nicht schon längst verlassen? Für sie wäre es ein Leichtes gewesen. Um sie scherte sich ja keiner. Ich schreckte auf, als sich plötzlich zwei Hände auf meine Schultern legten. Nein, ich fuhr wirklich zusammen, dachte für einen Augenblick, die begossenen Hunde hätten sich doch noch aus ihren Verstecken gewagt, um weiß-Gott-was mit mir anzustellen. „Was machst du hier?“, fragte eine dunkle Stimme gedämpft und klang tadelnd dabei. Ich atmete kaum merklich auf. Michael. Ein Glück.

Ich wandte mich zu dem jungen Mann um, der sich da klammheimlich an mich rangeschlichen hatte. Er trug einen Kapuzenpulli, das Wasser hinterließ silberne Perlen auf dem schwarzen Stoff. Ein teures Stück, auf das ich eigentlich ziemlich neidisch war. Eigentlich beneidete ich ihn wegen all seiner Klamotten, von dem Pullover über die zerschlissene Jeans bis hin zu den ausgelatschten Turnschuhen. Wobei das Wasser in denen vermutlich genauso stand wie in meinen neuen Stiefeln. „Ich war gerade auf dem Weg nach Hause“, antwortete ich ihm und widerstand schweren Herzens dem Drang,

ihn einfach zu umarmen. Er mochte das nicht. Und ich hatte heute eigentlich ja schon genug körperliche Nähe gehabt. „Was machst du denn hier im Schweineviertel?“, wollte Michael wissen, seine Stimme klang sowohl monoton als auch besorgt. Das kriegte nur er hin. Ich starrte ihn einfach nur trotzig an und verschränkte meine nackten Arme vor der Brust. Mir war kalt und ich hatte keine Lust, mich von ihm unnötigerweise belehren zu lassen. Das tat er gerne, obwohl er wusste, dass ich keine andere Wahl hatte. Michael verstand meinen Blick und seufzte kaum hörbar. „Also, ich hab da

ne kleine Baracke in der Nähe. Ist besser für dich, als hier noch ne Stunde durch die Gegend zu streunen.“ Er zögerte, dann legte er seine prall gefüllte Tasche kurz ab und zog sich den schwarzen Pulli über den Kopf und hielt ihn mir hin. „Deine Lippen sind schon ganz blau“, sagte er. Er selbst trug nun nur noch ein verwaschenes graues Unterhemd, das an ihm aber eigentlich ziemlich gut aussah. Ich nahm die Kleidung entgegen und streifte mit den Pulli über. Es fühlte sich noch mehr an wie ein Kartoffelsack, weil mir Michaels Kleidung viel zu groß war, aber das war in Ordnung. Es haftete noch seine Wärme

und sein Duft daran. Ich wusste, ich sollte nicht ins Schwärmen geraten, aber irgendwie erfüllte es mich mit Glück. Es vertrieb die klamme Kälte. Auch die in meinem Inneren. Vor allem die. Michael sagte nichts weiter, er nahm seine Tasche wieder auf und vergrub die Hände in den Hosentaschen, lief einfach los, er wusste, dass ich ihm folgen würde. Das Leben hier in Black Trap war zwar über alle Maßen beschissen, aber ich hing irgendwie trotzdem daran und zu erfrieren stand auf meiner imaginären Liste, wie ich nach Möglichkeiten nicht sterben wollte, relativ weit oben. Erfrieren war langweilig und

langwierig. Aber hier würde ich nicht erfrieren, so kalt war es nun auch wieder nicht. Eher würde ich mir eine Lungenentzündung holen und daran krepieren. Und das war noch langweiliger und langwieriger. Wir gingen eine ganze Weile hintereinander her, wir sprachen kein Wort mehr miteinander, ehe mein bester Freund einen Schlüssel aus seiner Hosentasche zog und eine wirklich kleine Tür aufsperrte. Sogar ich musste mich ducken, um den tiefliegenden Raum zu betreten, von Michi ganz zu schweigen. Es war dunkel und es roch nach Staub

und … Kälte. Ein einfacher Keller-und Lagerraum. Ich fragte gar nicht erst, wie es kam, dass er auch nach Michaels mehrwöchiger Reise noch leer stand. Wer nicht immer – wirklich immer – wie ein Luchs auf das aufpasste, was er sein Eigen nannte, war es ganz schnell los. Aber Michi hatte so seine Kontakte. Und wenig Skrupel, wenn ich ehrlich war. Und überhaupt … niemand legte sich mit einem wie ihm an. Niemand der – ähnlich wie ich – noch an seinem elenden Leben hing. Ich hörte das Geräusch von Streichhölzern auf einer Reibefläche und im selben Moment entzündete sich

das Schwefelholz. Michael zündete flink sowohl eine Kerze als auch eine Zigarette an, dann wedelte er das Streichholz aus. Wo er die Zigarette schon wieder herhatte, fragte ich mich. Aber ich sagte nichts. Auch nicht zu der Kerze, die eigentlich nicht mehr war als ein schiefer Turm aus Wachs mit einem ausgefransten Docht in der Mitte. Es gab nicht einmal einen Kerzenhalter, Michael klebte sie die Kerze mit ihrem eigenen Wachs am Boden fest. Ich beobachtete die Flamme, während ich mich auf den Boden hockte, mit dem Rücken an der kalten Rückwand des aus

Lehm gebauten Hauses. Wachs war selten und Kerzen noch seltener. Wo sollte man auch noch welche herbekommen? Man benutzte nach Möglichkeit einfach gar kein Licht, außer das, das vom Himmel kam. Diejenigen, die dadurch in den dunklen Monaten erblindeten, konnten sich ja fast glücklich schätzen. Dann mussten sie das Elend von Black Trap immerhin nur noch riechen. Und das war ja auch schon intensiv genug. „Ich hab noch mehr mitgebracht“, sagte Michael. Er hatte meine Gedanken gelesen. Na gut, das war ja auch nicht schwer. „Bienenstöcke gibt’s da draußen viele.“

„Schön“, sagte ich nur. „Bei Olli hatten wir nur ein Wespennest.“ „Tja“, meinte Michael. „Das ist wie mit den Ratten und den kläffenden Kötern. Hier bleibt nur das, was keiner haben will.“ Er lächelte kurz, und ich konnte nicht anders, als ebenfalls zu lächeln. Sein Lächeln wirkte schon immer ansteckend auf mich. Wahrscheinlich, weil es so selten war und damit besonders. Ich bemerkte die Gänsehaut, die sich auf seinen Oberarmen gebildet hatte. Es war wirklich arschkalt hier drin, so kalt, dass die Kerze kaum brennen wollte. Schuldgefühle beschlichen mich. War ja

eigentlich mein Problem, dass ich keine anständige Kleidung hatte. War also auch mein Problem, dass ich fror. Eilig zog ich mir den schwarzen Pullover wieder über den Kopf und reichte ihn an Michi zurück. „Danke. Hier“, sagte ich dabei knapp. Er sah mich an, dann nickte er. Er würde keine dummen Versuche unternehmen, mich zu überreden, nur weil ich die Kleinere und die Schwächere war, die Frau, die Jüngere, was auch immer. Nein, es war okay so. Er zog sich seinen Pullover wieder an und dann griff er nach seiner Tasche. „Ach ja, Ronja? Ich hab dir was mitgebracht“, sagte er und warf mir ein

kleines Säckchen zu. Ich fing es auf und sofort verströmte das kleine Säckchen den vertrauten Duft von Lavendel. Ich liebte diesen Duft, war eigentlich schon längst süchtig danach. Er war das einzige, das mich bei Laune hielt. „Ich hätte hier auch noch was anderes“, meinte Michael dann und kramte ein paar Mohnkapseln hervor. Sie waren grasgrün und charakteristisch geformt. Ich schüttelte ausdruckslos den Kopf. „Johanniskraut? Komm, ich bin dir was schuldig“, sagte er lächelnd. „Ich will das Zeug nicht“, erklärte ich fest. „So schlecht geht’s mir gar nicht.“ „Ist doch nichts Hartes. Nimm irgendwas

davon für später. Irgendwann kommt wieder einer und schlägt dich zu Brei, dann wirst du irgendwas davon sicher brauchen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke.“ Ich bestand darauf. Michi seufzte. „Na dann.“ Er nahm selbst eine der grünen Kapseln zur Hand, öffnete sie und leckte den bitteren weißen Saft daraus. Das waren schon die heftigeren Sachen. Opium, Morphium und wie das alles eigentlich hieß. Egal, Mohnsaft war ziemlich begehrt in Black Trap, weil die Nebenwirkungen sich in Grenzen hielten. Ich beobachtete Michi aus dem Augenwinkel. Ich wusste nicht, was ich

bei dem Anblick fühlen sollte. In mir herrschte ein gewisses Chaos, doch es war träge, so als ob ich schon was genommen hätte. Es war ein sehr gleichgültiger innerer Konflikt. Irgendwie ärgerte ich mich, dass ich abgelehnt hatte. Es gefiel mir nicht, was Michi da tat. Ich war froh, dass es ihm soweit gutging. Ich wollte, dass er aufhörte mit dem Zeug. Ich wollte, dass er aufhörte mit dem Stehlen. Ich wollte, dass er sicher war. Aber das würde ich ihm so nicht sagen. „Die Bienen haben sich nicht gefreut, als

ich ihnen die Wohnung kaputtgemacht habe“, erklärte Michael mir, als er meinen skeptischen Blick bemerkte. „Und außerdem war da so ein Vollidiot, der meinte, mich bestehlen zu können.“ Aha, daher also die roten Flecken an seinem Hals und seinen Armen. Und die unzureichend und – wahrscheinlich – selbst genähte Wunde, die ich vorhin unter seinem Hemd auf seiner Brust gesehen hatte. Na ja, da Michael noch lebte, konnte man getrost davon ausgehen, dass der andere Typ bereits tot war. „Ich hab doch gar nichts gesagt“, maulte ich leise. „Du hast es aber gedacht. Ich seh doch

deinen Blick. Du magst es nicht, wenn ich mich mit sowas abschieße“, stellte Michael trocken fest. „Es gibt welche, die sind danach nicht mehr aufgewacht“, sagte ich leise. „Glückpilze“, scherzte Michael trocken. Ich stand auf und wollte mich neben ihn setzen, weil ich hoffte, dort würde es wärmer sein, doch ich bemerkte seinen Blick, der an meinen Beinen hängen geblieben war. Ich blieb stehen und sah ihn einfach nur an. Ich wusste, er sah die blauen Flecken und es war Unsinn, das jetzt irgendwie peinlich zu überspielen. „Dir geht es also nicht so schlecht“, wiederholte Michael leise meinte Worte

und stand auf. Seine Stimme triefte vor bitterem Sarkasmus. Ich musste den Kopf heben, um ihm in die Augen zu sehen und ich tat es gerne. Zwar zierte eine heftige Narbe sein Gesicht, die, obwohl sie schon Jahre alt war, noch immer entzündet aussah, weil sie nahezu purpurfarben war. Aber sie machte ihn auch irgendwie verwegen und noch dazu waren seine Augen wunderschön. Ein warmes, dunkles Braun mit einem schwarzen Ring um die Iris. Ich wich nicht zurück, als er nach den Trägern meines Kleids – alias Kartoffelsack – griff. Es war Unsinn, sich zu zieren. Michi war mein bester

Freund, einer von den Menschen, mit denen ich ein fremdes Haus betreten würde, einer von denen, denen ich mein Leben in die Hände legen würde, ohne Zögern und mit Freude. Er war einer von sehr wenigen, der mir so nahe kommen durfte, ohne dafür zu bezahlen. Er schob die Träger von meinen Schultern und da kamen schon die ersten gelblich verfärbten Flecken zum Vorschein, manche von ihnen waren auch schlimmer, richtige Blutergüsse hatten sich allerdings noch nicht ergeben. Der Stoff fiel leise raschelnd zu Boden und Michael musterte mich prüfend. Besonders stachen die Male an meinen

Brüsten und meiner Hüfte hervor, sie waren dunkel und als Michi sie nur ganz sanft berührte, tat es weh, sodass ich scharf die Luft einzog. Doch sonst zeigte ich keine Regung. Seine großen Hände wanderten von unten nach oben, doch seine Berührungen lösten rein gar nichts in mir aus. Ich sah auch nicht hin, ich sah nur in sein Gesicht. Seine Stirn war gerunzelt, der Blick finster. Schließlich wandte er sich ab. „Geh nicht wieder hierher. Die Typen hier sind unberechenbar. Irgendwann wirst du vielleicht an einen geraten, der Spaß daran findet, dich zu erwürgen. Bleib im

Weiberviertel, das ist besser für dich.“ Ich nahm mein Kleid wieder auf und bedeckte mich wieder, auch wenn das nicht nötig gewesen wäre. Kalt war es so oder so und es störte weder mich noch Michael. Ich wusste, er empfand nichts, wenn er mich so sah. Er hätte nicht einmal was empfunden, wenn ich weniger verbraucht ausgesehen hätte. Ich wusste, er stand nicht auf Frauen. Und soweit ich wusste, auch nicht auf Kerle. Wahrscheinlich stand er auf gar nichts, aber das wusste ich nicht so genau. „Im Weiberviertel verdiene ich aber nicht so gut“, erwiderte ich.

„Du brauchst nicht viel zu verdienen“, sagte Michael. „Das ist doch nur eine Ausrede, um durch die Gegend zu streunen. Olli verlangt nicht viel von dir.“ „Sag mir nicht, was ich tun und lassen soll“, murrte ich, trotzig wie ein Kleinkind. „Außerdem war das Schwein gar nicht von da, sondern aus dem Norden.“ Michi sah mich zweifelnd an. „Ja, aber das ist okay. Hat mir drei Eier gegeben. Das war gestern.“ Michael seufzte. „Wie du meinst.“ Er ließ sich auf den Boden sinken. Damit war das Thema beendet.

Ich fragte mich schon immer, tagein, tagaus, warum Michi so viel an mir lag. Er hatte kein Interesse an mir, zumindest nicht körperlich. Wir waren nicht verwandt, wir waren einander einfach mal so begegnet … aber irgendwas hielt uns zusammen, wenn er nicht grade weg war, draußen in der großen weiten Welt, außerhalb von Black Trap … Ich bemerkte, dass er eingeschlafen war. Das Morphium von vorhin hatte seinen Dienst getan. Gut. Er war im Sitzen eingeschlafen, vorneübergefallen, es sah sehr unbequem aus. Ich legte ihn ordentlich

auf den Boden und mich neben ihn. Ich wollte ja nicht erfrieren in dieser Schweinekälte. ~ Am nächsten Morgen weckte mich etwas, das ich zuerst nicht definieren konnte. Dann spürte ich eine angenehme Wärme. Ich schlug die Augen auf. Michael sah auf mich herab. „Entschuldige. Eigentlich wollte ich dich nur zudecken, ich wusste nicht, dass du so empfindlich bist. Du hast im Schlaf gezittert.“ Nun bemerkte ich einen schwarzen

Ärmel, der neben meinem Gesicht lag. Michi hatte mir seinen Pullover gegeben, um mich zu wärmen. Dankbar atmete ich den vertrauten Duft ein, schien die Wärme in mich aufzusaugen. Mein bester Freund blickte weiterhin auf mich hinunter. „Gibt es einen Grund dafür, dass dich so eine Berührung schon aufschrecken lässt?“, fragte er monoton. Ich antwortete nicht und schmiegte den Ärmel an meine Wange. So schrecklich besorgt kannte ich meinen besten Freund gar nicht. „Ich weiß nicht, warum ich aufgewacht bin. Ist es nicht schon morgen?“, fragte ich. Michael zögerte, dann seufzte er.

Ja, er glaubte offenbar wirklich, dass ich so schlecht behandelt worden war, dass ich anfing, Berührungen zu meiden und mich unwohl zu fühlen dabei. Ein schlechter Witz. Diese Misshandlungen war ich gewohnt. Blaue Flecken verschwanden nach einer Weile wieder, Schmerzen klangen ab. Solange mich nicht wirklich einer dabei erwürgte, war die Welt in Ordnung für mich. Dann war sie so, wie ich sie kannte. „Musst du heute arbeiten?“, fragte Michael und überging somit meine Frage. Ich nickte und stand auf, drückte ihm

seinen Pullover wieder in die Arme. „Dann hast du einen recht weiten Weg vor dir“, sagte er. Ich nickte erneut und ging zur Tür, vorher nahm ich noch das kleine Säckchen mit dem bereits getrockneten Lavendel an mich, drückte es fest an meine Brust. „Danke“, sagte ich leise, dann öffnete ich die Tür und trat nach draußen. Die Temperaturen waren über Nacht weiterhin stark gefallen. Es war ein sehr unangenehmer Septemberanfang. Die Straße war noch immer nass und es roch nach Schlamm und auch nach Fäkalien und Erbrochenem. Ich kannte den Geruch.

Er sagte mir, dass ich mich in einem Viertel befand, in dem sich die Junkies verkrochen. Solche wie Michi, die das Leben nicht mehr ertragen konnten, ohne sich irgendwas einzuschmeißen, von dem sie nicht wussten, ob es sie umbrachte oder nicht. Manche vertrugen es nicht und übergaben sich, obwohl ihre Mägen beinahe leer waren, nicht wenige erstickten dann auch noch daran. Andere hatten Glück und pennten einfach nur, unter Umständen sehr lange, manche auch für immer. Wenn sie einen dann erwischen, während alle anderen in Black Mine ackern, bleibt

eigentlich nur noch zu hoffen, dass man dicht genug ist, um nicht zu merken, dass sie dich hinrichten. Na ja und selbst wenn. Tot ist tot, durch Gewehrschüsse zu sterben geht schnell. Zumindest glaubte ich das. Hatte ja selbst noch keine Erfahrung damit. Ich schlang mir die Arme um den Oberkörper, um mich warm zu halten. Ja, ich hatte einen langen Weg vor mir. Hoffentlich war es erst sechs Uhr oder so, es war noch ein bisschen dunkel, da war das gut möglich. Meine Uhr war stehengeblieben, eine Sache, die ich sehr bedauerte. Ich musste zusehen, dass ich eine neue bekam. Ich durfte nicht zu spät kommen. Ich

wusste nicht, was sie dann mit mir machen würden, sie schafften die, die zu spät kamen oder einen Tag gefehlt hatten, meistens weg, sodass wir nicht sahen, was sie dann taten. Irgendwie schreckte uns das mehr ab, als wenn wir gesehen hätten, wie sie sie zu Tode traten, steinigten, hängten oder erschossen. Die Ungewissheit hielt uns in diesem Fall davon ab, wissentlich und beabsichtigt zu spät zu kommen. Man wusste ja nie, was noch auf einen zukam. Es war niemals auszuschließen, dass es noch schlimmer ging. Aber dass die, die sie wegschafften, getötet wurden, ist wohl klar. Es gibt schließlich genug von uns,

Millionen, vielleicht sogar Milliarden. Nur die besten, die zuverlässigsten und demütigsten werden übrig gelassen. Na ja und die, die besonders gerissen sind natürlich, denn die erwischt oft jahrelang keiner und wer nicht erwischt wird, kann auch nicht bestraft werden. Es dauerte wahrscheinlich etwa eine Dreiviertelstunde, ehe ich das Viertel, aus dem ich stammte, erreichte. Eigentlich war es kein Viertel, genau genommen war es ziemlich genau ein Achtel von Black Trap, aber trotzdem sprach jeder von Vierteln. Ich überlegte, ob ich noch einmal bei Olli vorbeischauen sollte, das Säckchen mit dem Lavendel dort verstecken sollte,

doch im Grunde hatte ich keine Zeit mehr. Ich hätte mich auch drücken können, aber das hatte ich mir selbst verboten. Ich schwänzte nicht, wenn ich noch in der Verfassung war, zu arbeiten. Und so wanderte ich weiter durch die Straßen, bis ich den zweiten Minensektor erreichte, den Sektor, in dem ich schon mein ganzes Leben, seit ich mich erinnern konnte, mit einer geliehenen Hacke schwarzes Silber aus den Wänden schlug. Jeder hatte nur in seinem Sektor zu arbeiten, sich anderswo zu melden, war strengstens untersagt. Und wenn etwas untersagt ist und man es trotzdem tut, bedeutet das in den allermeisten Fällen

die Kugel oder das Beil oder den Strick oder was die Aufseher eben sonst gerade so zur Hand haben. Deswegen kam immer jeder nur zu seinem Sektor, wenn er denn kam. Einfache Geschichte. Trotz der Umstände schmissen nur die wenigsten ihr Leben einfach so weg. Zu jedem Viertel – beziehungsweise Achtel – gehörte ein Minensektor. Sie waren ganz langweilig von 1 bis 8 durchnummeriert und fünf Tage die Woche musste man hier antanzen und seinen Dienst tun. Das ging dann etwa von um sieben bis vier Uhr nachmittags, zumindest wenn die Aufseher faires Spiel spielten.

Das waren also etwa neun Stunden Arbeit am Tag. Aber das hörte sich nur so harmlos an. Black Trap hatte seinen Namen schließlich nicht von ungefähr. Der Name war etwa fünfzig oder vielleicht auch siebzig Jahre alt. Er war ein wenig irreführend, denn dort wurde niemand wie in einer Falle gefangen. Man wurde da geboren und dann starb man auch dort. Und das war normal … irgendwie. Black Trap, das war unsere Stadt, die aus heruntergekommenen Hütten bestand und sonst nichts. Nur eng gedrängte Häuser. Black Trap war gigantisch. Black Trap war meine Heimat und hätte

auch mein Grab werden sollen. Black Trap war eine Sklavenstadt. Als ich den Eingang des zweiten Minensektors sehen konnte, hob ich noch einmal den Blick. Über mir erhob sich, majestätisch und um einiges gigantischer als Black Trap, Thor. Viele nannten es auch Heaven’s Door, ich glaube, weil sie gar nicht wussten, dass der Name dieser Stadt der eines alten Gottes war und sie somit „Tor“, also wie „Tür“ verstanden. Ja … so kommen solche Spitznamen zustande. Heaven’s Door war die Stadt der Menschen, die über uns hier unten stets richteten. Sie lebten dort oben in riesigen Wolkenkratzern aus Stahl, Glas

und schwarzem Silber, in dem sich dunkel das Sonnenlicht brach. Vielleicht muss ich das alles ein bisschen besser erklären. Am Anfang gab es nur Black Mine, ein Bergwerk, in dem es reiche Vorkommen von schwarzem Silber gab, ein neuentdecktes Metall, das widerstandsfähig und zugleich recht einfach zu formen war und somit Menschen aus aller Welt faszinierte. Black Mine ist also nichts weiter als ein Loch im Boden, etwa fünfzig Meter tief. All der Schutt und natürlich das schwarze Silber und auch einige andere Rohstoffe sind nach draußen geschafft worden, in die Außenwelt, die ich nicht

kannte. Zurück blieb dieses Loch. Und dieses Loch wurde mit der Zeit zu Black Trap. Man siedelte dort die Sklaven an, Menschen, die sich nicht mit denen da oben messen konnten, weil sie weniger wohlhabend waren. Die Kluft wurde so groß, dass wir hier unten bald nicht einmal mehr sagen konnten, ob die da oben wirklich so waren wie wir. Ob sie wirklich menschlich waren. Das waren aber auch Fragen, die wir uns gar nicht stellten. Black Trap wächst immer weiter, weil auch Black Mine immer mehr ausgeweitet wird. Die Stadt breitet sich aus, weil die Wände dieses Bergwerks

Stück für Stück, beinahe konstant, abgetragen werden. Heaven’s Door hingegen wurde über Black Trap gebaut, auf starken Stahlträgern schweben Straßen, Grünanlagen und Häuser. Die Menschen da oben schauten möglicherweise auf uns herab und ärgerten sich darüber, wie hässlich unsere Stadt ist. Aber das war mir immer egal. Ich kann nicht einmal sagen, dass sie mich interessierten. Ich hatte niemals einen Gedanken daran verschwendet, ob es ihnen da oben besser ging als uns. Sicher war dem so, aber ich hatte kein Interesse daran, Genaueres zu erfahren. Ich ging entschlossen auf den Minentrakt

zu und wurde auch sogleich von einem der Aufseher abgefangen, einem kräftigen Kerl mittleren Alters, mit blonden Haaren und grauen Augen. Ich kannte ihn, er war schon seit gut zehn Jahren hier. „Du bist spät dran“, raunte er. „Nummer?“ „K1478“, antwortete ich. Ich kannte mich nicht mit Zahlen aus, alles über 100 überstieg eigentlich meinen Horizont, aber die eigene Nummer zu kennen, war drin. Ich hatte sie seit meinem fünften Lebensjahr auswendig lernen müssen. Ich konnte sie ja nicht sehen, da sie in meinen Nacken tätowiert worden war.

Sie überprüften die Nummern nicht, sahen nicht nach, ob alles seine Ordnung hatte. Das hatten sie noch nie getan. Solange genug gearbeitet wurde, war denen alles egal. Die mussten nur Resultate anbringen. Gefährlich wurde es erst, wenn zu wenige im Bergwerk erschienen, dann würden sie sicherlich in Aktion treten. Doch unter uns Sklaven gab es die unausgesprochene Abmachung, dass sich keiner mehr drückte als unbedingt nötig. Es funktionierte. Denn wenn die Aufseher irgendwann bemerken sollten, dass die Arbeit in Black Mine zum Erliegen kam, waren wir alle am Arsch

und so kam es, dass wir uns gegenseitig zum Arbeiten anhielten. Ja, das System war verrückt, ich geb’s zu. Dass ich zu spät war, ließ zwar ein klammes Gefühl in meinem Magen aufkommen, aber ich kannte den Aufseher, er war keine Bestie, die Gefallen daran fand, die Arbeiter zu quälen oder zu töten. Wobei ersteres mir deutlich schlimmer vorkam. Der Mann, der gebaut war wie ein Schrank, drückte mir eine Hacke in die Hände und gab mir einen ordentlichen Schubs in Richtung Minenschacht, sodass ich beinahe hingefallen wäre. „An die Arbeit. Und wehe, ich sehe dich auch nur einmal faulenzen. Dann ist das

hier deine letzte Schicht gewesen.“ Ich atmete kaum merklich auf und machte mich sogleich an die Arbeit. Ach ja – dass wir Sklaven waren, bedeutet natürlich, dass wir nicht für unsere Arbeit bezahlt wurden. Ist ja logisch. Nein, dass wir arbeiteten, garantierte uns keinen Lebensunterhalt, nur unser Leben selbst. Aber auch das war schon ziemlich wertvoll. Wer nicht arbeitete und beim Faulenzen erwischt wurde, wurde abgemurkst. Essen kriegten wir auch keins. Das mussten wir uns untereinander dazuverdienen. Deshalb wurde auch rumgehurt und geklaut und gemordet was das Zeug hielt. Aber Unkraut

vergeht bekanntlich ja nicht. Egal, wie viele täglich starben, es wurden nicht weniger von uns. Zumindest nicht so, dass es sich bemerkbar gemacht hätte. Aber zum Handel und dem ganzen anderen Zeug später mehr. Ich arbeitete hart und schlug einen Erzklumpen von dem schwarzen Silber nach dem anderen aus der Wand. Ja, es gab dieses Zeug wirklich wie Sand am Meer. Auch wenn ich nicht wusste, was das Meer war, aber den Spruch kannte ich, darum benutze ich ihn jetzt. Man erkannte es gut als dunkel glänzenden Stoff unter all dem matten Stein. Manchmal fand man auch einen Diamanten oder eine Goldader. Aber das

musste natürlich alles abgegeben werden. Aber das war kein Problem, für uns hatte rohes, schnödes Metall als solches nämlich keinen Wert. Auch keine Edelsteine. Die Arbeit war hart, aber ich hatte gelernt, dass sie zum Leben dazugehörte. Nein, wirklich – ich verstand die Menschen nicht, die einen Strick nahmen und sich irgendwo im Gebälk einer heruntergekommenen Hütte aufhängten. Ich verstand die nicht, die sich den Kopf wegpusteten – sei es mit einer Knarre, Alkohol oder anderen, schlimmeren Drogen. Ich verstand die nicht, die in ihrem Leben kein Licht

mehr sahen. Okay, meins war auch nicht gerade erhellt, aber vielleicht machte mir die Dunkelheit auch nicht so viel aus. Ich wusste selbst nicht, wo der Unterschied zwischen ihnen und mir lag. Aber mir war das Leben teuer. Und das von denen, die ich liebte. Darum sorgte ich mich beinahe immer um Michi, immer, wenn ich Zeit dafür hatte. Es war nicht so, dass ich abends stundenlang wachgelegen hätte, weil ich an ihn dachte, nein, dafür war ich meistens viel zu müde. Nein, diese Zeit hatte ich, wenn ich in Black Mine arbeitete und arbeitete und arbeitete, bis sich mir die Haut von den Händen pellte und anderswo die Hornhaut nur so

wucherte. Ich hatte also viel Zeit, mir Sorgen zu machen. Die Sache ist nämlich die, Michael arbeitete nicht mehr. Er war seinen Aufsehern schon vor langem entwischt, das war noch gewesen, da hatten wir uns noch gar nicht gekannt, war also schon gut sechs Jahre her. Er war ein Halbstarker gewesen, der in „das Geschäft“ einsteigen wollte. „Das Geschäft“ ist eigentlich gar kein richtiges Geschäft. Im Grunde ist es ein Ausbruch aus Black Trap, raus in die Außenwelt, wo noch andere Pflanzen wachsen, die kein Unkraut und kein Moos sind. Nicht einfach nur Pflanzen,

richtige Felder davon. Mohn zum Beispiel. Ja, er war draußen gewesen und hatte die Felder abgeklappert, hatte die Kapseln abgerissen und sich die Taschen damit vollgestopft. Wie schon gesagt, Mohn war bei uns ein beliebtes Mittel, um sich den Schlaf zu erleichtern, die Schmerzen zu betäuben und, bei sehr exzessivem Gebrauch, eventuell auch die ganze Welt um sich herum zu vergessen. Aber es gab auch noch ganz anderes Zeug. Den Lavendel hatte Michael nur für mich mitgebracht, verkaufen konnte man solche Mauerblümchen nicht. Verstand

ich gar nicht, ich fand immer, dass sein Duft beruhigend wirkte. Aber den meisten reichte das nicht mehr. Johanniskraut war auch so etwas, es hielt die Leute bei Laune. Und mit „bei Laune“ meine ich, dass es vor allem denen half, die sich gerne selbst den Strick geknüpft hätten. Na ja, im Grunde verlängerte das ihr seelisches Leiden nur … Michi hatte mir davon angeboten, weil es, wie der Lavendel, eine eher simple Droge war. Er wusste, dass ich die härteren Sachen nicht nehmen wollte, weil ich mir nicht sicher war, ob dann wirklich ich weiterhin meine Entscheidungen fällte.

Eigentlich machte das Kraut noch nicht mal richtig abhängig. Das zeigte mir persönlich, dass Michael anders war als die meisten. Ein Großteil der sogenannten „Ausreißer“, wie Michi einer war, kamen nur mit dem wirklich extremen Stoff aus der Außenwelt zurück und vertickten dann den zu steigenden Preisen. Die Leute wurden abhängig und mussten jedes Mal was davon kaufen, seien es Muskatnüsse oder Kokain, so hielten sie sich ihre Kunden warm. Natürlich funktionierte dieses Konzept nur, wenn sie schneller waren als die Verzweiflung, die dann die ereilte, die

auf die Lieferung warten mussten. Und schneller als andere Dealer natürlich, die ihnen die Kunden vor der Nase wegschnappen konnten. Es gab viele Möglichkeiten, beim „Ausreißen“ umzukommen. So unendlich viele, dass es an ein Wunder grenzte, dass Michi seit sechs Jahren immer wieder zurückgekommen war. Ich fürchtete den Tag, an dem ich mir würde eingestehen müssen, dass er es dieses eine Mal nicht geschafft hatte. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und wechselte die Spitzhacke kurz in meine linke Hand. Die rechte fühlte sich bereits an, als wäre sie nicht mehr als rohes Fleisch. Aber noch ging es. Es

war schon mal schlimmer. Ich nutzte den Moment zum Verschnaufen, der große Blonde hatte mir den Rücken zugedreht. In diesem Moment kam ein kleiner Junge zu den Brocken gelaufen, die ich aus der Wand geschlagen hatte. Er widmete mir nicht einmal einen Blick, nahm nur einen Brocken Rohsilber auf und lief damit davon. Die meisten Eltern schickten ihre Kinder zum Sammeln aus, weil die Arbeit mit der Hacke noch zu schwer für sie war. Allein die Hacke war ja schon ziemlich schwer. Meistens war das Silber sogar ganz leicht, weil es nur kleine Steine waren. Dann flitzten die Kinder hier

umher und suchten eifrig die Klümpchen zusammen. Hier wuchs jeder in den dunklen Minenschächten auf. Auch meine frühesten Kindheitserinnerungen setzen dort ein. Wie ich meiner Mutter geholfen habe, ich habe die Loren mit dem Erz gefüllt, zusammen mit vielen anderen Kindern meines Alters. Es gab hier auch Mütter, die sich ihre besonders kleinen Kinder auf den Rücken geschnallt hatten und so Metall abbauten. Dann gesellte sich zu dem steten Scheppern und dem Hämmern auch noch Kindergeschrei. Dann gab es solche, die ihre Kinder noch trugen, obwohl sie bereits laufen

konnten. Wenn man dann die Aufmerksamkeit eines Aufsehers erregte, fuhren sie die Mütter meistens sehr barsch an und zwangen sie dazu, ihre Kinder ebenfalls arbeiten zu lassen. Ich entschied, dass ich jetzt einen Schluck Wasser brauchte und ging zu dem unterirdischen See, der ziemlich weit hinten im Minensektor lag. Hier hatte man irgendwann eine unterirdische Wasserquelle angezapft und seitdem gab es sehr viel weniger dehydrierte Arbeiter. Ein Vorteil für sie und für die Arbeiter. Auch wenn mir mal einer gesagt hatte, dass das Wasser mit Quecksilber und anderen giftigen Substanzen verseucht

sei, mir war es egal und den anderen auch. Die Wahrscheinlichkeit, dass man hier elendig krepierte, war auch vorher schon recht hoch gewesen. Die wenigsten gingen wirklich an der Erschöpfung ein. Meine Gedanken wanderten immer wieder zu Michael, ich hatte wirklich viel zu viel Zeit, um an ihn zu denken. Ich fragte mich, was er jetzt wohl tat. Hatte er seine Beute bereits versteckt? Hatte er sie verkauft? Würde ich ihn noch einmal wiedersehen, ehe er wieder fortging? Michael war ein Mann, der im achten Viertel von Black Trap aufgewachsen war, unter uns auch unter dem schlichten

und einprägsamen Namen „Todestrakt“ bekannt. Der unheilvolle Name kam daher, dass es in diesem Viertel die wahrscheinlich höchste Sterberate durch Gewaltverbrechen gab. Auch wenn das natürlich eine Dunkelziffer war. Beinahe alles bei uns beruhte auf Gerüchten. Sonst gab’s ja nix. Ich war noch nie dort gewesen, warum nicht, ließ wohl schon dieser Spitzname und der Grund, warum das Viertel diesen Namen trug, erahnen. Na ja, um das Sektor-und Distriktprinzip von Black Trap zu verstehen, muss man wohl wissen, dass unsere Aufseher von oben kommen, aus Thor, jedoch sind sie keine freien Menschen. Sie sind Sklaven,

genau wie wir, Sklaven, die den Menschen da oben den Haushalt schmeißen, die Kinder unterrichten, solche Sachen. Haussklaven. Der beschönigende Begriff dafür ist wohl „Diener“. Die, die nicht zum Kochen, zum Waschen oder anderen Dingen taugen, werden zu uns geschickt, täglich kommen sie zu uns runter in unsere Stadt, nach Black Trap. Dann beaufsichtigen sie uns Arbeiter, patrouillieren in unseren Straßen, bewachen die Grenzen, die umzäunten Ländereien rund um Black Mine. Dabei haben sie absolute Handlungsfreiheit.

Nicht, weil sie besonders wichtig wären, sondern weil es keinen kümmert, was sie so treiben. Manchmal brechen sie einfach in Häuser ein und nehmen meinesgleichen in Gewahrsam, vor allem dann, wenn der Verdacht auf Arbeitsverweigerung besteht. Ob man dann stirbt oder nicht, hängt von ihrer Gnade ab. Ich interessiere mich eigentlich nicht viel für mein Umfeld, für die Welt, aber man lernt ja auch einfach so, weil etwas um einen herum passiert. Man lernt, ob man will oder nicht. Man nimmt Eindrücke auf und man vergisst sie nicht.

Und eines habe ich gelernt: Diese Menschen haben Macht über uns. Und die meisten Menschen werden zu herzlosen Bestien, wenn sie frei über das Schicksal eines in ihren Augen niederen Lebewesens entscheiden müssen oder können. Es scheint wie ein Rausch zu sein, denn die meisten werden nicht einfach erschossen, wie es vorgesehen ist, auch gehängt werden nur die wenigsten. Viel häufiger treten die Aufseher auf diese armen Schweine ein, ganz gleich, ob sie wirklich etwas verbrochen haben oder nicht. Diese Todesqualen sind schlimmer als alles andere.

Menschen sind grausam. Alle Menschen. Ich dachte an Michael. Ja, auch Michael war grausam, wahrscheinlich hatte er schon mindestens so viele Menschenleben auf dem Gewissen wie die anderen Ausreißer und Diebe. Ich habe schon gesehen, wie er einen Mann erstochen hat, einmal hat er einem den Schädel zertreten und auch einen Abzug hat er schon betätigt. Nicht einmal ich hatte eine weiße Weste. Und eigentlich war das auch gut so. Je offensichtlicher das Blut, das deine Hände befleckt, ist, desto sicherer bist du. Niemand greift jemanden an, dem das

Wort „Mörder“ quasi auf die Stirn tätowiert steht. Denn wenn du harmlos aussiehst, findet sich ein anderer, der es nicht ist. ~ Ich kehrte so gegen fünf Uhr wieder nach Hause zurück. Mein zu Hause, das war die Scheune vom alten Oliver. Er ließ mich schon seit Jahren, seitdem ich ein kleines Mädchen war, bei sich wohnen, wenn ich ihn im Gegenzug irgendwie durchbrachte. Er war auch ein Ausreißer, aber einer der anderen Art. Einer, der nicht mehr arbeiten konnte

und wahrscheinlich dafür bestraft worden wäre. Er hockte nur noch in seiner Scheune und tat nichts. Wartete. Tat nichts. Ich glaube, mit einem solchen Lebensinhalt würde ich wahnsinnig werden. Aber Oliver legte immer eine erstaunliche Geduld an den Tag. Womit genau er so geduldig war, weiß ich nicht. Mit dem Leben vielleicht, oder mit dem Tod, der sich seiner noch nicht erbarmt hatte. Ich weiß es nicht. Olli sprach nicht viel. Er konnte sich kaum noch bewegen. Er war sehr alt. Wie alt genau, weiß ich nicht. Einen Monat zuvor war er dann

plötzlich erblindet. Na ja, was heißt plötzlich. Sehen konnte er noch nie gut, solange ich ihn kannte. Und ich kannte ihn seit mittlerweile über zehn Jahren. Aber jetzt hatten seine Augen vollends den Geist aufgegeben. Ich schob das Tor auf und schlüpfte in den Raum. Es war stickig, ungewöhnlich zu dieser Jahreszeit. Aber irgendwie fand hier beinahe kein Luftaustausch statt. Es roch nach Staub und Stroh. Das Stroh war das beste an der Scheune. Oliver hatte es einmal herangeschafft und seitdem bemühte ich mich darum, dass es trocken blieb, damit es nicht faulte. Ein besseres Bett konnte man gar nicht haben.

Wie immer saß Oliver in seinem alten Schaukelstuhl. Er schaukelte schon lange nicht mehr damit, das hatte ich ihm beizeiten abgewöhnt. Nur weil er beinahe taub war und das elende Quietschen nicht hörte, galt dasselbe ja nicht für mich. Er bemerkte wohl meine Anwesenheit und richtete sich ein wenig auf. „Bist du das, Ronja?“, fragte er mit vom Alter brüchiger Stimme. „Ja, ich bin es“, bestätigte ich sanft und lächelte. Ich ging an ihm vorbei in die Ecke, die ich zum Schlafen bevorzugte. Dort lag jede Menge Stroh, sodass es ein richtig

bequemes Lager war. Beinahe schon Luxus. Ich wühlte eine Tasche aus meinem Versteck im Stroh hervor und nahm zwei der drei Eier zur Hand, die ich mir zwei Tage zuvor verdient hatte. Ich ging zu Oliver zurück und drückte ihm eins von den Eiern in die faltigen Hände. „Gut festhalten“, sagte ich dabei gutmütig. „Hab hart dafür gearbeitet.“ Er nickte zittrig und versuchte, die Schale mit seinen Zähnen aufzubrechen, aber er scheiterte daran, dass er seine Hände kaum oben halten konnte. Ich sah mir das eine Weile an, dann seufzte ich und nahm ihm das Ei wieder ab. Ich schlug es am Boden auf und pulte

dann nur ein kleines Loch hinein. Dann gab es ich ihm zurück. „Oben ist das Loch. Wohl bekomm’s.“ Dieses Mal schaffte er es, das Ei auszuschlürfen. Ich biss ebenfalls in die Schale und trank das Eiklar und den Dotter aus. Das war das erste, was ich heute in den Magen bekam und dieser dankte es mir. Eier waren ein zu jeder Tageszeit hart umkämpftes Nahrungsmittel, weil man es hier, in Black Trap, auftreiben konnte. Hier gab es tatsächlich noch einige Hühner und sogar Schweine, manchmal traf man eine Kuh. Schweine waren natürlich Freiwild, und jeder der eins erlegen konnte, durfte sich glücklich

schätzen, aber jeder, der es wagte, ein Huhn oder eine Kuh zu töten und dabei erwischt wurde, musste davon ausgehen, dass er dafür von seinen Mitmenschen gelyncht wurde. Immerhin legten Hühner Eier und die Kühe gaben Milch, zumindest, wenn sie ein Kalb hatte. Sie zu töten war ein Verbrechen, das selbst wir nicht tolerieren konnten, obwohl Black Trap beinahe nur aus Verbrechen bestand. Aber niemand, wirklich niemand, tötete ungestraft Hühner. Das war ein ungeschriebenes Gesetz unter uns Arbeitern. Die wenigen Eier und die Milch waren ein wahrer Schatz. Es gab viele, die Eier

sammelten oder die Kühe molken – natürlich nachdem sie sämtliche Konkurrenten außer Gefecht gesetzt hatten – und sie dann für andere Dinge eintauschten, Kleidung oder solche Dinge wie Uhren. Nicht selten Dienstleistungen. So wie es bei mir der Fall gewesen war. Ich muss ziemlich gut in Form gewesen sein, wenn diese eine Nacht dem Kerl drei Eier wert gewesen war … Na ja gut, immerhin war ich da auch nicht ganz unversehrt rausgekommen. Die blauen Flecken sprachen schließlich ihre eigene unmissverständliche Sprache. „Es tut mir leid, dass du immer so viel auf dich nehmen musst, Ronja“, sagte

Oliver nun und die leere Eierschale fiel zu Boden, als sie ihm entglitt. Ich hob sie auf. „Wohl eher in mich“, murmelte ich sarkastisch, während ich die glitschig-harte Schale zwischen meinen Fingern zerdrückte, doch das hörte der alte Mann nicht. Ich antwortete ihm nicht weiter. Was sollte ich auch sagen? Dass es schon okay war? Ja, war es … irgendwie. Solange es mich nicht umbrachte … Aber ich sagte trotzdem nichts dazu. Das hier war ja schließlich kein Theaterstück, sondern ernste Realität, mit einem beachtlichen Anteil Bitterkeit. Ich betrachtete den Mann, der mir nun schon seit mehr als zehn Jahren ein Dach

über dem Kopf gewährte, nachdenklich. Er reagierte nicht auf meinen Blick. Oliver bereitete mir Sorgen. Nicht, weil er bald sterben könnte. Das wusste ich und das machte mir nichts aus, so herzlos das auch klingen mag. Aber das Leben endet nun Mal für uns alle irgendwann, auf die eine oder die andere Weise. Und wenn Olli auch weiterhin unentdeckt blieb, hatte er vielleicht sogar einen ziemlich friedlichen Tod vor sich. Nein, es ging darum, dass er die Scheune nicht würde halten können. Die meisten Menschen vermieden es, fremde Häuser zu betreten, aber wenn sich jemand fand, der es doch wagte, ein

Dieb, ein Ausreißer, irgendeiner, der sowieso schon Kopf und Kragen riskierte – was würde er hier vorfinden, während ich in Black Mine war? Einen alten Mann, der sich nicht mehr im Geringsten wehren konnte. Ja. Eines Tages würde ich nicht mehr nach Hause kommen können, ohne um mein Leben zu fürchten. Es gab Menschen, die konnten es schon beinahe riechen, wenn ein Haus unzureichend oder gar nicht bewacht wurde. Früher, da hatte er sich noch verteidigen können. Olli hatte sehr gut mit Messern und Mistgabeln umzugehen gewusst, aber das lag schon lange zurück. Ich konnte nicht auf ihn aufpassen, weil ich

gewissenhaft im Bergwerk arbeitete. In Black Trap herrschte die Anarchie. Jeder, der diese nette kleine Scheune haben wollte, konnte und würde sie sich nehmen. Daran bestand kein Zweifel. Ich wischte diese Gedanken beiseite. Eigentlich hatte ich mir mal, vor zwölf Jahren oder so, geschworen, nicht mehr so viel nachzudenken, aber Gedanken fragen nicht, ob sie hereinkommen dürfen. Genau wie diese Menschen, die sich einfach nehmen, was sie wollen. Doch jetzt befahl ich mir, nicht mehr nachzudenken. Ich lebte immer nur im Heute, niemals im Morgen. Manchmal lebte ich im Gestern, aber niemals, wirklich niemals, im Morgen. Morgen

war ein grausamer Ort. Heute war ein sicherer Ort, vorausgesetzt, ich hatte Black Trap bis nach Hause überlebt. Ein Klopfen ließ mich aufsehen und auch Olli schien es gehört zu haben, denn er verkrampfte sich merklich und seine Miene wurde besorgt. Ich erkannte das Klopfen. Es gab nicht viele, die nicht mit der Faust und mit aller Wucht gegen das Holz hämmerten, sodass sie fast die Tür rausschlugen. Okay, eigentlich gab es generell wenige, die anklopften, wenn sie denn schon vorhatten, ein fremdes Haus zu betreten. Aber dieses Klopfen kannte ich. Nur zwei Fingerknöchel, höflich, beinahe wie eine Hochgeborene. Na ja, das war

Unsinn … Ich legte Olli eine Hand auf den Arm. „Keine Sorge“, beruhigte ich ihn. „Das wird Annika sein.“ Ich klopfte ihm noch einmal gutmütig auf die Schulter, dann ging ich zum Tor und schob es langsam auf. Es war schwer und klemmte zudem. Wie erwartet kam Annikas Gesicht zu Vorschein. Es war ein sehr kantiges, schmales Gesicht mit einer langen, geraden Nase, einer hohen Stirn, hohen Wangenknochen, vereinzelten Sommersprossen und kalten, geradezu eisblauen Augen, die unter tiefliegenden Augenbrauen wild funkelten. „Hey Ronja“, sagte Annika sogleich. Sie

kam immer rasch zum Punkt „Ich wollte heute Abend noch zum Inneren. Kommst du mit?“ Ich zögerte. „Heute noch? Wollen wir nicht lieber an einem Tag gehen, an dem wir nicht arbeiten müssen? Dann haben wir mehr Zeit …“ „Es gibt eine neue Lieferung, hab ich gehört. Ethan hat geplaudert. Also, was ist? Du siehst aus, als könntest du was Neues zum Anziehen gebrauchen.“ Sie musterte mit vielsagendem Blick meinen Kartoffelsack, der innerhalb der letzten fünf Tage so derartig ausgeleiert worden war, dass er obenrum kaum noch das Nötigste verdeckte. Ich seufzte. Ich wäre gerne hier

geblieben und hätte direkt die nächsten zwölf Stunden geschlafen, aber sie hatte ja Recht. Es gab keine Zeit zum Faulenzen. „Alles klar“, sagte ich. „Dann beeilen wir uns, damit wir noch was abkriegen.“ Annika nickte nur. „Fein. Florian hält die Stellung, wir haben gute Karten.“ Ich nickte ebenfalls, sah noch einmal über meine Schulter. „Ich bin nochmal weg, Olli“, sagte ich so laut, dass er es verstehen konnte. Als er nickte und etwas Zustimmendes vor sich hin murmelte, verließ ich die Scheune und schloss das Tor hinter mir. Dann liefen wir los, zielstrebig zur Mitte von Black Trap.

Die Aussicht, dass Annikas Bruder Florian da war und die kleinen Schätze vor anderen beschützte, hatte mich überredet. Meistens war es so – wir kamen da an und dann gab es nicht mal mehr Lumpen. Wir lebten zwar von wenig, aber für gar nichts lohnte sich der Weg durch halb Black Trap nun auch wieder nicht. Aber Florian war ein Kämpfer, der konnte da was drehen. Das war gut. Ohne Annika und ihren Bruder wäre ich verloren gewesen. Wir waren Freunde, obwohl wir uns noch gar nicht so lange kannten. Drei Jahre oder so, mehr nicht. Wir waren in unterschiedlichen

Distrikten von Black Trap aufgewachsen, ich im zweiten und die beiden Geschwister im sechsten. Diese beiden Stadtviertel lagen einander genau gegenüber, was bedeutete, dass wir am weitesten voneinander entfernt lebten. Wir waren uns dann mal begegnet und wir hatten uns gut verstanden, Annika und ich. Ihren Bruder kannte ich nicht so gut und ich mochte ihn auch nicht wirklich, aber man durfte mit seinen Kontakten nicht wählerisch sein. Er hatte was auf dem Kasten, und das war alles, was wirklich zählte. Dennoch war es gut, dass Annika als entscheidende Kontaktperson zwischen mir und ihm fungierte.

Der Fußmarsch dauerte lang und der Weg durch die Straßen des sogenannten „Weiberviertels“, wo ich aufgewachsen war, waren schlecht und wirklich unbequem. „Wieso bist du zu mir gekommen? Jetzt läufst du mindestens die dreifache Strecke“, sagte ich schließlich leise, während ich mir die eiskalten Arme rieb. „Für eine Freundin mach ich doch alles“, erwiderte Annika. Sie lächelte nicht dabei, ihr Gesicht war ernst wie immer. Und genau das sagte mir, dass sie es ernst meinte. „Verstehe“, sagte ich bloß.

„Du brauchst wirklich was anderes zum Anziehen“, sagte Annika. „Es geht auf den Winter zu und du rennst noch immer im Kleid durch die Gegend.“ Ich nickte. „Hatte vor, mir was Neues zu suchen.“ Annika selbst trug mittlerweile einen hellblauen Pullover, auf dem allerdings schon die ersten dunklen Flecken prangten. Es mochten Rost, Schlamm, Kohle oder auch Blut sein. Des Weiteren trug sie eine einfache Jeans und festes Schuhwerk. Beneidenswert. Wahrscheinlich hatte ihr Bruder dafür irgendwen umgelegt. Oder sie hatte es selbst getan. An solche Sachen kamen

normale – also „anständige“ Leute normalerweise nicht ran. Die liefen eher so abgerissen rum wie ich. Wir erreichten das Innere von Black Trap – die Müllhalde. Rohre führten von Heaven’s Door runter zu uns und über diese Rohre entsorgten die von da oben ihren Müll. Den dürfen wir dann durchsuchen. Man findet dort alles Mögliche. Annika hob die Arme und schwenkte sie durch die Luft, als sie ihren Bruder erblickte, der uns daraufhin entgegenkam. „Ist schon einiges runtergekommen. Hab ein paar Sachen für euch rausgesucht, seht sie euch an“, sagte er.

Er führte uns zu einem separaten Haufen, den er selbst aufgeschichtet hatte. Das meiste davon schien mir Stoff zu sein, aber es lugten auch Metallteile daraus hervor und dem Geruch nach zu urteilen gab es auch noch irgendwas Essbares darunter. Annika und ich machten uns gleich daran, nach etwas zum Anziehen für mich zu suchen. Ich war sicherlich nicht wählerisch, aber es gab nur wenige Sachen, die mir passten. Zu groß war okay, so lange es mich nicht total behinderte, aber auch zu kleine Sachen waren lästig und würden mich im Bergwerk und auch sonst stören.

„Hier, zieh das mal an“, sagte Annika und warf mir ein Knäuel dicken, festen Stoffes zu, das sich bei genauerem Hinsehen als Pullover entpuppte. Ich hatte noch nie einen Pullover gehabt und die Aussicht darauf stimmte mich beinahe euphorisch. Annika hatte so einen Pullover, Michael hatte einen, sogar einen mit Kapuze. Der hier hatte keine, aber immerhin war er schwarz. Ich zog ihn mir über den Kopf, zog ihn einfach direkt über mein zerschlissenes Kleid, fuhr in die Ärmel und zog den Saum über meine Taille. Er passte wirklich, er war groß und warm und weich. Ich fühlte mich wirklich an

Michael erinnert. Ich hob den Blick, hoch über meinem Kopf Heaven’s Door, groß und grau und zwischen den gestählten Straßen und Wolkenkratzerfundamenten immer mal wieder ein Stück grauen Septemberhimmels. Die Rohre, die sich wie Schlangen zu uns wanden. Sie müssen wirklich reich sein da oben, schoss es mir in diesem Augenblick durch den Kopf. Wie wohlhabend mussten sie sein, dass sie diesen Pullover einfach weggeworfen hatten? Er roch nicht einmal fremd, beinahe wie ungetragen und er war ziemlich sauber, dafür, dass ich ihn aus dem Dreck gezogen hatte.

„Sieht schon viel besser aus“, meinte Annika zufrieden. Ich nickte und lächelte. „Dann gehe ich mir noch ne Hose suchen“, sagte ich und wandte mich ab. In dem Haufen, den Florian da zusammengesucht hatte, gab es nur noch mehr Pullis. Und was sollte ich mit mehr als einem schon anfangen? Ich hockte mich vor den gewaltigen Haufen an weggeworfenen Sachen und begann, in dem ganzen Müll nach einer Hose zu suchen. Am besten eine Jeans, so wie Annika, Michael und Florian eine hatten. Ich hatte schon mal eine gehabt, die hatte ich zwei Jahre oder so getragen und

dann war sie auseinandergefallen. Die wenigsten Stoffe halten wirklich lange. Aber man findet ja auch immer wieder was Neues. Ich stoppte, als mir ein Stück Metall in die Hand glitt, eine silberne Armbanduhr, wie ich verwundert feststellte. Sie schien noch intakt zu sein. Die da oben mussten wirklich viel haben. Ich fragte mich, wo sie das ganze Zeug herbekamen. Ich meine, woher wir unsere Kleidung, unser Essen und die anderen Kleinigkeiten bekamen, war ja klar. Wir wussten, wo die Rohre hinführten. Aber woher hatten die da oben das alles?

Sie warfen alles weg, was sie nicht mehr brauchten, da oben wurde nichts wiederverwertet, nichts verkauft. Nur neu gekauft. Mit diesem Konsumverhalten hielten sie uns Arbeiter hier in Black Trap am Leben und das war auch für sie wichtig, denn tote Arbeiter sind schließlich schlechte Arbeiter. Aber hier unten käme niemals irgendwer auf die Idee, irgendwas wegzuwerfen. Auch wenn wir kein Interesse hatten an einem Wecker oder noch einem Schal, wir würden die Sachen nicht wegwerfen. Irgendwo fand sich immer einer, der dein Zeug brauchen konnte und der hatte

wiederum Sachen, mit denen er bezahlte. Ja, hier unten hatte sich ein reger Tauschhandel etabliert. Wir sammelten am Besten alles, was uns wertvoll erschien. Man wusste ja nie, was man dafür bekommen konnte. Es gab Tage, an denen hier bei uns besonders viel Zeug ankam und dann wurde geplündert, was das Zeug hielt. Heute war so ein Tag. Annika, Florian und ich waren nicht alleine, nein, bei Weitem nicht. Es gab solche, die bis zur Spitze des Müllbergs kletterten, das waren Egoisten, denen es egal war, wenn sie wahre Lawinen aus Schrott lostraten.

Wenn man dann unten nicht aufpasste, konnte das ganz schnell ziemlich gefährlich werden. Aber auch die Egoisten kamen meistens nicht mit heiler Haut davon. Nicht wenige verloren da oben den Halt, weil der Schrott nachgab, weil er ihnen die Füße blutig stach und schnitt, und dann stürzten sie und wurden manchmal bei lebendigem Leib begraben, sie schlugen sich den Kopf auf, brachen sich irgendwelche Knochen … Die Zahl der Toten schwankte. Auch hier flitzten die Kinder umher, sie sammelten Müll für ihre Mütter, während diese möglicherweise noch in Black Mine schufteten. Es gab

unterschiedliche Schichten, manche davon reichten auch von abends bis morgens. Jedenfalls gab es auch Mütter, die ihre Kinder zum Müllsammeln schickten, was diese zugleich zu Ausreißern machte. Aber das war weniger gefährlich, die meisten Aufseher, die die Stadt durchkämmten, ließen die Kinder einfach machen. Es gab ja niemanden, der das alles hier wirklich kontrollierte. Das anarchistische System von Black Trap beruhte auf Selektion und Menschlichkeit. Wie man Menschlichkeit in diesem Fall definiert, bleibt dem Betrachter überlassen. Ich muss sagen, dass ich die Mütter in

gewisser Weise bewunderte. Dass sie damit klarkamen, zu arbeiten und ihre Kinder arbeiten zu lassen, auf der Deponie oder im Bergwerk, ganz gleich, die Kinder konnten in beiden Fällen schon früh sterben. Ich bewunderte es, dass diese Frauen es auf sich nahmen, diese kleinen Menschen durch das Leben zu bringen, durch dieses Leben, das so verflucht unfair war. Ich hatte mal gehört, dass die Menschen da oben zu zweit zusammenlebten und gemeinsam ein Kind bekamen und noch andere. Also, dass jeder seinen festen Partner hat und dass eine einzelne Frau nur von einem einzigen Mann ein Kind

kriegt und andersherum. Dafür gab es sogar ein Ritual, das sich Heirat nannte. Ethan hatte mir das erzählt. Er war ein netter junger Mann, den jeder irgendwie gern hatte, einer von da oben, ein Aufseher. Ich wusste, dass seine Mutter dort oben auf die Kinder einer hochgeborenen Familie aufpasste und er selbst die Wahl gehabt hatte, dort oben in Thor Arbeiter oder hier unten in Black Trap Aufseher zu werden. Warum er sich für letzteres entschieden hatte, wusste ich nicht. Jedenfalls wusste ich auch nicht, was ich von dem halten sollte, was er mir da erzählt hatte. Vielleicht veralberte er mich ja auch. Zwei Menschen, die für

immer miteinander lebten? Für immer? Und immer nur Mann und Frau? Das klang ja so öde … Ja, irgendwie hatte ich den Eindruck, dass wir hier unten eine sehr eigenartige Freiheit besaßen. Uns wurde nichts vorgeschrieben, nichts außer der Arbeit in Black Mine und natürlich, dass wir in Black Trap zu bleiben hatten. Hier lebten die Kinder nur bei ihren Müttern, die hatten sie ja schließlich auf die Welt gebracht, und echte „Geschwister“, wie Ethan erzählt hatte, gab es nur selten. Natürlich gab es Männer, die sich mehrmals dieselbe Frau nahmen, oder es kam vor, dass zwei oder sogar drei Kinder auf einmal geboren

wurden. Aber die meisten waren wohl „Halbgeschwister“, wie Ethan sie genannt hatte. Ethan kam aus einer ganz anderen Welt. Ich verstand oft nur die Hälfte von dem, was er erzählte, weil es meinen Horizont überstieg. Aber ich hörte ihm gern zu. Das taten wir alle. Einmal hatte ich ihn gefragt, ob er denn seinen Vater kenne, ob der vielleicht sogar mit seiner Mutter zusammenlebe, wenn die das da oben schon so komisch handhaben, doch Ethan meinte, der Mittelschicht sei es verboten, zu heiraten. Ich hatte ihn daraufhin gefragt, ob es mit der Mittelschicht dann so wäre wie

bei uns. Nein, hatte er geantwortet, Menschen aus der Mittelschicht dürften sich nicht vereinen. Stattdessen sei er ein halber der Oberschicht, ein Mischling von den Obersten, weil der Herr im Haushalt Gefallen an Ethans Mutter, also dem Dienstmädchen der Familie, gefunden habe. Aber das habe ich ihm dann doch nicht geglaubt. Ich griff nach einer ausgefransten Stofftasche, die ich im Müllberg erspäht hatte, und steckte dort die Uhr hinein. Vielleicht würde ich sie für mich behalten, vielleicht würde ich sie gegen irgendetwas eintauschen. Obst und

Gemüse von draußen vielleicht. Obwohl das schon sehr teuer war … brauchten Ausreißer Uhren? Ich beobachtete ein kleines Mädchen, das neben mir den Müllberg hinaufkletterte und sich dabei ziemlich geschickt anstellte. Ich schmunzelte. Vielleicht würde sie mal eine Ausreißerin werden. Ich glaube, es gibt welche, denen sieht man solche rebellischen, kämpferischen Charakterzüge von klein auf an. Manchmal fragte ich mich, wie es wohl gewesen wäre, selbst so ein kleines Würmchen zu haben, es großzuziehen, es aufwachsen zu sehen. Mutter zu sein. Die Natur hatte mich für diese Rolle

vorgesehen, aber ich hatte mich dagegen gestemmt. Hier blieb keine lange ohne Kind, es sei denn, sie kam schon unfruchtbar auf die Welt. Oder sie entschied sich dagegen und ließ es wegmachen. So war es bei mir gewesen. Ich war vor drei Jahren das erste Mal schwanger geworden und hatte mir nicht vorstellen können, diese Verantwortung zu tragen. Ein Kind in diese Welt zu setzen, hier in Black Trap … Ich sah es ja heute noch jeden Tag, die schmutzigen, mageren Kinder in unzureichender Kleidung. Manche von ihnen verkauften sich schon im Kindesalter an Erwachsene, andere

gingen in der Mine zugrunde, wieder andere wurden von Menschen ohne Gnade getötet, von den Patrouillen oder von welchen von uns. Nein, das hatte ich nicht gewollt. Selbst zu leben, war die eine Sache. Ich lebte gerne, auch hier, was anderes kannte ich ja nicht, aber ich wollte kein Kind großziehen. Ich hatte lange darüber nachgesonnen und war zu dem Schluss gekommen, dass ich als Mutter vollkommen ungeeignet war. Ich liebte meine ganz eigene Freiheit, die Freiheit, hinzugehen, wo ich wollte, zu leben, wie ich wollte und auch die Freiheit, jederzeit sterben zu können, ohne irgendetwas wirklich Wichtiges

zurückzulassen. Ich hatte es wegmachen lassen, das Kind, kaum dass ich mir sicher war, dass es existierte. Bis zum heutigen Tag hatte ich es nicht bereut. Die Kinder starben hier mitunter wie die Fliegen, wo lag das Problem, wenn sie noch nicht einmal geboren waren? Nein, es war gut so gewesen. In Black Trap war kein Platz für Reue. Ich hatte Annika zu diesem Zeitpunkt gerade erst kennengelernt, aber wir hatten uns auf Anhieb verstanden. Sie war es auch gewesen, die es weggemacht hatte. Sie war eine starke Frau, die ich für ihre ganze Art sehr bewunderte. Sie hatte nicht einmal versucht, mir meine

Entscheidung auszureden, sie hatte einfach nur genickt und dann hatte sie auch schon die Messer gewetzt, um sich ans Werk zu machen. Das war das einzige Mal gewesen, dass ich Michael um Mohnsaft gebeten hatte und er war meiner Bitte nachgekommen. Ich hatte kurz vorher noch panische Angst bekommen, wegen der Schmerzen, die ohne Betäubung auf mich zugekommen wären. Ich hatte mir so viel Opium eingeflößt, dass Annika noch mit ihrem trockenen, bierersten Humor meinte, das Baby würde davon noch von selbst abgehen. Was danach geschehen war, wusste ich nicht.

Ich hatte nichts von der Operation mitbekommen. Es war in der Baracke geschehen, in der Annika und Florian zusammen mit ihrer Mutter wohnten. Ich war erst am nächsten Tag wieder aufgewacht und dann war es vorbei gewesen. Wie gesagt, ich hab mein Kind nie betrauert. Ich sprang aus Reflex auf, als sich vom oberen Teil des Müllbergs scheppernd einige Metallteile lösten und langsam zu mir herunterrutschten. Man durfte die Gewalt einer Schrottlawine nicht unterschätzen. Ich hatte schon mehrmals die Knochenteile gesehen, die

übrigblieben, wenn alle anderen den verwertbaren Schrott weggeschafft hatten. Kein schöner Anblick und gewiss kein schöner Tod. „Hör mal, Annika“, hörte ich da hinter mir Florians Stimme. „Deine kleine Freundin da sieht gar nicht mal so übel aus. Meinst du, sie lässt mich mal ran?“ Ich drehte mich nicht um, doch mein Blick verfinsterte sich. „Frag sie“, antwortete Annika ihrem großen Bruder so kühl wie immer. Ich schluckte. Mistkerl. Jetzt fragte er auch noch seine Schwester, ganz so, als wollte er, dass sie mich überredete. Ich mochte Florian nicht. Er war mir schon mehr als einmal nähergekommen und er

gehörte zu der Art Mann, die ich verabscheute. Mochte ja sein, dass ich mit jedem schlief, der was zu bieten hatte, das taten alle Mädchen und Frauen und auch die Kerle, klar, aber auch wir hatten unseren Stolz. Wir waren trotz allem keine Objekte. Es gab Männer, bei denen spürte ich, dass ich in ihren Augen nicht mehr war als eben das. Ein Objekt. Natürlich schlief ich auch mit denen, wenn sie bezahlen konnten, aber das waren oft auch die, die mir wehtaten, mehr als unbedingt notwendig. Ich wollte nicht mit dem Bruder meiner besten Freundin schlafen. Es gab

Männer, die sah ich einmal und nie wieder, schließlich war Black Trap groß und die Auswahl an Frauen und Männern ebenso, aber Florian würde ich wiedersehen. Nein. Einfach nein. Ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie sich nun auch Annika daran machte, den Müllberg hinaufzuklettern. Ich dachte kurz an Florian und dann entschloss ich, es meiner Freundin gleichzutun, um Florian vorerst zu entkommen. Es war gar nicht mal so leicht, auf der Müllkippe Fuß zu fassen. Ständig löste sich irgendwas, man rutschte weg, musste nochmal von ganz unten anfangen. Aber immerhin war ich nicht

barfuß. Die Verletzungsgefahr war also etwas geringer. Glasscherben und scharfe Metallteile wurden hier zum Verhängnis vieler. Über die Verletzungen fingen sie sich dann Krankheiten ein, bekamen Wundstarrkrampf oder etwas ähnlich Übles und gingen daran dann zugrunde wie die Tiere. Doch ich erreichte den Gipfel des Müllbergs. Heute war er so hoch geworden wie nur selten, selbst ich hätte mich jetzt nur noch strecken müssen, um eines der metallenen Rohre zu berühren, über die der Abfall zu uns gekommen war. Als Kind hatte ich mir immer vorgestellt,

wie es wohl wäre, einfach dort hinaufzuklettern, in die Rohre und dann immer höher, bis hinauf nach Heaven’s Door. Heute interessierte mich das nicht mehr, ich glaube, dass ich gar nicht dort hinauf wollte, in eine Welt, in der man warme Pullover und absolut intakte Uhren wegwarf, in der man auf ewig mit einem Menschen unter demselben Dach lebte. Wirklich, das erschien mir wie das größte Übel. Denn was tat man denn, wenn man an einen totalen Mistkerl oder die schlimmste Zicke überhaupt geriet? Und dann musste man auch noch mit dieser Person quengelnde Kinder

aufziehen? Das klang mir überhaupt nicht mehr nach einer himmlischen Stadt. Und überhaupt, wer bestimmte das denn? Wer hatte da oben denn das Recht, zwei freie Menschen auf ewig mit unsichtbaren Ketten aneinanderzufesseln, wer durfte das denn entscheiden? In meinen Ohren klang ein solches System absolut hirnrissig und noch dazu ziemlich öde. Einschränkend und freiheitsberaubend. Ich lächelte Annika zu, als ich vor ihr zum Stehen kam. „Hier oben hat man eine tolle Aussicht“, sagte ich und drehte mich einmal um meine eigene Achse, darauf bedacht, nicht das

Gleichgewicht zu verlieren. Um mich herum sah ich die großen Mauern aus Holz, richtige Wälle, die die Müllhalde einzäunten. Was dahinter lag, konnte ich zwar nicht sehen, aber das wusste ich. In acht großen Kreissegmenten lagen dort die acht Bezirke von Black Trap. „Du bist so ein Kind“, meinte Annika nur, klang dabei weder freundschaftlich noch abwertend, sie sagte es einfach nur so. Vielleicht hatte es nicht einmal eine Bedeutung. Ich hockte mich zusammen mit ihr hin und begann, nach irgendetwas Nützlichem zu suchen. Allem Anschein nach war Florian unten geblieben. Es

dauerte eine Weile, bis ich es wagte, einen Blick zu riskieren. Ja, er war wirklich noch dort, suchte auf eigene Faust nach Wertgegenständen. „Mach dir keine Sorgen“, sagte Annika da plötzlich. Ich sah ruckartig zu ihr. „Solange ich in deiner Nähe bin, wird er dir nicht zu nahe kommen. Und wo er ist, bin auch ich.“ Annikas Stimme blieb auch jetzt vollkommen ausdruckslos, eigentlich klang alles, was sie von sich gab, wie ein einziges gelangweiltes Seufzen. Ich nickte knapp. War ja klar, dass sie mich durchschaut hatte … Wir sprachen nicht weiter darüber. Nicht

darüber, dass ich ihn nicht mochte und warum. Sie hatte mich einfach nur beruhigen wollen. Vielleicht verstand sie mich auch ohne Worte. Vielleicht verstand sie es auch als Frau, obwohl Florian ihr Bruder war, dem sie niemals von der Seite wich. Ich sammelte noch eine weitere, kleinere Uhr ein, ich fand zwei hübsche Halsketten, die ich vorsichtig von dem restlichen Schrott löste, in dem sie sich verfangen hatten. Gerade solche kleinen Sachen sind manchmal ziemlich viel wert. Es gibt Menschen, die sehen das als Statussymbol, obwohl es hier so etwas wie einen Status gar nicht gibt. Schließlich fand ich sogar etwas, das ich

so einsteckte, dass Annika es nicht sah – ein Handy. Die Dinger waren verdammt selten und eigentlich ziemlich unnütz, man konnte eine Zeit lang Spiele drauf spielen oder, wenn man jemanden fand, der auch eins hatte, dann konnte man über gewisse Entfernungen miteinander sprechen. Gruselig, irgendwie, aber auch ziemlich cool. Aber an sich braucht man sowas eigentlich nicht. Die hielten auch nicht besonders lange. Irgendwann ging einfach das Licht aus und dann war’s das. Aber trotzdem nahm ich es mit. Ich würde es sicher gegen was Gutes eintauschen können. Es gab immer wieder ein paar Dumme, die meinten, herausgefunden zu haben, wie man mit

diesen Handys umging, damit sie nicht kaputtgingen. Hatte bisher aber noch keiner geschafft. Hätte man mich nach meiner bescheidenen Meinung gefragt – ich glaube, es gab da irgendeinen Mechanismus, der dafür sorgte, dass die Dinger nach ein paar Wochen unten bei uns unbrauchbar wurden. Ich wurde wieder auf Annika aufmerksam, als sie sich plötzlich nach vorne lehnte und mit einer ungewohnten Hektik den Schrott beiseiteschob, sodass dieser langsam und mit einem vernehmlichen Scheppern den Hang hinunterrutschte. Ich wandte mich wieder zu ihr um. „Ist

was?“ „Ja … sieh mal, Ronja“, sagte Annika und ihre Stimme klang angespannt. Ich war einen Moment lang völlig perplex, so viel Emotion hatte ich in der Stimme meiner besten Freundin ja wirklich noch nie gehört. Ich besah mir, was sie da aus dem Müll ausgrub und ich runzelte die Stirn. „Sind das … Haare?“, fragte ich schließlich und griff nach dem strohgoldenen Gespinst. „Hier steckt wirklich ein Mensch drin“, erkannte Annika. Es klang abstrakt, aber ja, tatsächlich, als ich den Haaren nachging erkannte ich in all diesem kunterbunten Schutt

tatsächlich ein menschliches Gesicht. Ein Gesicht, so jung und unschuldig, wie hier nicht einmal die Kinder eins hatten. „Armes Ding“, sagte ich. „Wie ist sie hierhergekommen?“, fragte ich mich. Annika antwortete mir nicht, sie fuhr damit fort, das Kind weiter auszugraben. „Vielleicht ist sie hier zu früh raufgeklettert und dann vom Müll erschlagen worden“, überlegte ich. „Oder sie ist hier eingeschlafen, bevor die Lieferung kam.“ Annika schüttelte den Kopf. „Nein, Ronja“, sagte sie leise. Ich verstummte, betrachtete das Kind noch einmal, jetzt, wo ich es vollständig

sehen konnte. Es war ein junges Mädchen, keine Frage, deutlich jünger als Annika und ich, ein richtiges Kind noch, höchstens zehn Jahre alt. Annika hob den Blick, ichtat es ihr unwillkürlich gleich. Und dann ging mir ein Licht auf. Es war so unwahrscheinlich, so dermaßen unmöglich, dass ich darauf gar nicht gekommen war. Dieses Mädchen … kam von dort oben.

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Hörbuch

Über den Autor

Selina2000
Schülerin, sechszehn Jahre alt, Hobbyautorin. Ich begeistere mich gerne für Musik und Film, häufig so sehr, dass es anderen um mich herum zu viel wird. Ich liebe das Erfinden und Aufschreiben von Geschichten sowie die Schrift selbst. Wenn ich schreibe, kann ich alles um mich herum vergessen und in meine eigenen Welten eintauchen.

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