Kapitel 70 Hilflos
Die Blüten waren zu Eis erstarrt. Die Regenfälle des Herbstes hatten sie mit einer dünnen Wasserschicht überzogen, die jetzt gefroren und Farbe und Form der Rosen in kaltem Kristall bewahrt hatte. Gefrorene Blätter und Blüten lagen auf den Sandwegen verstreut und zersprangen wie Glas unter Armells Schuhen. Nachdem sie drinnen im Anwesen nach der Kaiserin gefragt hatte , hatte man sie schließlich auf die Gärten verwiesen. Auch wenn sie sich fragte, was jemand bei diesen Temperaturen hier draußen machte. Das Gras auf den
Wiesen hatte längst das gleiche Schicksal ereilt wie die Blumen.
Armell folgte einem der Sandgestreuten Pfade einen kleinen Hügel hinauf auf dessen Spitze sich ein Pavillon erhob. Das Gebäude war aus Marmor errichtet, der in der kalten Wintersonne selbst wie Eis glitzerte. Fünf Säulen trugen das Dach, aber nur an einer Seite hatte man die Zwischenräume offen gelassen. Die anderen Seiten waren mit Flechtwerk und Planen verhängt, so dass zumindest der Wind draußen blieb. Eine gusseiserne Kohlenpfanne brannte auf dem runden Tisch in der Mitte des Bauwerks und auf einer Bank daran fand Armell schließlich Jiy. Die Kaiserin trug
einen schweren Wintermantel aus dunklem Stoff. Das Material war fein, wies aber keine besonderen Verzierungen auf und auch ansonsten wirkte die Gejarn im Augenblick alles andere als Kaiserlich.
Die Tinte in dem Fässchen das vor ihr auf dem Tisch stand war wohl längst gefroren, die Feder mit Eis überkrustet. Die Kohlen gaben kaum genug Wärme ab. Die ältere Frau sah auf, als sie Armells Schritte hörte, die auf dem Sand knirschten.
,,Verzeiht die Störung…“ Sie blieb zwischen den zwei offenen Säulen stehen und verneigte sich kurz.
Jiy lächelte. Es wirkte traurig. Aber
ehrlich. ,, Kommt rein. Ich glaube ohnehin nicht, das ich viel zu Papier bringen werde.“ Sie gestikulierte mit der Hand in Richtung eines Stapels unbeschriebener Blätter, die sich auf dem Tisch stapelten. Ein zweiter, und deutlich kleinerer Stapel enthielt beschriebene Seiten.
,, Darf ich fragen, was ihr hier draußen tut ?“ Armell trat vorsichtig ein und streckte die Hände einen Moment nach dem Kohlenbecken aus. Die Wärme drang durch ihre Handschuhe bis auf ihre kalten Finger.
,, Es gefällt mir hier.“ , erwiderte die Kaiserin ruhig. Obwohl sie weit jenseits ihrer Blüte stand, obwohl alles um sie
herum zerbrach, irgendwie schaffte diese Frau es immer noch eine gewisse Anmut auszustrahlen. Es fiel nicht schwer sich vorzustellen, wie sie es geschafft hatte, das Herz eines Kaisers für sich zu gewinnen. Armell konnte einen Moment stummer Bewunderung nicht leugnen. Irgendwie schaffte Jiy es, trotz allem weiterzumachen. Und doch sah doch jeder, dass es ihr dabei nicht gut ging. Erneut lächelte sie, doch diesmal wirkte es unecht, wie so oft in den letzten Tagen und wie schon auf der ganzen Reise hierher. Es war nur aus reiner Pflicht aufgesetzt und mit ihren Gedanken war die Gejarn woanders. Bei Kellvian,. Bei ihrem toten Ziehsohn.
Überall. Nur nicht hier bei ihnen. Und doch dauerten diese Aussetzer meist nur einen kleinen Moment, bevor sie sich einen Ruck gab und sich der nächsten Aufgabe zuwendete. So wie jetzt. Ohne Armell aus den Augen zu lassen, zog sie ein weiteres leeres Blatt heran und zerdrückte mit der Schreibfeder hörbar die Eisschicht, die sich im Tintenfass gebildet hatte.
,, Ich kann nicht nichts tun, Armell.“ , meinte sie leise, während sie die Feder auf das Papier setzte nur um dann doch inne zu halten. Der blaue Fleck unter der Metallspitze der Schreibfeder wurde langsam größer. ,, Aber gleichzeitig sind mir die Hände gebunden. Ich kann
Nachrichten an alles und jeden Fürsten schicken, der sie noch erhalten kann. Aber was bringt das… Die meisten werden uns nicht zur Hilfe kommen oder können es schlicht nicht.“
,, Wir sind alle Hilflos, Herrin…“ Armell wusste nicht, was sie sonst erwidern konnte.
,, Aber eine Kaiserin sollte es nicht sein. Kell verlässt sich auf mich. Selbst wenn mir alles andere egal wäre…“ Ihre Han die die Feder hielt zitterte leicht. ,, Ihn kann ich nicht enttäuschen.“
Jiy hatte Recht, so einfach war das. Der Großteil des Landes lag längst nicht mehr unter ihrer Kontrolle. Und ihre Hilferufe verstummten. Nur einmal war
eine kleine Garnison unter Führung eines lokalen Adeligen eingetroffen. Fünfzig Männer aus seiner Leibgarde und ein Mann in schweren, für die Witterung gänzlich ungeeigneten Samtkleidern, den man erklären musste, dass er sich mit einem Gästequartier im Patrizierhaus zufrieden geben musste.
,, Ihr vermisst ihn ?“
Armell rechnete nicht damit eine Antwort zu bekommen. Und einen Moment schwieg die Kaiserin tatsächlich nur und warf das ruinierte Blatt in die Kohlenpfanne, wo es aufflammte und zu Asche verbrannte.
,, Ich bin stolz auf ihn.“ , erwiderte sie schließlich. Einen Moment wirkte sie nur
verloren, blinzelte eine Träne fort, die sich in ihrem Augenwinkel bildete. ,, Er tut was er glaubt tun zu müssen. Als Kaiser, als Mensch… Ich weiß es nicht. Und doch würde ich alles dafür geben, wenn er nur hier sein könnte.“
Die Bibliotheken Varas bestanden aus einer Reihe großer, von einer Galerie umlaufener Räume. Sowohl an den Wänden als auch in der Mitte der Säle zogen sich Regale mit Büchern und Schriftrollen in die Höhe. Manche davon waren sortiert, andere stellten ein wildes Sammelsurium aus Texten der verschiedensten Epochen und Sprachen zusammen. Neben Schriften von
berühmtem gelehrten verwahrten die Bibliotheken auch Urkunden und Verträge, die teilweise noch aus der Gründungszeit des Kaiserreichs stammten und die im Laufe von fast zweitausend Jahren immer wieder kopiert und erneuert worden waren. Die originale waren längst irgendwo in den Licht geschützten Kammern unter den Universitätsgebäuden untergebracht worden und mittlerweile vermutlich so empfindlich, das sie bei einer bloßen Berührung zu Staub zerfallen würden.
Nicht, das viele der Schriften hier oben in besserem Zustand wären, dachte Merl, als er einen weiteren Wälzer zuschlug, dessen Seiten vergilbt und kreuz und
quer unter dem Buchdeckel hervor quollen. Auf dem Tisch zwischen ihm und Zachary stapelten sich dutzende ähnlicher Bücher in verschiedensten Sprachen und Versionen. Allein ein halbes Dutzend Abschriften von ,,Wehklagen der Steine.“ Hatten ihren Weg zu ihnen gefunden aber das war leider auch nötig. Die Antwort die sie suchte, wenn es denn eine gab, war so exotisch das wohl nur das alte Volk Aufzeichnungen darüber hinterlassen haben dürfte. Doch die meisten originalen Inschriften die das Volk seines Vaters ihnen hinterlassen hatte waren lange zerfallen oder Räubern zum Opfer gefallen oder in den Archiven des
Ordens verschwunden. Und so bleiben ihnen nur die Abschriften die ein dutzend verschiedenster Gelehrter eins gemacht hatten. Oder die Übersetzungen was die Sache noch mühsamer machte. Drei Gelehrte mochten der gleichen Inschrift drei unterschiedliche Bedeutungen zuweisen…
Er streckte sich Müde und ließ den Blick weiter über den Tisch schweifen. Nicht nur Bücher hatten sie hier gesammelt. Die Bibliotheken Varas verfügten auch über eine Sammlung von Artefakten aus allen Teilen der Welt , von steinernen Knochen die Expeditionen in die Eiswüsten mitgebracht hatten und die zu keinem bekannten Wesen zu gehören
schienen über die Überreste eines kleinen Drachen, dessen kristalliner Schädel sie von einem Podest herab anfunkelte. Dazu kam ein unübersichtliches Sammelsurium aus Artefakten, seltsame Geräte aus Gold und Kristall deren Zweck niemand verstand, magische Gegenstände und sogar einen Dolch der angeblich aus Sterneneisen geschaffen wurde. Merl hatte allerdings nur einen Blick gebraucht um zu wissen, dass er nicht echt war. Die Klinge war aus einem Bergkristall gefertigt und von Rissen durchzogen. Schön und von unglaublicher Kunstfertigkeit… aber nutzlos. Oder vielleicht war der echte
Dolch auch längst irgendwo verloren gegangen, dachte er. Wundern würde es ihn nicht. Selbst wenn sich unter diesen Schätzen hier eine der Tränen Falamirs befände, wäre sie wohl unmöglich aufzuspüren unter all den anderen Zaubern die über jedem zweiten Objekt lagen.
Und wenn die Jünger des Herrn der Ordnung sie hier erreichten, würde dieser Ort brennen. Da brauchten sie sich keine Illusionen zu machen. Sie hatten Geschichten gehört, von den Paladinen aus Helike, die Drachenfeuer die Stufen der großen Archive hinab gegossen hatten bis zu dem wenigen was die Palastbibliothek in Erindal
hergegeben hatte. Der rote Heilige hatte diese Orte geplündert, an sich genommen was er brauchte oder wollte und sie dann vernichten lassen. Was in ihrer Abwesenheit mit dem Rabenkopf in Silberstedt geschehen sein mochte, darüber wollte er erst gar nicht nachdenken. Jahrzehnte an Forschung und Arbeit die man vielleicht den Flammen übergeben hatte… Es war hoffnungslos…
,, Du glaubst nicht mehr, das wir noch etwas finden, oder ?“ Zachary sah ihn zwischen zwei Bücherstapeln hindurch an. Er wirkte müde, fand Merl. Selbst wenn das noch von der Zeit stammte, die er seinen Geist mit Ismaiel hatte teilen
müssen…
,, Ich glaube wenn es eine Lösung gäbe, hätte das alte Volk sie gefunden.“ , erwiderte Merl. Und es hatte eine gegeben. Als Ismaiel noch lebte. Als sie das Schwert noch hatten. Jetzt… jagten sie Gespenster. Aber Aufgeben war keine Option. Alles andere als weitermachen bedeutete nur, sich die Niederlage einzugestehen. Und so hatte er auch Armell nicht begleitet, als diese vor einigen Stunden aufgebrochen war. Seine eigenen Beine waren verkrampft und er nicht weniger Müde als Zachary. Aber sie wussten schlicht nicht, wie viel Zeit ihnen noch blieb. Und vielleicht hoffte er auch nur, irgendwie einen Teil des
Wissens hier retten zu können. Fort schaffen konnten sie nichts, wohin auch? Vara war ihre letzte Zuflucht. Irgendwo fiel ein Buch aus einem Regal und landete krachend auf dem Steinernen Boden. Merl sah nicht einmal mehr auf. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt. Manche behaupteten, es würde hier spucken, aber wahrscheinlicher war doch, das die uralten Holzregale schlicht nicht mehr so grade waren wie einst und ab und an ein Buch herausrutschte.
,, Ja vielleicht.“ Zachary wirkte einen Augenblick weit fort. ,, Da sind immer noch so viele Fragmente in meinem Kopf, Merl. Eindrücke, Erinnerungen Gedanken… Die nicht mir gehören. Und
doch keine Antworten. Außer vielleicht einer. Ich glaube er ist nie dazu gekommen, dir die Wahrheit zu sagen, oder?“
,, Ihr redet von Ismaiel.“ Es war eine Feststellung keine Frage. ,, Ich glaube er hat mir alles gesagt was er zu sagen hatte.“ Merls Stimme klang kühl. Nach wie vor war er was den alten Zauberer… seinen Vater… anging bestenfalls geteilter Meinung. Am Ende hatte er ihn gerettet. Doch wog das alles andere auf?
,, Ich glaube auf seine eigene Art, war er stolz auf dich.“ Zachary versuchte sich an einem Lächeln. ,, Ich kann es natürlich nicht genau sagen. Und ich glaube nicht, dass er das jemals
zugegeben hätte. Aber vielleicht kann ich es für ihn tun. Ich zumindest bin stolz auf dich, Merl. Wie immer das alles hier ausgeht. Du bist bereits mehr geworden, als ich mir je erhofft habe. Und lass dir von niemandem etwas anderes sagen. Schon gar nicht von Ismaiel. Er mag dein Vater gewesen sein, aber er war auch ein intrigantes, bösartiges Ding. Und du bist es nicht. Vielleicht ist es das, was du in Erinnerung behalten solltest. Und das brauchst du auch niemandem zu beweisen.“
,, Ich habe nicht…“ Merl stockte. Er war doch nicht nur hier um irgendjemanden etwas zu beweisen. Er würde nicht mit
Ismaiel abschließen können. Nicht so bald, aber… Er würde sich auch nicht davon beherrschen lassen.
,, Ich weiß.“ Zachary legte ihm eine Hand auf die Schulter. ,, Trotzdem will ich nicht, das du deine Zeit hier drinnen verschwendest. Nicht wenn das wirklich unsere letzten Tage sind. Der Staub und die vergilbten Seiten laufen nicht weg. Also geh. Such Armell. Ich mache hier weiter…“
In diesem Moment erinnerte er Merl zu sehr an seine ersten Monate auf dem Rabenkopf. An den Meister, der ihn anfangs so viel Angst gemacht hatte, das er nicht einmal gewagt hatte, die bitte zu stellen nach draußen zu gehen. Bis
der Zauberer ihn schließlich von selbst fort geschickt hatte. Der kleine Junge von damals hatte sich wohl viel für seine Zukunft vorstellen können… aber sicher nicht das alles hier. Merl nickte nur und flüsterte ein ,,Danke.“ , bevor er aufstand und sich auf dem Weg durch die Bibliothek machte. Es tat gut sich einmal die Beine zu vertreten. Zachary hatte Recht. Die Bücher rannten fürs erste noch nicht fort. Oder gingen in Flammen auf. Wobei das bei manchen wohl durchaus passieren konnte, wenn man sie unachtsam aufschlug. Er lächelte. Wenn er Armell fand konnte er sie vielleicht überreden ihn vor die Stadtmauern zu begleiten. Er hatte
ohnehin vorgehabt, sich die Runensteine anzusehen und wer wusste schon ob er noch einmal die Gelegenheit bekam. Und sie wären alleine…