Kurzgeschichte
Vertrauter, fremder Blick

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"Ein Blick, der einen fesselt und nie wieder loslässt"
Veröffentlicht am 23. September 2016, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Ein Blick, der einen fesselt und nie wieder loslässt

Vertrauter, fremder Blick

Titel

Es war ihr Blick gewesen. Einzig und allein ihr Blick. Er war mir vertraut und gleichzeitig so fremd. Ihre äußere Fassade war jetzt nicht der Brüller gewesen. Meines Erachtens war sie unnatürlich dünn gewesen. Allein die Beine waren nur zwei Striche gewesen und mehr nicht. Ich konnte sie mir nicht mit Babybauch vorstellen, was mich irgendwie noch mehr anzog. Seit Jahren zahlte ich schon für Kinder, zu denen ich keinen Kontakt haben durfte. Noch mehr wollte ich mir nicht anschaffen. Und bei ihr sah es so aus, als ob sie niemals schwanger

werden konnte. Eigentlich gehöre ich zu den Typen, die sich nicht lange mit einer einzigen Frau aufhalten. Entweder zeigt sie Interesse an mir, oder gibt mir einen Korb. Mehr Optionen gibt es für mich nicht. Es bringt keine Pluspunkte, ewig an der selben Frau zu baggern. Eher bekommt man eine anzeige, wegen Belästigung oder so. Bei dieser Frau war es etwas anderes. Ihr Blick schien ja zu sagen, während ihr Mund mich immer wieder freundlich abwies. Doch eines Tages sagte auch er Ja. Ich kann mich noch ganz genau an diesen Augenblick erinnern. Sie hatte mir tief in die Augen geschaut,

mich angelächelt und mich glücklich gemacht. Zumindest für diesen Augenblick. Wir gingen zwar miteinander, aber es fühlte sich an, wie Freundschaft. Weil es eben nichts anderes war. Das sie nicht mit mir Händchen halten wollte, konnte ich verstehen. Schließlich waren wir keine verliebten Teenager. Vor Jahren wurde mir von Familienhelfern eingetrichtert, das ich mich meinem Alter entsprechend benehmen sollte. Und so verließ mich eines Tages das Kind in mir. Danach gingen Frau und Kinder. Es vergingen noch Wochen, bis ich das Gefühl bekam, das wir wirklich

zusammen waren. Erst dann bekam ich meinen allerersten richtigen Kuss von ihr. Noch immer kann ich ihn schmecken, wenn ich intensiv an ihn denke. Es war mein erster Kuss nach Jahren gewesen. Ich staunte nicht schlecht, als ich bemerkte, das ich immer noch gut küssen konnte. Man verlernt ja so vieles, wenn man es nicht gebraucht. Sollte es widererwartend nicht zu einem vorzeitigen Ende kommen, ist der nächste Schritt die gemeinsame Nacht. Bei manchen Paaren geschieht alles zeitgleich: kennenlernen, küssen, fi… Dementsprechend schnell gehen auch deren Beziehungen wieder

auseinander, falls sie eine feste Beziehung angestrebt hatten. Wir hatten Zeit. Wieso hetzen? Warum noch mehr unnötigen Stress verursachen? Das Leben ist schon hektisch genug und es wird immer schlimmer, anstatt besser. Als es dann so weit war, ging es ganz schnell. Kaum war das Licht aus, lagen wir vollkommen nackt im Bett und spielten gegenseitig an uns herum. Das es dabei im Zimmer stockduster sein musste, war auf ihren Mist gewachsen. Und schon bald sollte ich auch den Grund dafür erfahren. Mein Selbstbewusstsein war gestiegen, als ich sie vor Freude

kreischen hörte. Relativ flott hatte ich sie zum Höhepunkt gebracht. Was wahrscheinlich dem zu Schulden war, das sie vor Ewigkeiten das Letzte mal Sex gehabt hatte. - Da hatten wir wohl was gemeinsam gehabt. Es war noch tiefste Nacht gewesen, als ich aufwachte und dringend musste. Das Bett neben mir war leer. Mein erster Gedanke war, das sie heimlich nach Hause gegangen war. Aber dann sah ich das Licht, welches unter der Badezimmertür durchschien. Natürlich hatte das nichts zu bedeuten. Es hätte auch daran liegen können, das jemand vergessen hatte das Licht auszuschalten. Doch als ich die Tür

öffnete, sah ich, das das Bad besetzt war. Ich hatte die Tür noch nicht ganz geöffnet, da hörte ich, wie sie erschrak. Aufrecht saß sie auf der Klobrille. In der einen Hand hielt sie eine Rasierklinge, in der anderen hielt sie eine Lache Blut. Vollkommen nackt stand ich vor ihr. Der druck in meiner Blase war vorerst vergessen. „Irgendwie habe ich das geahnt.“, flüsterte ich halb. Sie sah mir ins Gesicht und brachte kein Ton heraus. Ich kniete mich vor ihr hin und fragte sie ganz direkt, seit wie vielen Jahren sie sich schon ritzt. Aus mir sprach das

volle Mitleid. Ich hatte auch Tränen in den Augen. Ein wenig kannte ich mich mit der Sucht aus. Man ritzte sich nicht einfach so aus Langeweile. Es hatte einen Hintergrund. Sie fiel mir um den Hals und schnitt mich dabei mit der Rasierklinge, die sie immer noch in der Hand hielt. Mühsam ignorierte ich den Schmerz und hielt sie einfach nur fest. Drückte sie immer fester an mich und trug sie behutsam zurück ins Bett. „Sorry, aber wenn ich jetzt nicht gehe, mache ich ins Bett.“, raunte ich. Vorsichtig nahm ich ihr die Rasierklinge aus der Hand, gab ihr einen zärtlichen Kuss und rannte ins

Bad. Danach ging ich wieder zu ihr und nahm sie sanft in meine Arme. Sie sagte noch immer nichts. Aber ihre Tränen sprachen Bände. Ich deckte uns zu und so schliefen wir gemeinsam ein. Am folgenden Morgen wachte ich als erster auf. Behutsam schlug ich die Decke zurück und betrachtete ihren nackten Leib. Eigentlich war sie ganz hübsch. Wenn da nicht die ganzen Narben gewesen wären, von ihrer Ritzerei. Wer und was hatte sie dazu getrieben, sich selbst zu verletzen? Hatte sie Hilfe gerufen, bevor sie damit angefangen hatte? Dieser Blick. Ich weiß nun, wieso er mir

so vertraut war. Es war mein Blick. Den selben Blick sah ich jeden Morgen im Spiegel. Er war ratlos. Ziellos. Verloren. Wie oft hatte ich überlegt, ob ich mir selbst Schmerz zufüge, um den seelischen Schmerz zu überlagern. Der Gedanke an die bleibenden Narben hielt mich davon ab, mich zu ritzen. Aber nur das und nichts anderes. Lange hielt unser Glück nicht an. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Zu groß war ihre Sucht gewesen. Sie hinterließ eine unglaubliche Leere in mir. Die Gründe, für ihr ritzen, hat sie mir nie erzählt. Ich glaube, ich will sie auch gar nicht wissen. Zu viel Elend und Leid wurde mir schon zugetragen. Sie

hatte ihre Gründe gehabt und mehr brauche ich eigentlich gar nicht zu wissen. R.I.P., mein Schatz.

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