Fantasy & Horror
In der Stille - In den Schatten

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"Morde. Morde ohne Mörder. So scheint es. Aber selbst Phantome kann man fangen."
Veröffentlicht am 26. August 2016, 470 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
© Umschlag Bildmaterial: pixabay.com
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Über den Autor:

Schülerin, sechszehn Jahre alt, Hobbyautorin. Ich begeistere mich gerne für Musik und Film, häufig so sehr, dass es anderen um mich herum zu viel wird. Ich liebe das Erfinden und Aufschreiben von Geschichten sowie die Schrift selbst. Wenn ich schreibe, kann ich alles um mich herum vergessen und in meine eigenen Welten eintauchen.
Morde. Morde ohne Mörder. So scheint es. Aber selbst Phantome kann man fangen.

In der Stille - In den Schatten

Erstes Kapitel

(7. August 2011, 23:30 Uhr) Es war dunkel, als Katharina nach Hause kam. Sie hatte den Samstagabend mit ihren Freundinnen verbracht und war müde vom Umherwander in den belebten Einkaufsstraßen, vom herzlichen Lachen. Die Füße taten ihr weh, ganz gleich wie bequem die Sandalen, die sie trug, auch waren. Sie wollte nur noch schnell unter die Dusche und dann ins Bett, schlafen. Katharina nahm einen ihrer vielen verschiedenen Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss der Haustür. Das Geräusch des aufspringenden Schlosses klang ungewöhnlich laut in der Stille, hallte unheimlich von den weißen Wänden her. Bestimmt schlafen Mom, Dad und Jakob schon, dachte sie. Sie würde leise sein müssen, um niemanden zu wecken, nicht die Nachbarn und

nicht ihre Familie. Es war schon halb zwölf, beinahe Mitternacht. Eigentlich war Katharina viel zu lange weggewesen, doch ihre Eltern vertrauten ihrer beinahe erwachsenen Tochter und machten ihr kaum Vorschriften. Vermutlich wissen sie, dass ich sie ohnehin nicht eingehalten hätte, schoss es Katharina durch den Kopf und sie grinste bei diesem Gedanken vergnügt. Als sie in die Wohnung trat, spürte sie den Teppich unter den Sohlen ihrer Sandalen, doch es fühlte sich seltsam an. Anders. Irgendetwas war merkwürdig. Ein metallischer Geruch hing in der Luft, ein Geruch, der sie stutzen ließ. Eisen? Katharina verzichtete darauf, das Licht einzuschalten und zog sich die Schuhe aus. Als ihre nackten Füße den Boden berührten stutzte sie abermals. Es fühlt sich nass an, dachte sie, als ob jemand hier etwas verschüttet hätte. Hoffentlich war es nichts Klebriges.

Wider Willen ekelte sie sich etwas vor dem Gefühl, schlüpfte aber einfach in ihre Hausschuhe und begann, sich an der Wand entlang zu ihrem Zimmer vorzutasten. Dort schlief auch ihr kleiner Bruder, der gerade einmal ein halbes Jahr alt war. Sie stolperte über etwas am Boden Liegendes und fluchte leise, als sie sich mit einem dumpfen Poltern wieder fing. Was ist denn hier los?, fragte Katharina sich verwundert und entschloss sich nun, doch das Licht anzuschalten. Als das Deckenlicht grell aufflammte, war Katharina für einen Moment geblendet. Als sich ihre Augen jedoch an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, entfuhr ihr ein entsetzter Schrei, der jedoch kaum an ihre eigenen Ohren drang. Der ehemals sandfarbene, weiche Teppich war getränkt mit Blut und zu Katharinas Füßen

lagen die toten Körper ihrer Eltern, mit weit aufgerissenen, milchigen Augen und durchgeschnittenen Kehlen, aus denen noch immer der rote Lebenssaft floss, glänzend, grauenhafte Wunden, von denen Katharina trotz des Grauens den Blick nicht abwenden konnte, so geschockt war sie. Sie konnte nicht einmal zurückweichen, aus dem Blut treten. Wie betäubt hob sie den Blick, sah zu ihrer Zimmertür. Jakob, dachte sie, ihr einziger Gedanke in diesem Augenblick. Doch im Türrahmen stand eine hochgewachsene, schwarze Gestalt, die alles Licht um sich herum zu absorbieren schien. Sie war ganz in schwarze Kleidung gehüllt, nur ein schmaler Spalt ließ die Augenpartie und ein wenig von der Stirn frei. Die Haut schien schneeweiß zu sein und zwei auffällig schwarze Augen stachen aus diesem Weiß hervor. Katharina brachte vor Angst kein einziges Wort

heraus. Die Gestalt hielt Jakob auf ihrem Arm, beinahe fürsorglich an sich gedrückt. Katharinas kleiner Bruder gab keinen Laut von sich, aber er lebte, beinahe glaubte Katharina, seinen ruhigen, gleichmäßigen Atem hören zu können. Er hatte einen Daumen im Mund und schien friedlich zu schlafen, zumindest hielt er die Augen geschlossen, während die schwarze Hand der Gestalt ruhig über seinen braunen Haarflaum streichelte. „Ermordet in der eigenen Wohnung“, erklang nun eine merkwürdig hohle, emotionslose Stimme, Katharina wusste, es war die der schwarzen Gestalt. „Eltern zweier Kinder. Bedauerlich.“ Immer und immer wieder strich die Hand durch Jakobs Haare. „L-lassen sie ihn gehen“, wisperte Katharina verzweifelt, stotternd, obwohl sie kaum begriff, was überhaupt vor sich ging, sie wusste nur, dass sie Jakob retten wollte. „Wenigstens

ihn!“ „Zwei Überlebende“, fuhr die schwarze Gestalt monoton fort. „Gut.“ „W-was wollen sie von mir? Lassen sie Jakob in Ruhe!“, bat Katharina mit bebender Stimme. Nun hatte das Mädchen das Gefühl, von den toten Augen der Gestalt vollends fixiert zu werden und sie schluckte hart, auch wenn sie es aufgrund ihres Schockzustandes kaum fertigbrachte, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen. Im gleichen Moment ging die Gestalt, der emotionslosen Stimme nach zu urteilen ein Mann, in die Knie und legte den schlafenden Jakob zu seinen Füßen ab. „Katharina Bloom, sechszehn Jahre alt“, sagte er nun, verharrte einige Augenblick auf Knien. Als Katharina ihren Namen hörte, kroch ihr eine Gänsehaut den Rücken hinauf, sie glaubte, jeden Augenblick zusammenbrechen zu müssen. Eine schreckliche Kälte bemächtigte sich ihrer

und sie hörte ihr eigenes Blut in ihren Schläfen pochen, sie spürte ihr eigenes Herz, wie es hart gegen ihre Brustkorb schlug. „W-was wollen sie?“, wiederholte sie ihre Frage und erschrak vor der Lautstärke ihrer eigenen Stimme. Die Gestalt richtete sich wieder auf und trat langsam auf das Mädchen zu. Katharina wagte es nicht, zurückzuweichen, zu weich waren ihre Knie, zu leer war ihr Kopf, ihr ganzes Denken schien wie betäubt. Langsam hob sie den Kopf an, als die Gestalt vor ihr zum Stehen kam, so groß war die Gestalt, sie musste weit zu dem unheimlichen Mann aufsehen. Dann, als der Mann vor ihr stehenblieb, hob er langsam die Hände, um seine Kapuze in den Nacken zu schieben und das schwarze Tuch von seinem Hals zu lösen. Darunter kamen ein Dreitagebart und geisterhaft weißes Haar zum Vorschein, das bis auf einen einzelnen geflochtenen Zopf von der Länge eines Unterarms kurzgeschnitten war.

Katharina war nicht vor ihm zurückgewichen, keine seiner Bewegungen hatte ihr noch mehr Angst einjagen können, im Gegenteil. Vielmehr spürte sie, dass von diesem Mann keine Gefahr ausging. Beinahe vergaß sie sogar das Blut, das ihre Füße beschmutzte, die Leichen ihrer Eltern, die sie vor wenigen Sekunden erst vorgefunden hatte. Der Mann sah aus tiefschwarzen Augen auf das Mädchen herab. „Ich habe auf dich gewartet.“ ~ (4. Mai 2018, 20:00 Uhr) Vor wenigen Augenblicken war die Sonne untergegangen, ihr goldener Schein war innerhalb weniger Minuten aus den spiegelnden Fensterscheiben der New Yorker Wolkenkratzer gewichen und hinterließ nun eine spiegelglatte, schwarzblaue Oberfläche.

Die Welt war in Schatten gehüllt. Reena spürte das kalte Glas durch den schwarzen Stoff ihrer Robe hindurch an ihrem Rücken. Sie wartete schon seit einiger Zeit darauf, dass die Sonne ihr und den Schatten das Feld überließ und vor wenigen Wimpernschlägen hatte die Uhr zu ticken begonnen. Aufmerksam beobachtete Reena die schwarzen Ziffern auf weißem Grund, die sich stetig veränderten, unaufhaltsam schritt die Zeit voran. Wertvolle Sekunden, die es zu nutzen galt. Sie klappte ihre neumodische Taschenuhr zu und lauschte. Etwas störte sie mit einem Mal. Sie hörte nichts, doch sie spürte etwas. Sie spürte eine menschliche, vertraute Aura ganz in ihrer Nähe, eine Aura, die sie schon seit vielen Jahren begleitete. Er testete sie. „Skall?“, fragte sie leise in die Dunkelheit hinein. „Skall, ich weiß, dass du da bist. Ich

habe keine Zeit für deine Spielchen!“, beschwerte sie sich. „Ich bin beschäftigt. Dieser Auftrag ist wichtig für mich und ich werde nicht zulassen, dass du mir dazwischenfunkst! Das hier ist im Augenblick mein Revier, also mach, dass du von hier wegkommst. Sonst …“ Sie stockte. Im selben Augenblick spürte sie einen kaum wahrnehmbaren Lufthauch, doch das jahrelange Training hatte sie für solche Veränderungen empfänglicher gemacht als es für einen gewöhnlichen Menschen üblich war. Sie wusste, Skall stand hinter ihr. „Ist das hier denn überhaupt ein Spiel?“, fragte eine angenehme, aber monotone Stimme in ihrem Nacken und Katharina begriff, dass Skall es heute darauf anlegte, sie zu provozieren. Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte sie sich zu ihm umgedreht und war bereit, mit ihren spitzen Waffen auf seine Kehle zu zielen, doch ihre Hand wurde, wie erwartet, vorher

abgefangen und mit eisenhartem Griff festgehalten. Reena verzog keine Miene. „Es ist ein Spiel“, zischte sie. Skalls schwarze Augen waren so undurchschaubar wie immer und auch seine Mimik hätte wohl keinen seiner Gedanken erahnen lassen, selbst wenn Reenas Mentor nicht, genau wie sie selbst, bis zur Unkenntlichkeit vermummt gewesen wäre. „Du hast Recht“, erwiderte Skall und machte keine Anstalten, seinen Griff zu lockern. „Dein Glück“, fügte er trocken hinzu und drängte Reena noch ein Stück weiter zurück. Reenas Miene verfinsterte sich, als sie das Nichts des Abgrunds unter ihrer Ferse spürte. Sie hatte auf einem Vorsprung im vierzehnten Stock eines Wolkenkratzers auf den richtigen Moment gewartet und nun stand sie mit dem Rücken zum Abgrund, erst viele Meter in der Tiefe warteten der Bürgersteig und die noch

immer stark befahrene Straße auf sie. Skall ließ seine Schülerin los und wandte ihr den Rücken zu. „Er ist jetzt alleine, seine Kollegen sind gegangen. In drei Minuten wird auch er fort sein. Beeilen wir uns, Reena.“ Reenas Blick hätte finsterer nicht sein können. „Es ist nicht notwendig, dass du mir hilfst. Wie oft muss ich dir das denn noch beweisen?“ Sie trat nicht vom Abgrund weg. Skall sah sie lange an. „Für mich wirst du immer eine Anfängerin bleiben.“ Reena spürte, wie sich Wut in ihrem sonst so kalten Inneren regte. „Das ist nicht fair“, sagte sie vorwurfsvoll. „Und ich habe nicht viel Zeit, wie du eben schon gesagt hast.“ „Und da lässt du dich von mir ablenken?“, erwiderte Skall kühl. Reena knirschte unwirsch mit den Zähnen. „Also gut. Ich folge dir.“ Skalls Augen schienen mit einem Mal kalt wie Eis, obwohl sie so schwarz waren wie der

unendliche Kosmos. „Naiv wie immer“, spottete er und machte einen Schritt auf sie zu, streckte seinen Arm aus und stieß Reena von dem Wolkenkratzer. Im nächsten Augenblick verschwand Skalls Körper im Schatten, den die Nacht ihnen geschenkt hatte, er verschmolz mit der unirdischen Materie und kurz darauf spürte Reena, wie seine Aura sich rasch entfernte, er schwamm in der Dunkelheit. Verdammter Mistkerl, dachte sie noch, doch dann versiegelte sie ihre Wut in ihrem Inneren und streckte sie Hand nach dem Glas aus, das an ihr vorbeizog. Anstatt jedoch die durchsichtige Materie zu berühren, versank ihre Hand in der Dunkelheit, im Schatten, den die Nacht über New York gelegt hatte, so wie es auch Skall getan hatte. Reena tauchte immer weiter in den Schatten ein und bremste so ihren Fall. Sie zögerte nicht lange und folgte Skall, kaum dass ihre

Nasenspitze das kalte Glas berührte, tauchte sie auch schon ein, nicht in das Glas, aber in die Dunkelheit. Es nahm ihren ganzen Körper auf, machte ihn nichtig und ließ ihn für die Sterblichen unnahbar werden. Die Luft wurde Reena aus den Lungen gepresst und verschwand im Nichts, Reenas Augenlicht erlosch und Schwärze umfing sie, doch zugleich schien es, als öffnete sich ihr ein neues Auge, das sie alles sehen ließ, was dieser Schatten zu sehen bekam. Und es fühlte sich gut an. Eine kaum zu beschreibende Allmacht. Sie spürte, was auch Skall spürte, sie spürte die Ungeduld eines Raubtiers, eine der wenigen Empfindungen, die er nicht stets sorgfältig verbarg. Sie beeilte sich, ihm zu folgen, denn die Uhr tickte nach wie vor. Die Welt war in Schatten getaucht und sie selbst war ein Teil davon. Wie gut es sich anfühlte,

mit der Dunkelheit der Nacht zu verschmelzen, ihre Kühle zu fühlen, ihre Weite. Sie glitt die Wand hinauf, das kalte Glas, und niemand würde sie oder Skall bemerken. Die Schatten hatten sie mit Haut und Haar verschluckt, in sich aufgenommen. Sie selbst waren zu Schatten geworden, zu materielosen Gespenstern. Sie beide krochen zu einem Fenster im zwanzigsten Stockwerk. Dass der Wolkenkratzer nahezu nur aus Glas bestand, kam ihnen sehr gelegen. Festen Stein oder gar Stahl zu durchdringen, war nur den besten Schattenläufern möglich, doch Glas war da anders. Licht und Schatten konnten Glas durchdringen, als sei es nicht da. Glas hielt nur die Lebenden auf. Vor ihnen jedoch war in Gebäuden ganz aus Glas niemand sicher, höchstens noch vor blutigen Anfängern, die es nie weit bringen würden. Reena folgte Skall bis auf die Fensterbank des

Büros, hielt kurz inne. Der Raum war hell ausgeleuchtet, doch direkt neben dem Fenster stand ein schmales Bücherregal, das seinen Schatten an die Wand warf. Dort versteckten sie beide sich. Es war eng und Reena hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der Schatten war zu klein für sie beide. Wie lange würden sie diese Tarnung aufrechterhalten können? Für einen Moment bekam Reena Panik. Was, wenn sie sich nicht im Schatten würde halten können? Was, wenn sie herausfiel und das Bücherregal umwarf? Einen solchen Fauxpas konnte sie sich unter keinen Umständen erlauben. Skall würde sie umbringen, wenn sich nicht einer der Acht vorher das Recht dazu nahm. Sie durfte hier nicht versagen! Und das alles ist nur seine Schuld, dachte sie wütend und wusste, dass Skall ihre Gedanken nur allzu genau wahrnehmen konnte. Aber dieser Auftrag war ja auch nicht für zwei

gedacht gewesen! Er hatte sich ja unbedingt einmischen müssen … Doch plötzlich verschwand der enorme Druck, der Reena so zu schaffen gemacht hatte und sie bemerkte, dass Skall in den Schatten des stillstehenden Ventilators an der Decke geschlüpft war. In Gedanken atmete sie erleichtert aus und konzentrierte sich wieder. Sie hatte keine Zeit mehr. Sie musste zuschlagen. Reena wusste, in diesem Raum befand sich ein Mann mittleren Alters, Vater von zwei Kindern, seit zwanzig Jahren verheiratet. Noch saß er am Schreibtisch. In wenigen Augenblicken würde er sich auf den Heimweg machen. Doch dazu sollte es nicht kommen. Sie spürte, wie Skalls Präsenz sich änderte. Sie wurde menschlich – er hatte sich von der Decke fallen lassen und dabei kein einziges Geräusch verursacht. Reena in ihrem Versteck hätte platzen können

vor Ärger. Was tat Skall da nur? Wollte er ihr den Auftrag vermasseln? Und womit hatte sie das überhaupt verdient? Reena nutzte jedoch die Gelegenheit und ging nun ebenfalls zu dem Schatten an der Decke über, suchte sich einen guten Punkt aus, um ebenfalls auf den Boden zu springen, doch dazu ließ Skall ihre keine Zeit mehr, er schien nicht gewillt zu sein, auf sie zu warten. Obwohl Reena sauer war auf Skall, kam sie nicht umhin, ihn für seine Fähigkeiten zu bewundern. Er war genau vor dem Schreibtisch aufgekommen und doch sah der Mann nicht einmal auf, schien selbst seine menschliche Gestalt nicht wahrzunehmen. Dieser Mann konnte in diesem Augenblick nicht einmal erahnen, wer ihn gleich in die Schatten stoßen würde. Erst, als Skall sich langsam aufrichtete, hob der Mann den Blick und erschrak sichtlich. „Um Gottes Willen, wie sind sie hier

reingekommen?“, rief der Banker mit sich überschlagender Stimme aus und wich entsetzt ein Stück zurück. Skall raffte sich nicht zu einer Antwort auf, er kam nur näher, Schritt für Schritt, bis er genau vor dem Schreibtisch stand. Der Blick seiner schwarzen Augen machte es für den Mann unmöglich, zu rufen oder gar die Flucht zu ergreifen. In aller Ruhe kletterte Skall auf den Schreibtisch, über Aufzeichnungen, Notizbücher, stieß jedoch keines der Fotos oder die Schreibtischlampe um. „Bleiben sie weg, bleiben sie bloß weg von mir!“, wisperte der Mann nun voller Angst. „Was wollen sie? Wenn sie Geld wollen, sollen sie haben, so viel sie wollen, aber bitte, tun sie mir nichts! Bitte! Ich habe eine Frau und zwei kleine …“ Skall beendete den angsterfüllten Redeschwall des Mannes mit einer einzigen Bewegung, bei

der er sein silbern glänzendes Messer tief in den Kehle des Bankers versenkte. Die Stimme des Mannes riss ab, nur ein Keuchen und Gurgeln blieb, während ein Schwall von Blut sich über seinen teuren Schreibtisch und seinen teuren Anzug ergoss. Nun endlich wagte Reena es, sich ebenfalls zu Boden fallen zu lassen und wütend ging sie auf Skall zu, während der Tote nun mit dem Kopf auf dem Schreibtisch aufschlug. „Du Arsch!“, fuhr Reena ihren Mentor an und holte aus, um Skall eine kräftige Ohrfeige zu geben, doch er war schneller und hielt ihre Hand fest, auch wenn ihr Schlag ihn wahrscheinlich nur wenig gestört hätte. „Das hier war mein Auftrag!“, fauchte Reena wie eine gefangene Katze. Skall blickte sie nur aus vollkommen ausdruckslosen Augen an. „Hältst du es für sinnvoll, mich anzugehen, während eine wertvolle Seele im Begriff ist, diese Welt zu verlassen?“

Reena erstarrte und ihre Gegenwehr erstarb. Er hat mich getestet, dachte sie und eine plötzliche Kälte breitete sich in ihr aus. Ich habe mich ablenken lassen, von so etwas. Es ist egal, wer die Klinge führt. Am Ende zählt nur das Resultat, und das kann ich noch immer für mich beanspruchen … Skall schüttelte leicht den Kopf. „Was wäre nur, wenn Solitude davon erführe?“ Reena schluckte und Panik breitete sich in ihr aus. Alles, nur das nicht! Sie wollte mit der rechten Hand in ihre Tasche greifen, doch Skall hielt sie noch immer fest und da sie ohnehin sehr wütend auf ihn war, schlug sie ihm die linke Faust mit aller Kraft in die Magengegend, ein Schlag, der kräftig genug war, um selbst den stärksten Menschen auszuknocken. Auf Skall jedoch hatte er beinahe keine Wirkung. Reena wusste, dass ihr Mentor hämisch grinste,

obwohl sie seine spöttisch verzogenen Lippen nicht sehen konnte, aber immerhin tat er ihr den Gefallen und ließ sie los. Schnell nahm Reena ihren Seelenstein hervor. Seelensteine waren schwarze, meist makellos runde Steine mit einer kreisförmigen, grauen Musterung und einem Loch in der Mitte. Was gewöhnliche Menschen wohl bedenkenlos als schlichten Schmuckstein getragen hätten, war in Wirklichkeit dazu in der Lage, in der unmittelbaren Nähe einer Leiche die körperlose Seele einzufangen. Kaum dass Reena sich mit dem Stein dem Toten näherte, glühten die grauen Musterungen violett auf und im Loch des Steins begann ein weißer Nebel zu wirbeln, wie ein kleiner Tornado – die Seele des Mannes, den Skall gerade hinterrücks ermordet hatte. „Gut, da du deinen Auftrag trotz deiner Naivität und deiner Dummheit erfüllt hast, werde ich ein Auge zudrücken und dich nicht an Solitude

verraten“, meinte Skall spöttisch. Reena sah ihn zornig an und hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt. „Es zählt nur diese Seele“, sagte sie und hielt den Seelenstein in die Höhe. „Alles andere interessiert nicht.“ „Ach? Glaubst du das? Vielleicht sollte ich Solitude dann doch einen Bericht über deine Arbeit erstatten“, meinte Skall höhnisch. „In allen Einzelheiten.“ Reena schnappte unwillkürlich nach Luft. Das wird er doch nicht wirklich tun, oder?, dachte sie furchtsam. Skall wandte sich von ihr ab. „Wir sollten von hier verschwinden. Vielleicht hat jemand den Mann gehört oder es kommt irgendjemand zufällig vorbei. Wir sollten nicht hier bleiben.“ Reena atmete tief durch. „Warum? Warum, Skall?“ Sie zögerte und versuchte, ihrer Stimme einen weniger flehenden Klang zu geben. „Warum schikanierst du mich andauernd, warum machst du mir immer noch das Leben schwer?“,

wollte sie von ihrem Meister wissen. Skall hielt inne und würdigte sie keines weiteren Blickes mehr. „Damit du lernst“, sagte er nur. „Ich lerne bereits seit beinahe acht Jahren!“, erwiderte Reena ein wenig giftig. „Für mich wirst du immer eine Anfängerin sein, Reena.“ Mit diesen Worten tauchte er in die Wand ein und huschte ungesehen hinaus in die glasklare Nacht. ~ (5. Mai 2018, 05:00 Uhr) „Morde. Und wieder kein Verdächtiger“, murmelte Ashley unzufrieden vor sich hin. „Messer. Glatte Klinge. Halsschlagader durchtrennt. Mit einem Stich von vorne, kein Schnitt. Keine Zeugen. Kein gewaltsames Eindringen. Keine Spuren. Das ist doch wirklich

…“ „Ash!“, unterbrach ihn eine helle Mädchenstimme in seinen Gedankengängen. Ashley hob den Blick. „Was ist denn?“, wollte er ein wenig unwirsch wissen. Er mochte es nicht, wenn seine Gedanken gestört wurden, ganz gleich wie sehr sie ins Leere liefen. „Ich hab’ uns was zu essen mitgebracht“, verkündete Saskia, Ashs Partnerin, freundlich lächelnd. „Es wäre immerhin unverantwortlich von mir, wenn ich zulassen würde, dass du innerhalb der nächsten Stunden kollabierst.“ Sie hielt kurz inne. „Schlafen wirst du allerdings selbst müssen, das kann ich dir leider beim besten Willen nicht abnehmen.“ Nun lächelte auch Ashley. „Schon gut, ich hab’s verstanden.“ Er nahm Saskia eine der Tüten ab, die sie mitgebracht hatte und holte ein reich belegtes Brötchen hervor. „Es ist schon fünf Uhr. Du hast jetzt schon drei Tage am Stück keine Minute geschlafen“,

tadelte Saskia ihn ein wenig besorgt und holte nun auch ihr eigenes Essen hervor. „Ich brauch’ nicht so viel Schlaf“, nuschelte Ash mit vollem Mund. Saskia seufzte. „Du bist so kindisch“, warf sie ihm vor, ehe sie selbst zu essen begann. Als Ash nicht auf ihren Vorwurf einging, beugte sie sich ebenfalls über die dicken Akten, die Ashley eben noch studiert hatte. „Und? Irgendetwas Neues?“ Ash schüttelte den Kopf. „Die Polizei steht total auf dem Schlauch, wie eigentlich immer“, erklärte er seiner Freundin ein wenig großspurig. Saskia seufzte erneut. „Aber dieser Fall ist ernst. Wenn wir diesen Unmenschen nicht bald auf die Schliche kommen, wird New York sich bald in ein Blutbad verwandeln.“ „Wenn das reicht“, erwiderte Ashley mit in Falten gelegter Stirn. „Die machen sicherlich auch nicht vor anderen Regionen Halt.

Irgendwann wird die ganze Welt betroffen sein.“ Saskia nickte nachdenklich. „Das alles riecht nach einer Katastrophe“, sagte sie. „Die wenige magische Kraft, die unsere Welt bietet, so zu missbrauchen … scheußlich.“ Saskia sah ihr Käsebrötchen an, als schmecke es ihr mit einem Mal nicht mehr. „Wenn wir nur wenigstens wüssten, was sie antreibt“, ergänzte Ashley. „Oder wie sie sich organisieren. Oder wo. Oder wenn wir wenigstens eine Ahnung hätten, woher sie ihre Magie überhaupt beziehen …“ Ashley seufzte. „Ehrlich gesagt sind wir nicht weiter als die Polizei.“ „Im Grunde wissen wir also immer noch gar nichts“, fasste Saskia unzufrieden zusammen und pfefferte die Brötchentüte in den Abfallkorb, als hätte dieser etwas verbrochen. „Na ja, wir wissen, dass sie existieren“, hielt Ash dagegen. „Ja, ganz toll“, murrte seine Freundin. „Darauf

wäre ich nie allein gekommen.“ Ash seufzte schwer. „Ich meine, dass eine Verbindung zwischen diesen Morden besteht. Dass es eine Art Netzwerk geben muss … damit sind wir immerhin weiter als die New Yorker Polizei. Die glauben immer noch, dass es sich um gewöhnliche – na ja, trotzdem ungewöhnliche, aber doch eher normale Einbrüche und Raubüberfälle handelt und dass zwischen den Toten eher keine Verbindung besteht.“ Saskia stöhnte. „Großartig. Aber der Plan war doch eigentlich, dass wir Informationen erhalten, die uns noch nicht bekannt sind“, sagte sie. „Ich weiß, aber immerhin haben wir jetzt auch dieses Opfer“, erwiderte Ashley. „Sind sie beide dann jetzt fertig?“, unterbrach sie eine fremde Männerstimme. Ash und Saskia hoben gleichzeitig die Köpfe. Der leitende Ermittler war soeben zu ihnen

getreten, ein glatzköpfiger, untersetzter Mann mit Brille in Anzug, etwas kleiner als Ash, so groß wie Saskia. Seinem gereizten Tonfall nach zu urteilen schien er es nur für allzu angemessen zu halten, wenn sie beide das New Yorker Polizeirevier nun verlassen und ihm wieder das Feld überlassen würden. „Ja, ja, wir sind hier fertig“, sagte Ash hastig und klappte die Akten zu. „Vielen Dank, Mr. Johnson, dass wir hier sein durften. Der Bund bedankt sich.“ Ash trat vor den älteren Herrn und hielt ihm höflich die Hand hin, während sein jugendliches Gesicht ein Lächeln zierte. Nach einem kurzen Zögern ergriff der Ermittler Ashs dargebotene Hand und schüttelte sie flüchtig. „Bis zum nächsten Treffen, Mr. Reynolds und Ms. …“ Mr. Johnson stockte, doch schien es ihm auch nicht weiter peinlich zu sein, dass er Saskias Namen vergessen hatte. „Wiltshire“, half die junge Frau ihm kühl auf die Sprünge und hob zum Abschied nur flüchtig

die Hand, ehe sie eilig zu Ash aufschloss, der sich bereits mit langen Schritten seinen Weg aus dem Polizeirevier bahnte, wo links und rechts vom Gang Schreibtische standen, die mit Plexiglasscheiben voneinander getrennt waren. Am Ausgang mussten Ash und Saskia zwei Beamten Platz machen, die sie mit unverhohlener Abneigung musterten. „Unglaublich“, raunte einer der beiden. „Was sich dieser selbsternannte Detektivclub alles erlauben kann … jetzt schicken die schon Amateure und Kinder zu uns. Mit dem Rechtssystem geht es echt immer weiter bergab.“ Im nächsten Augenblick fiel hinter Ash und Saskia die schwere Tür ins Schloss und kühle Morgenluft strich ihnen über das Gesicht, schien ihnen einen Teil ihrer Erschöpfung zu nehmen. Es war noch dunkel, die Sonne würde erst in knapp einer Stunde aufgehen. Autos fuhren an ihnen vorbei, ihr Scheinwerferlicht

erhellte als einziges die frühe Morgenstunde. Ash streckte sich ausgiebig. „Hast du Lust, was zu unternehmen?“, fragte er dabei. „Du gehörst ins Bett“, erklärte Saskia wie aus der Pistole geschossen. Ash zog eine Schnute. „Es ist fünf Uhr morgens, wie soll ich da denn schlafen? Lass uns lieber in den Park gehen“, versuchte er, Saskia zu überreden. Saskia funkelte ihren Partner böse an. „Du hast seit drei Tagen nicht geschlafen und heute Abend treffen wir uns im Hauptquartier. Wenn du dann nicht auf der Höhe bist, bring’ ich dich um.“ Die letzten vier Worte betonte sie besonders. Ash seufzte geschlagen. „Also gut. Dann trennen sich hier wohl unsere Wege.“ „Nichts da“, sagte Saskia sofort. „Ich komme mit und sorge dafür, dass du nicht zufällig auf dem Weg ins Bett an deiner Playstation kleben

bleibst.“ „x-Box.“ „Mir egal.“ Mit diesen Worten packte sie Ashs Hand und zog ihren Freund hinter sich her bis zur nächsten U-Bahnstation und ignorierte stoisch alle von Ashleys Bekundungen, dass er auch alleine laufen könne und niemanden brauche, der ihn an die Hand nimmt. Fünfzehn Minuten U-Bahn später schloss Ash dann seine Wohnungstür auf, ließ sich im Wohnzimmer auf die Couch fallen und schloss die Augen. Saskia blieb im Türrahmen stehen. „Was wird das denn jetzt?“, wollte sie schnippisch wissen. „Die Couch reicht mir.“ „Schwachsinn“, wetterte Saskia sofort. „Du gehst jetzt ins Bett und schläfst dich richtig aus.“ Ash setzte sich seufzend wieder auf und strich sich die schwarzen Haare, die ihm in die Augen fielen, aus dem Gesicht. „Was ist denn heute los

mit dir?“, wollte er verwundert von seiner Freundin wissen. „Du bist doch sonst nicht so zickig.“ „Ich bin nicht zickig“, erklärte Saskia giftig. „Na klar“, meinte Ash grinsend. Saskia seufzte und ließ die vor der Brust verschränkten Arme sinken. „Ich … ich bin einfach nur müde. Entschuldige bitte. Und außerdem … außerdem ärgere ich mich über das, was die Ermittler vorhin über uns gesagt haben“, gab sie niedergeschlagen zu. „Was, immer noch?“, fragte Ash amüsiert. „Weil sie dich ein Kind genannt haben?“ „Was? Ich dachte, du wärst das Kind!“, entgegnete Saskia empört. Ashley hob nur vielsagend eine Augenbraue. „Ich bin älter als du.“ „Dafür sehe ich aber viel erwachsener aus“, behauptete Saskia patzig. Ash lachte trocken auf. „Ja, klar. Und eines Tages wirst du mich ganz schrecklich um mein

jugendliches Aussehen beneiden“, frotzelte er fröhlich. Saskia seufzte entnervt. Ashley schmunzelte daraufhin und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Mach’ dir nichts draus“, sagte er nun wieder ernst. „Lass’ diese Aufschneider doch sagen, was immer sie wollen. Du solltest immer nur eines im Kopf haben – dass wir besser sind als die.“

Zweites Kapitel

(8. August 2011, 00:30 Uhr) „Sei still. Sag’ kein Wort. Ich werde sprechen.“ Seine Stimme war ruhig und angenehm. Sie nahm Katharina die Angst. Um sie herum war nur noch Stille und Schwärze und beides fühlte sich gut an, wie eine warme weiche Decke. Sie selbst fühlte sich seltsam losgelöst und auf eine befreiende Art und Weise leer. Da war nur noch er bei ihr. Dieser Mann, der sie gerettet hatte aus dieser blutroten Hölle, die für Katharina nur noch eine verblassende Erinnerung war. Sie spürte, wie er sie absetzte. Ihre

nackten Füße berührten den Boden, den sie nicht sehen konnte, und sie spürte seine Hand im Rücken, wurde von ihr gestützt. Sie spürte, wie er nach dem Tuch griff, das er ihr um den Kopf gebunden hatte, er löste den Knoten. Mit einem Schlag wurde es hell. Weiße Wände, weißer Boden, angestrahlt von einem grellen Licht. Das gleißende Weiß bohrte sich in ihre Augen und ließ sie glauben, zu erblinden. Und trotzdem bewegte sie sich nicht. Sie blinzelte nur, ein, zweimal. „Du wirst dich daran gewöhnen“, sagte der Mann ruhig und sie spürte seine Hand auf ihrer Schulter, eine kräftige und große Hand, von rauer weißer Haut

umspannt. Katharina hob den Blick und sah in das weiße Gesicht, umrahmt von weißen Haaren. Wieder waren es diese schwarzen Augen, die sie fesselten, denn sie waren etwas Besonderes, ließen nicht in Iris und Pupille unterscheiden, sondern bildeten ein faszinierendes Ganzes, so unendlich wie das Weltall und so finster wie die Nacht. „Mein Name ist Skall“, sprach der weißhaarige Mann nun zu ihr. „Der Ort, zu dem ich dich gebracht habe, steht gewöhnlichen Menschen nicht offen und ist das Herz, das Hauptquartier unseres Bundes. Du hast alles verloren, aber ich biete dir eine Zukunft als

Schattenläufer.“ „Schattenläufer?“, fragte Katharina mit kratziger Stimme. „Nicht sprechen“, unterbrach Skall sie nach wie vor ruhig. Katharina verstummte und Skall griff nach ihrer Hand und führte sie durch den Raum. Sie wandelten durch strahlendes Weiß und Katharina wusste nicht einmal zu sagen, ob sie sich wirklich bewegten, ob sie über Teppichboden oder Linoleum, über Holz oder über Stein lief. Kein einziger ihrer Schritte war zu vernehmen, als ob das Nichts jedes Geräusch augenblicklich verschluckte, der Boden fühlte sich weder kalt noch warm an.

Kaum merklich zuckte Katharina zurück, als sich plötzlich im weißen Nichts eine Tür zeigte, eine gewöhnliche Tür, ganz weiß, aber doch unverkennbar aus Holz und mit silberner Klinke. Skall bemerkte Katharinas Furcht und ihre Unsicherheit und der Druck seiner Hand verstärkte sich ein wenig, und Katharina klammerte sich geradezu an ihn, als Skall die Tür im Nichts öffnete und das Mädchen durch sie hindurch führte. Der nächste Raum war genauso weiß wie der letzte, jedoch nicht so schrecklich leer. Immerhin ein weißes Pult füllte ihn aus, und hinter diesem Pult stand eine

Frau mit weißem Haar und weißer Haut, in schwarze Kleidung gehüllt. Katharina spürte, wie eine Gänsehaut ihr das Rückgrat hinunterkroch. Doch die Frau war nicht die einzige. Andere gingen durch den Raum, ruhigen Schrittes und mit gleichgültigem Gesichtsausdruck. Die meisten von ihnen hatten so seelenlose schwarze Augen wie Skall und ihre Haare waren alle gleichermaßen kurz und weiß wie Schnee. Sie trugen Kisten und Mappen umher und alles war so farblos und … tot. Skall zog Katharina mit sich bis zu dem Tresen, hinter dem diese Frau stand, die nun den Blick hob. Katharina schluckte,

als sie in die schwarzen Augen blickte. „Ich bringe frisches Blut in unseren Bund“, ließ Skall kühl verlauten und seine linke Hand schloss sich nun fest um Katharinas Oberarm, als hätte er Sorge, sie könnte davonlaufen. Die Frau nickte und würdigte Katharinas keines einzigen Blickes, sie sah nur Skall an, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. „Verstanden. Du weißt, was du zu tun hast.“ Skall nickte ebenfalls und zog Katharina weiter zu einer neuerlichen Tür, hinter der erneut nur blendendes, schreckliches leeres Weiß auf sie wartete. Doch auch dieser Raum war nicht gänzlich leer. Ein einzelner großer Spiegel stand in der

Ecke. Er warf einen langen Schatten an die Wand und allein dieser Schatten und der Knick, den er zwischen Boden und Wand machte, ließen erahnen, dass es überhaupt Wand und Boden gab. Katharina zuckte kaum merklich zurück, als plötzlich eine weitere weißhaarige Gestalt aus dem Schatten stieg, als sei er ein Loch, in das man einfach hineinklettern konnte. Skall verstärkte erneut den Druck seiner Hand und Katharina rückte instinktiv etwas näher an ihn. Er war ihr Halt hier in dieser unheimlichen, fremden Umgebung, die sie nicht im Geringsten kannte. Er war ihr Retter, Skall war gut, ganz gleich, wo sie hier waren.

Die Gestalt war, wie hätte es auch anders sein können, ebenfalls weißhaarig mit zwei tiefschwarzen Augen in einem fahlen Gesicht. Mit Erschrecken bemerkte Katharina, dass sogar das Weiß ihrer Augäpfel verschwunden war. „Du kannst sie mir überlassen, Skall“, sagte die Gestalt und die Stimme klang eindeutig weiblich. Und auch weniger monoton als die von Skall. Dieser nickte einfach und ließ Katharina nun endlich los, doch dort wo seine Hand eben noch gewesen war, blieb nun kalte Leere zurück und plötzlich wünschte Katharina sich, er würde sie

niemals loslassen. Doch natürlich sprach sie keinen ihrer Gedanken aus. Skall blickte ruhig auf sie herab. „Wir sehen uns wieder, Reena“, sagte er, dann wandte er sich ab und verließ den Raum, ließ Katharina einfach so zurück. Katharina schluckte. Sie fühlte sich merkwürdig, wie betäubt. Tief in sich spürte sie etwas pulsieren, das sie selbst als „Angst“ beschreiben würde, doch es erreichte sie nicht, dieses Gefühl. Wie ein Insekt, über das man ein Glas gestülpt hatte. Bald würde die Angst darunter ersticken. „W-was ist das für ein Ort?“, wollte Katharina leise wissen, unsicher, ob sie sprechen durfte.

Der Blick der Frau fiel auf sie und ein schmales Lächeln huschte über die bleichen Züge. „Alex redet nicht viel, was?“, fragte sie dann statt einer Antwort. „Alex?“, hakte Katharina verwundert nach und sie spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel. „Der Mann, der dich eben hergebracht hat. Heute nennt er sich Skall, den Namen hat er von seinem Meister bekommen und das sollte auch der einzige Name sein, mit dem du ihn ansprichst.“ Die Frau kam langsam auf Katharina zu und das Mädchen wich nicht zurück. „Das ist die erste Regel,

die du hier lernen wirst – sprich niemals den alten Namen eines Schattenläufers in seiner Gegenwart aus“, sagte sie scharf. Katharina schluckte. „Warum nicht? Was hat es mit diesem Namen auf sich?“ „Mit alten Namen gehen auch alte Erinnerungen“, erklärte die Weißhaarige ruhig. „Böse Erinnerungen. Erinnerungen, die dich nur behindern würden.“ Die Frau wandte sich ab und nahm einen weißen Plastikeimer auf, den Katharina bisher gar nicht wahrgenommen hatte. „Also … bekommt hier jeder einen neuen Namen?“, hakte Katharina nach. „Jawohl. Ich heiße Rose. Und du wirst ab

jetzt offenbar Reena heißen …“ Rose verzog das Gesicht. „Wie einfallslos. Im Grunde nur eine abgespeckte Form deines richtigen Namens …“ Sie seufzte. „Aber gut. Klang hat dein neuer Name ja. Und jetzt – ausziehen.“ Katharina sah Rose für ein paar Augenblicke einfach nur an, unsicher, was sie jetzt tun sollte. Irgendetwas sagte ihr, dass das nicht richtig war, doch es war nicht greifbar, genau wie ihre Angst und alles, was innerhalb der letzten Stunde geschehen war. Darum gehorchte sie Rose ohne langes Zögern, zog sich ihr T-Shirt über den Kopf, schlüpfte aus ihrer Jeans, öffnete ihren BH und streifte schließlich ihren

Slip ab. Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild und sie beobachtete ihre eigenen nackten Schultern, wie sie sich sanft hoben und senkten bei jedem weiteren Atemzug, wieder und wieder. „Und? Wie fühlst du dich?“, fragte Rose. „Merkwürdig“, antwortete Katharina ihr wahrheitsgemäß. „Das ist ganz normal“, beruhigte Rose das Mädchen. Im nächsten Augenblick kippte sie Katharina in einem Schwung den Inhalt des Wassereimers über den Kopf und ein erschrockener Schrei entfuhr dem Mädchen, als das eiskalte Wasser in ihre Haare eindrang, ihren Rücken und ihre

Brust hinunterrann. Für einen winzigen Augenblick glaubte Katharina, ihr Herz müsste vor Schreck stehenbleiben, nur um kurz darauf um ein Vielfaches schneller weiterzuschlagen. „Gut“, sagte Rose einfach nur und schlug Katharina beinahe freundschaftlich auf die Schulter. „Offenbar hat Skall einen Schock verhindern können“, sagte sie zufrieden. „Zeit, dass du nun ein neues Aussehen verpasst bekommst.“ Katharina schlang die Arme um ihren zitternden Oberkörper. „Was?“, fragte sie schwach. Sie wandte sich zu Rose um und bemerkte dabei, dass der Boden kein bisschen nass war.

„Ich umschreibe es gerne so poetisch“, meinte Rose leichthin, dann nahm sie Reenas Hand in ihre und steckte ihr ohne Zögern oder eine Vorwarnung eine dicke Nadel in die Arterie ihres Arms, deren Schlauch zu einem schwarzen Kasten führte, der hier, im reinen Weiß, absolut fehl am Platz wirkte. Ausdruckslos beobachtete Katharina, wie ihr Blut erst langsam und dann immer schneller durch den Schlauch lief, dick und rot. Katharina ließ es einfach geschehen. Sie bemerkte, dass sie der Kälte wegen zu zittern begonnen hatte. „Dauert nicht lange“, meinte Rose und

Katharina sah sie fragend an, schwieg aber. Rose trat mit einer Schere an ihren neuen Schützling heran und begann ohne Umschweife oder langes Reden, Katharinas braune Haare etwa auf Schulterlänge zu kürzen. Katharina ließ es einfach geschehen. Rose ging bei ihrem Handwerk überraschend akkurat vor, am Ende trug Katharina eine hübsche Kurzhaarfrisur, bei der eines von ihren Augen verdeckt wurde. „Es muss von Anfang an gut aussehen“, erklärte Rose. „Nach der Prozedur wachsen unsere Haare nicht mehr, dasselbe gilt für Fingernägel und auch für Wunden.“

„Nach der Prozedur?“, echote Katharina verwundert und hob den Arm, in dem noch immer die Nadel steckte, leicht an, um den Einstich genauer zu betrachten. Irgendetwas beunruhigte sie daran, dass unentwegt Blut aus ihrem Körper rann, doch auch diese Bedenken erreichten ihren Kopf nicht wirklich. „Ist das alles richtig so?“, fragte sie dennoch. „Alles im grünen Bereich“, erwiderte Rose sofort und griff nun nach Katharinas anderem Handgelenk. „Jetzt fehlt nur noch das hier.“ Sie hielt eine mit weißer Flüssigkeit gefüllte Spritze in die Höhe und lächelte Katharina dabei offen an.

„Was ist das?“, wollte Katharina mit heiserer Stimme wissen. Spritzen. Sie mochte keine Spritzen, doch sie wusste nicht, was das genau bedeutete. „Ein Geheimnis“, antwortete Rose ihr mild lächelnd und setzte die Spritze an. Katharina zuckte kaum merklich zurück. Rose hob den Blick. „Angst?“, fragte sie und ihre Stimme nahm einen misstrauischen Unterton an, als ob Katharina soeben etwas Verbotenes getan hätte. Katharina schüttelte schwach den Kopf. „I-ich … ich weiß nicht“, stotterte sie dann.

Nun lächelte Rose wieder. „Dann ist es gut.“ Katharina konnte spüren, wie Rose ihr die milchige Flüssigkeit injizierte und schnell sah sie weg, zu dem Schlauch, durch den ihr Blut geflossen war. Ja … es floss kein Blut mehr. „I-ist mein Blut …“, stammelte Katharina fassungslos. „Ja, alles hier drin“, bestätigte Rose fröhlich und klopfte auf den schwarzen Kasten. Katharina schluckte. „Wie … wie kann das sein?“, wollte sie verwirrt wissen. Rose lächelte nur beruhigend. „Das Herz der Schattenläufer. Ein Ort, zu dem die

Menschen keinen Zugang haben und an dem der Tod keine Macht mehr hat.“ Katharina blickte sprachlos in den Spiegel, starrte sich selbst an, ihre bleiche Haut, die von keinem einzigen Tropfen Blut mehr genährt wurde. Sie sah zu den kurzgeschnittenen Haaren. Nur eine einzige Strähne hatte Rose lang gelassen. „Ich mag es so“, erklärte Rose dem Mädchen, als sie Katharinas Blick bemerkte. „Und da Skall dich aufgelesen hat und er sein Haar genauso trägt, dachte ich, dass es zu dir passt.“ Katharina ließ die Strähne los. „Gefällt es dir?“, wollte Rose wissen und kam mit einem weiteren Wassereimer

näher. „Ja“, antwortete Katharina ihr schlicht. Dann sah sie auf. „Darf ich dich was fragen?“ Roses Blick verdüsterte sich kaum merklich. „Ja, sicher“, erwiderte sie dennoch. „Was ist mit Jakob?“, wollte Katharina wissen. Rose runzelte skeptisch die Stirn. „Freund oder Bruder?“ „Bruder.“ „Wie alt?“ „Sechs Monate.“ Rose seufzte. „Man wird dafür sorgen, dass du ihn behalten darfst. Keine Sorge.“

Katharina atmete erleichtert auf. „Gut.“ „Sehr schön“, meinte Rose nun und hob den Wassereimer an, um dort weiterzumachen, wo Katharina sie eben unterbrochen hatte. „Hiermit ist die Prozedur übrigens beendet. Von heute an wirst du nicht mehr altern und mit ein bisschen Glück auch nicht mehr sterben. Ach ja, und deine Haare werden weiß werden und deine Augen schwarz.“ Mit diesen Worten kippte Rose dem Mädchen einen weiteren Eimer eiskalten Wassers über den Kopf. Dieses Mal spürte Katharina gar nichts. Nein, sie war nicht mehr Katharina Bloom.

Von heute an war sie Reena, die Schattenläuferin. ~ (7. Mai 2018, 02:00 Uhr) Reenas Uhr zeigte zwei Uhr morgens, als sie ihr Apartment erreichte. Mit dem Fahrstuhl fuhr sie in den sechsten Stock hinauf, schloss die Wohnungstür auf. Einen Moment lang zögerte sie, dann schloss sie die Tür wieder hinter sich, zog sich die Schuhe aus. „Huw?“, fragte sie leise in die Wohnung hinein, ehe sie das Licht anschaltete. „Du bist früher wieder da als erwartet“,

antwortete ihr eine gekünstelt hohe Männerstimme. „Wenig Betrieb“, erwiderte Reena knapp. „Ist irgendetwas passiert?“ „Alles in Butter. Dem kleinen Jakob geht’s gut.“ Aus dem Wohnzimmer trat ein blonder Mann mit einem Weinglas in der Hand. Statt Wein war allerdings eine grüngelbe Murmel darin, die Huw unentwegt umher schwenkte. „Schläft er noch?“, wollte Reena wissen, während sie sich ihren schwarzen Pullover über den Kopf zog. Darunter trug sie ein schlichtes weißes Top. „Vermutlich“, erwiderte Huw wenig interessiert. „Ich hab’ ihn seit neun Uhr nicht mehr gesehen, hab’ fern geschaut“,

erklärte er und beobachtete die Murmel beim Umherkullern. Reena sog scharf die Luft ein. „Du? Fern geschaut?“, wiederholte sie fassungslos und schnaufte wütend. „Habe ich dir nicht schon mindestens hundertmal strengstens verboten, irgendwelche elektronischen Geräte einzuschalten?“, schimpfte sie. Huw hob mit gespielt entsetztem Gesichtsausdruck die Hände. Die Murmel im Weinglas klirrte dabei. „Ich habe nichts falsch gemacht. Ich habe nur den Sender gewechselt“, verteidigte er sich und schürzte dabei beleidigt die Lippen. Reena seufzte erleichtert auf.

Dann hatte Jakob also nur vergessen, den Fernseher auszustellen. „Ach übrigens, was glaubst du eigentlich, welchen Eindruck du auf deinen kleinen Bruder machst, wenn du hier im Flur stehst und Selbstgespräche führst?“, fragte Huw ein wenig giftig und schenkte Reena einen unzufriedenen Blick. Reena biss sich auf die Unterlippe. In diesem Augenblick öffnete sich Jakobs Zimmertür und ein Junge mit braunem Schopf lugte aus dem Spalt zwischen Tür und Rahmen hervor. „Bist du wieder da, Reena?“, wollte er verschlafen wissen und rieb sich die

Augen. Reena sah auf und ging dann eilig zu ihrem kleinen Bruder hinüber. „Warum bist du denn noch wach? Habe ich dich etwa geweckt?“, fragte sie sanft. Jakob schüttelte den Kopf. „Ich bin froh, dass du wieder da bist. Ich hatte einen Albtraum.“ Katharina seufzte still. „Ach, komm her“, sagte sie und schloss ihren kleinen Bruder fest in die Arme. „Wenn ich bei dir bleibe, was meinst du, kannst du dann noch eine Weile schlafen?“, fragte sie und strich Jakob behutsam über den Kopf. Sie konnte sein Nicken an ihrer Schulter fühlen und sie vergrub ihr Gesicht in

seinen Haaren. Jakob litt häufig unter Albträumen. Rose hatte Reena schon vor sieben Jahren prophezeit, dass es in Jakobs Unterbewusstsein wohl Dinge geben würde, auf die selbst die Schattenläufer keinen Einfluss hatten. Und dass es ihn quälen würde, ohne dass er wusste, was damals wirklich passiert war. „Versuch wieder einzuschlafen“, sagte Reena und stand auf. „Ich will bei dir schlafen“, sagte Jakob. Reena seufzte erneut. „Also gut. Komm.“ Mit diesen Worten schob sie ihn in ihr eigenes Schlafzimmer. „Geh’ schon mal ins Bett, ich muss nur noch kurz ins Bad“, sagte sie.

„Lass’ das Licht an“, bat Jakob sie leise. „Okay“, stimmte Reena zu und ging ins Badezimmer, ließ die Tür offen. Eilig wusch sie sich das Gesicht, blickte in den Spiegel, sich selbst ins Gesicht. Nur ganz schwach noch waren die feinen Muster der Regenbogenhaut in ihren schwarz verfärbten Augen zu erkennen. Sie murmelte einen leisen Fluch, als sie sah, wie immer mehr Tränen aus ihren Augen rannen, einfach so, ohne dass sie etwas daran hätte ändern können, ohne eine nennenswerte Traurigkeit oder Wut zu verspüren. Genau genommen spürte sie gar nichts.

„Was gibt’s denn da zu weinen, Liebes?“, wollte Huw, der völlig ungerührt hinter ihr stand, mit einem leicht spöttischen Tonfall wissen, während er die Murmel klirren ließ. „Ach, halt doch die Klappe“, wies Reena ihn kalt zurecht, während eine Träne nach der anderen ins Waschbecken tropfte und sie darauf wartete, dass es aufhörte. „Ist es etwa die Erinnerung an jenen Abend?“, stichelte Huw unbeeindruckt weiter, versuchte gezielt, Salz in Reenas Wunden zu streuen, doch wie immer ohne Erfolg. „Bestimmt nicht“, sagte die junge Frau

gefasst. „Es ist wie Nasenbluten. Es kommt plötzlich und es hört auch genauso plötzlich wieder auf“, erklärte sie knapp. „Wobei Nasenbluten für dich ja kein Problem mehr darstellt“, bemerkte der Blonde trocken. Reena schwieg und tupfte sich mit einem Handtuch die Tränen von den Wangen. Dann begann sie, sich gründlich die Zähne zu putzen. „Ach, wie schade“, meinte Huw enttäuscht. „Ich hatte gehofft, du würdest heute Abend noch unter die Dusche steigen, nach so einem schweren Arbeitstag.“ Reena ging nicht darauf ein, stattdessen

kämmte sie sich die schneeweißen Haare und löste den ausgefransten Zopf, der ihr immer über die linke Schulter hing. Huw, der das Gefühl bekam, ignoriert zu werden, begann, hinter Reena auf und ab zu gehen. „Hör mal“, sagte er dann. „Ich bestehe darauf, dass du mir, im Gegenzug dafür, dass ich mich immer absolut unauffällig verhalte, Wein kaufst, einen guten, am besten aus meiner Zeit.“ Katharina schwieg und ging ins Wohnzimmer, um dort endlich den Fernseher auszuschalten. „Reena, der kleine Jakob tut sich in letzter Zeit schwer mit den Hausaufgaben und du bist nie da, um ihm

zu helfen“, versuchte Huw nun, Reenas Aufmerksamkeit zu erlangen. Katharina legte die Kissen wieder ordentlich auf das Sofa und schwieg. „Wusstest du eigentlich schon, dass die Polizei eurem komischen Bund auf den Fersen ist?“, fragte Huw nun und hielt die Zeitung des letzten Tages in die Höhe. Reena ließ sich auf die Couch sinken und schwieg. „Hey, sag mal, ignorierst du mich?“, echauffierte Huw sich nun ungehalten. „Kann schon sein“, antwortete Reena mit einem Seufzen. „Das finde ich aber gar nicht nett!“, beschwerte sich der Blonde.

„Du bist nur ein Hirngespinst, eine Einbildung“, sagte Reena müde. „Und ab heute anscheinend auch noch mein schlechtes Gewissen. Aber wenn ich dich ignoriere, wirst du sicher verschwinden.“ Sie hielt inne. „Irgendwann. Hoffe ich.“ Sie griff zu der Bierflasche, die noch auf dem Tisch stand. Zwei oder drei Schlucke mochten noch darin sein. Doch im nächsten Augenblick war Huw neben ihr und nahm ihr die Flasche weg. „Du hast dir doch gerade eben erst die Zähne geputzt!“, schimpfte er. „Und außerdem – wenn ich nur eine Einbildung deinerseits wäre, wie könnte

ich dann das hier machen?“ Er öffnete die Flasche und trank sie bis auf den letzten Tropfen aus. Dann grinste er Reena breit an. „Teil meiner Einbildung“, seufzte Reena müde. „Tz“, machte Huw eingeschnappt. „Ich, meine Liebe, bin ein waschechter Geist aus dem achtzehnten Jahrhundert, jawohl, ich stamme aus einer Zeit, die sehr viel eleganter war als diese hier.“ Er sah an sich hinunter. „Nun ja, wobei dieses Leder auch nicht schlecht ist.“ Er sah wieder auf, dann schlug er Reena mit der Bierflasche auf den Kopf. „Wie steht es denn übrigens damit?“, fragte er frech grinsend.

„Au!“, rief Reena schon beinahe aus Reflex aus und sah Huw empört an. „Da wir das jetzt geklärt hätten“, meinte Huw und stieß Bierflasche und Weinglas aneinander, sodass es klirrte. „Husch, husch, ins Bettchen“, setzte Huw feixend hinzu. Reena sah ihn böse an. „Hör auf, dich aufzuspielen wie meine …“ Sie verstummte. Huw hob hinterhältig grinsend eine Augenbraue. „Wie deine was?“, wollte er gespielt neugierig wissen, immerhin wusste er ja, was Reena im Affekt hatte sagen wollen. „Vergiss es“, winkte Reena ab und stand

auf. „Wie deine Mutter?“, schlug Huw nun vor und zog den Satz so sehr ins die Länge, als würde er es richtig genießen, Reena mit dieser Boshaftigkeit aufzuziehen. Reena funkelte ihn warnend an. „Sei nicht albern“, sagte sie jedoch, ihrem tödlichen Blick zum Trotz, vollkommen ruhig. „So etwas wie eine Mutter habe ich nicht.“ Sie wollte gehen, in ihr Schlafzimmer, wo Jakob auf sie wartete, doch Huw hielt sie an der Schulter zurück, sie versuchte ihn abzuschütteln, doch er war hartnäckig. „Was?“, fragte Reena giftig und wandte

sich noch einmal um. „Bist du dir auch wirklich ganz sicher?“, fragte Huw mit ungewöhnlich ruhiger Stimme, ehe sein Gesicht wieder ein irres Grinsen zeigte. „Ganz sicher? Ka-tha-ri-na?“ Im nächsten Augenblick fand er sich an der Wand wieder, Reenas Hände um seinen Hals gelegt, bereit, ohne Gnade zuzudrücken. Reenas schwarze Augen funkelten ihn voller Hass an. „Nenn’ mich nie, nie wieder bei diesem Namen!“, fauchte sie zornig. „Nie wieder. Ich schwöre, wenn du es noch einmal wagst, diesen verfluchten Namen in den Mund zu nehmen, werde ich dich mit Freuden ein weiteres Mal

umbringen!“ ~ (7. Mai 2018, 02:30 Uhr) Es hatte sich nicht gelohnt, überhaupt aufzustehen. Als Ash in den frühen Morgenstunden nach Hause zurückkehrte, war es in seiner kleinen New Yorker Stadtwohnung stockdunkel und er selbst war überaus frustriert. Das Treffen im Hauptquartier der Goldenen Falken hatte in seinen Augen überhaupt keinen Sinn gehabt, genau wie das letzte. Die Konferenz hatte beinahe ausschließlich aus vagen

Mutmaßungen und teilweise sehr unsinnigen Spekulationen bestanden, genau wie die letzte. Ashley hatte sich in seine – wenn auch kurze – Schulzeit zurückversetzt gefühlt, wenn der Lehrer die Schüler selbstständig Vermutungen anstellen ließ, was es denn mit dieser Mathematik, Chemie oder Literatur auf sich haben könnte. Zum Ende hin hatte es dann beinahe nur noch unterschwellige Vorwürfe gehagelt, sowohl gegen Ashley und seine Partnerin als auch gegen alle anderen. Bald hatten sie sich alle miteinander in ein Gespinst aus Zurechtweisungen verstrickt. Ja, so verzweifelt waren sie,

dass sie wieder anfingen, einander wie kleine Kinder die Schuld zuzuschieben. Schwer ließ Ash sich auf seine Couch fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er konnte kaum glauben, dass es schon so weit gekommen war. Es gab doch wichtigere Dinge, als in den eigenen Reihen nach einem Schuldigen zu suchen. Die wahren Schuldigen waren noch immer auf freiem Fuß und das durfte auf keinen Fall so bleiben. Immer mehr Menschen starben eines sehr ungewöhnlichen Todes und niemand schien in der Lage zu sein, dieses Unrecht aufzuhalten, den Tätern Einhalt zu gebieten.

Ja, so weit sind wir schon gekommen, dachte Ash verbittert. Es mussten mehrere Täter sein. Es gab zumeist täglich einen weiteren Mordfall, manchmal jedoch auch mehrere, sodass es auszuschließen war, dass es sich um einen Einzeltäter handelte, und nicht nur in New York gab es solche Fälle. Ash wusste, dass es auch in Mexico schon über hundert Tote gegeben hatte, sie alle waren durch eine Verletzung am Hals verblutet. Die Polizei hatte bisher noch keinen Zusammenhang hergestellt mit den Mördern von New York, und das war vermutlich gut so. Eine Massenpanik wäre der Festnahme der

Täter auch nicht zuträglich. Vielleicht – doch das war eine Überlegung, die Ash bisher für sich behalten hatte – waren sie auch nicht nur in Amerika aktiv. Was auch immer es war, mit dem sie da zu tun hatten, es war verdammt groß und gefährlich. Ashs Meinung nach hätte man auch jeden weiteren ungeklärten und rätselhaften Mordfall in die Akten aufnehmen müssen. Doch er war nur ein Novize, der gerne für unangenehme Aufgaben benutzt wurde. Sonst nichts. Ash erhob sich wieder und ging zum Kühlschrank. Sein Magen knurrte schon, seitdem er vor beinahe zwölf Stunden aufgestanden war, drei Uhr nachmittags.

Es war das erste Mal seit langem, dass er mal wieder mehr als nur drei Stunden am Stück geschlafen hatte. Diese Fälle ließen ihm wirklich keine Ruhe mehr. Während er sich ein dick belegtes Sandwich machte, stellte er den Wasserkocher an, um sich einen schwarzen Tee aufzubrühen. Den würde er brauchen, denn die nächste erholsame Nacht würde wohl noch auf sich warten lassen. Sein Vorgesetzter hatte bestimmt, dass Ash und Saskia am nächsten Tag ein weiteres Polizeirevier aufsuchen sollten. Es wurde ununterbrochen weiter gemordet.

Ash hatte bereits trotz seines jungen Alters von dreiundzwanzig Jahren zwei weitere Fälle gelöst, bei denen Verbrecher sich illegal übermenschlicher Fähigkeiten bedient hatten, um die Menschheit auf die eine oder andere Weise zu terrorisieren. Das war gewesen, als er noch mit seinem Vater zusammengearbeitet hatte, also bevor er gnadenlos wieder zum Auszubildenden degradiert worden war. Jedenfalls waren solche Verbrechen zwar meistens ärgerlich und forderten mitunter auch Menschenleben, doch solche Ganoven waren natürlich unerfahren, konnten mit der Magie nicht

umgehen und überschätzten sich, machten Fehler und verrieten sich so irgendwann. Dann wurden sie von den Goldenen Falken geschnappt und endeten in einem speziellen geheimen Gefängnis, aus dem sie nicht mehr entkommen konnten. Ash nippte vorsichtig an dem noch dampfenden Tee und ging mit Teller und Tasse zurück ins Wohnzimmer, ließ sich dort wieder auf dem Sofa nieder und begann zu grübeln. Dass Menschen sich illegal der Magie bedienten, war nichts Besonderes. Doch diese Mordserie … war anders. Es gelang nur den wenigsten, keine zu auffälligen Spuren zu hinterlassen, doch

diese Verbrecher, mit denen sie es nun zu tun hatten, waren gut. So gut, dass Ash zu Anfang nicht einmal an zusammenhängende oder gar mittels Okkultismus oder Magie verübte Morde hatte glauben wollen. Doch mittlerweile war er sich sicher. Es war zu perfekt, das waren keine gewöhnlichen Morde. Es war organisiert und absolut makellos. Und die Mörder waren bescheiden. Die meisten überschätzten sich, glaubten, aufgrund ihrer neu gewonnen Fertigkeiten unbesiegbar zu sein und töteten, obwohl sie nur ihren Kontostand hatten aufbessern wollen, oder stahlen, obwohl ihr Motiv einzig und allein blutige Rache war.

Dann gab es auch noch die Verrückten, die Geisterzeremonien durchführten oder ähnliche gefährliche Rituale, nur um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen. An einem solchen Fall hatte Ashley einmal mitgearbeitet. Der wahnsinnige Mann hatte ihnen letztendlich die Arbeit abgenommen, nach dutzenden toten Zivilisten war er selbst ein Opfer seiner beschworenen Dämonen geworden, die ihn mit Freude in tausend Stücke zerrissen hatten. Doch der häufigste Grund war Geld. Arbeit war rar und soziale Sicherungen waren in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Nicht selten waren es

Familienväter oder junge Männer, die ihrer in Not geratenen Familie helfen wollten. Diese nahmen dann reiche Geiseln und erpressten Geld von den Familien der Opfer, ein nahezu gewöhnlicher Vorfall, bei dem die Magie einer eher sekundäre Rolle spielte. Jedoch war mit solchen Menschen nicht zu spaßen, man holte doch besser Experten heran, anstatt gewöhnliche Polizisten zu gefährden, denn solche Menschen, die an übernatürliche Macht gelangt waren, waren unberechenbar. Überhaupt hatte Ash die Theorie, dass Magie die Menschen grundlegend verändern konnte. Gut, dass sie nicht für jeden zugänglich war.

Er trank seine Tasse leer und ging dann ins Bad, legte die unbequeme formelle Kleidung ab und stieg unter die Dusche. Doch auch als das warme Wasser auf seinen Kopf prasselte, kamen seine Gedanken nicht einen Augenblick lang zum Stillstand. Ashley arbeitete bereits seit sechs Jahren an dieser unheimlichen Mordserie, doch sie hatte schon vor langer Zeit begonnen. Die ersten Akten hatte man im Jahr 2000 anzulegen begonnen, doch der Bund der Goldenen Falken war sich sicher, dass das Treiben der phantomhaften Mörder noch viel weiter in die Vergangenheit

zurückreichte, nur war das zu lange her, um es noch nachzuweisen. Doch das war im Grunde auch völlig egal. So lange Zeit schon starben fast täglich Menschen auf grausame Weise, doch es schien einfach keine Täter zu geben. Es gab keine Forderungen, Terroristen hätten sich zu ihren Taten bekannt, sie hätten dafür gesorgt, dass man sie fürchtete. Eigentlich war es gut, dass die Magie nicht in die Hände fanatischer Gotteskrieger gefallen war, doch ein unsichtbares Feindbild zu bekämpfen, war fast genauso fruchtlos. Ash hasste diesen Fall, weil es seit Jahren kein Vorankommen gab.

Lediglich die Akte mit den Opfern wurde von Tag zu Tag dicker und dicker und Ashley wettete insgeheim, dass das bei weitem nicht alle Ermordeten waren. Die Menschen starben immer durch Klingen oder Stichwaffen. Die Stiche wurden präzise in die Halsschlagader ausgeführt, sodass das Opfer innerhalb weniger Sekunden verblutete. Doch das war nichts Ungewöhnliches. Die meisten Raubmorde wurden mit Messern verübt, wenn keine Pistole im Spiel war, und das auf der ganzen Welt. Doch diese Morde schienen bis ins kleinste Detail geplant zu sein. Sie geschahen häufig in absolut

unzugänglichen Räumen, ganz gleich, ob die Tür verriegelt oder Wachpersonal vor Ort war. Büros, Privatvillen, Hotelzimmer, teure Wohnanlagen in den Wolkenkratzern New Yorks – nichts war sicher. Das Wachpersonal kam nur in den wenigsten Fällen in Frage, am Anfang waren Türsteher und Angestellte noch in Untersuchungshaft genommen worden, doch mittlerweile sah man davon ab. Es gab niemals belastende Beweise. Zudem wurde niemals etwas gestohlen und auch nichts zurückgelassen. Nicht einmal ein Haar. Eine weitere Gemeinsamkeit bildete der soziale Rang, den die Opfer bekleideten,

zumindest behauptete Richard Lane, dass diese Gemeinsamkeit hervorstäche. Bei der letzten Versammlung der Goldenen Falken war ein weiterer Mord gemeldet worden. Ein Banker, sein Chauffeur hatte ihn mit durchstochener Kehle aufgefunden, als er ihn hatte nach Hause bringen wollen. Der zweiundvierzigjährige Mann hatte durchaus Feinde gehabt, man warf ihm Steuerhinterziehung und Betrug vor, jedoch hatten sie alle Verdächtigen überprüft und beinahe jeder von ihnen hatte ein wasserdichtes Alibi gehabt. So war es immer. Ashley überlegte schon seit fast sechs Jahren, ob es sich vielleicht um

Fanatiker handelte, die es auf die Reichen abgesehen hatten, die sich selbst für gerechte Vollstrecker hielten, doch das passte nicht. Solche Verbrecher hinterließen ebenfalls Botschaften, um Ehrfurcht und Angst zu schüren. Blutige Schrift an der Wand oder dem Badezimmerspiegel hielt Ash zwar für etwas zu viel des Klischees, aber ein Anruf bei der Polizei oder den Hinterbliebenen … Verrückte spielten gerne mit dem Feuer und lebten ihren Machtkomplex in vollen Zügen aus. Doch was sollte man als Ermittler tun, wenn plötzlich alle menschliche Psychologie nicht weiterhalf, wenn nichts so recht

zusammenpassen wollte? Zumal es auch Morde in der Unterschicht gab, die Ash persönlich mit dem Fall in Verbindung brachte, doch die waren meist weniger spektakulär, eben weil viele Reiche so sehr in ihre persönliche Sicherheit investierten. Wenn sich dann sämtliche Bodyguards, Alarmanlagen und Waffenscheine als nutzlos erwiesen, war das durchaus eine Sonderreportage wert. Ashley ballte die Hände zu Fäusten. Genau das war es, das ihn an den Menschen störte. Dieses Heischen nach Aufmerksamkeit, diese Jagd nach der größten Katastrophe, um sie gewinnbringend zu vermarkten. Dass

unzählige Menschen starben, war zweitrangig. Nun ja, zumindest die Klatschpresse machte guten Umsatz, zumindest wenn es bei denen gute Reporter gab, die auch über ein Phantom interessante Artikel schreiben konnten. Ash seufzte und stieg aus der Dusche. Die langen, normalerweise eher voluminösen Haare klebten nun schwer auf seinem Rücken und fühlten sich dort fast ein wenig ekelhaft an. Das Telefon klingelte. Ash rubbelte sich kurz mit einem Handtuch die Haare trocken, dann schlang er es sich um die Hüften, ging in den Flur und nahm das Telefon ab.

„Mom? Was willst du denn?“, fragte er sofort in den Hörer. „Es ist doch fast drei Uhr!“ „Ashley, Gott sei Dank, es geht dir gut.“ Fast klang es, als würde Ashs Mutter weinen. Ash verdrehte nur die Augen. „Natürlich geht es mir gut“, sagte er. „Ich habe in den Abendnachrichten von diesen Morden bei euch gehört. Ich habe dich angerufen, aber du bist nicht rangegangen und …“ „Mom, ich habe mich mit Freunden getroffen“, log Ash mit einem Lächeln auf den Lippen. „Mir geht es gut. Keine Sorge“, fügte er beschwichtigend hinzu. Ashleys Mutter seufzte. „Lass’ dein

Handy immer an, Ash“, bat sie dann eindringlich. Ash seufzte ebenfalls. „Ja, Mom“, gab er ein wenig genervt nach. Bei den Versammlungen der Goldenen Falken war es verboten, Mobiltelefone oder ähnliche Geräte mit sich zu führen. „Willst du denn wirklich in New York bleiben?“, fragte Ashs Mutter nun klagend. Ash entfloh ein ungläubiges Lachen, das nicht einmal gespielt war. „Mom, ich studiere hier!“, rief er dann aus. Noch so eine Lüge. Eine große Lüge. Als ob er Zeit zum Studieren hätte! Irgendwann würde er behaupten, er hätte das Studium abgebrochen, seine Mutter

würde enttäuscht sein und die Sache wäre aus der Welt geräumt. „Ja, du hast ja Recht, Ash“, lenkte seine Mutter nun schuldbewusst ein. „Ich mache mir nur so große Sorgen um dich. Die Welt ist nicht mehr sicher.“ Ashley seufzte erneut. „Ja, Mom. Ich weiß doch. Ich passe auf mich auf.“ Er schluckte, kaum dass ihm diese Worte über die Lippen gekommen waren. Das hatte sein Vater auch immer gesagt … auch an dem Tag, an dem er gestorben war. Unfalltod. Mitten in New York. Das war vor 6 Jahren gewesen. Nur kurz nachdem sein Sohn den Goldenen Falken beigetreten war. Seitdem lag es bei Ash, das fortzuführen,

was sein Vater begonnen hatte. Ja, Ash verstand seine Mutter. Die Arme hatte keinen Schimmer, in was ihr geliebter Ehemann verstrickt gewesen war und auch nicht, dass ihr einziger Sohn sich in dieselbe Gefahr begeben hatte, die sie nicht kannte. Doch vermutlich spürte sie diese Gefahr trotzdem. Ash beendete das Gespräch und legte auf. Er blieb mit dem Hörer in der Hand stehen. Ich muss beenden, was mein Vater begonnen hat … Angeblich war das Auto explodiert und bei dieser Explosion war alles restlos vernichtet worden, alle Aufzeichnungen,

die Ashs Vater stets in seiner Aktentasche bei sich getragen hatte, alle Hefter und Mappen, alle Notizbücher. Alles, was geblieben war, war die verkohlte Leiche seine Vaters gewesen, die Ashley nicht mehr hatte wiedererkennen können. Doch irgendetwas störte Ashley an diesem Sachbestand. James Reynolds war ein Goldener Falke gewesen, einer der besten und erfahrensten magischen Ermittler auf der ganzen Welt. Er war vor über zwanzig Jahren aufgrund seiner unerreichten Fähigkeiten aus dem britischen Bristol, wo er einen hohen Rang in einem kleinen Magieinstitut

bekleidet hatte, in die Hauptzentrale der Goldenen Falken, nach New York, beordert worden. Ashleys Vater war ein Genie gewesen. Ash umklammerte das Telefon noch ein wenig fester, als wollte er mit ihm auch seine Gedanken festhalten, Gedanken, die zu ketzerisch waren, um sie auszusprechen. Doch was, wenn Richard Lane, das Oberhaupt der Goldenen Falken, gelogen hatte? Ashs Vater hätte niemals zugelassen, dass so wichtiges Material durch einen simplen Verkehrsunfall zerstört wurde. Nein, er hätte es durch Zauber geschützt.

Ash musste unbedingt in die Finger kriegen, was sein Vater ihm hinterlassen hatte. Doch um was handelte es sich dabei? James Reynolds war von Anfang an bei den Ermittlungen dabei gewesen, es musste doch irgendwann in beinahe zwanzig Jahren irgendwelche Resultate gegeben haben! Ash schluckte. Aber warum sollte man dieses Material dem derzeitigen Ermittlerteam vorenthalten? Warum sollte man ihm selbst, Ashley Reynolds, dem einzigen Sohn von James Reynolds, verwehren, die persönlichen Gegenstände seines

Vaters einzusehen? Und warum war er, Ashley, zu verblendet gewesen, um schon früher auf diese Idee zu kommen? Es war doch naheliegend, dass da etwas faul war! Ash legte das Telefon weg und ließ sich erneut auf die Couch sinken. Das Vermächtnis seines Vaters … gab es so etwas tatsächlich oder verrannte er sich da in ein Hirngespinst, eine Idee, die der Verzweiflung entsprungen war? Ashley blinzelte. Wo kamen auf einmal all diese Gedanken her? Es war, als habe sich in seinem Inneren plötzlich ein Knoten gelöst, der sein Denken blockiert hatte. Er fasste einen Entschluss.

Ja, morgen würde er zum Oberhaupt der Goldenen Falken gehen und einfordern, was rechtmäßig sein war, das Erbe seines Vaters, das viel mehr wert war als Geld. Ash atmete tief durch. Es musste da einfach etwas geben, er war sich ganz sicher. Sein Vater war ein Genie gewesen und er wäre niemals einfach so gestorben, ohne der Nachwelt etwas zu hinterlassen. Etwas, das Ash nicht kannte. Sechs Jahre war es her. Das war eine lange Zeit. Und dennoch. Ash legte die Fingerspitzen an seine Lippen.

Sein Vater hatte ihm sicher einen Hinweis geben wollen zu diesem Fall. Zu diesem Fall, bei dem menschliche Psychologie versagte. Mit einem Mal wusste Ashley, dass dieser Satz nicht von ihm stammte.

Drittes Kapitel

(9. August 2011, 16:00 Uhr) Stumm starrte Reena ihrem Spiegelbild entgegen. Ihr Oberkörper steckte in einem enganliegenden, schwarzen Pullover, dessen Kragen auch ihren Hals verdeckte. Dazu trug sie eine Hose aus einem ähnlichen Material in derselben Farbe, hohe schwarze Stiefel mit flachen Absätzen darüber. „Ich hole dich dann nachher wieder hier ab“, sagte Skall, der sie hierhergebracht, ihr die Klamotten gegeben und stumm gewartet hatte, bis sie sich umgezogen hatte.

„Nachher?“, fragte Reena schwach und hob nicht einmal den Blick. „So gegen Viertel vor zwölf. Die Prüfung beginnt um Mitternacht“, erwiderte er. „Okay“, sagte Reena leise und leckte sich über die spröden Lippen. „Und denk’ dran. Verlass’ nicht die Wohnung“, ermahnte Skall sie. „Du bist noch nicht bereit dazu, mit Raum und Zeit herumzuspielen. Im Augenblick bist du nur ein Werkzeug.“ Reena nickte schwach und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Skall ging. Er verursachte dabei keinen einzigen Laut. Luftkontrolle, das hatte er ihr

mittlerweile verraten. Er blieb absolut lautlos, indem er kontrollierte, welche Schallwellen er aussandte. Reena schluckte, dann nahm sie die Haarsträhne, die Rose lang gelassen hatte, und flocht sie mit flinken Fingern zu einem filigranen Zopf, so wie Skall sein Haar auch trug. Seit der „Prozedur“, wie Skall und Rose es nannten, waren gerade einmal etwa fünfzehn Stunden vergangen, doch zu der blutleeren, wächsernen Haut gesellten sich nun auch die ersten weißen Haare zu den braunen in Reenas kurzem Haarschopf. Außerdem kamen Reena ihre eigenen Augen bereits etwas dunkler vor als zuvor.

Sie schreckte aus ihren eigenen Gedanken auf, als Jakob in seinem Zimmer plötzlich zu schreien begann. Eilig lief sie durch den Flur zu seinem Gitterbettchen und drückte ihren kleinen Bruder beruhigend an sich. „Es wird alles gut“, flüsterte sie ihm ins Ohr und wiegte ihn sanft hin und her. „Es wird alles gut“, wiederholte sie leise. Sie war seit etwa einer Stunde hier, an das was vor ihrer Ankunft hier und nach der „Prozedur“, geschehen war, hatte sie keinerlei Erinnerung mehr. Skall hatte ihr gesagt, sie sei, kurz nachdem Rose mit ihr fertig gewesen war, ohnmächtig geworden und hätte den

gesamten Vormittag sowie einen Teil des Nachmittags verschlafen. Laut Skall passierte so etwas häufiger, nachdem einem alles Blut entzogen worden war. Anschließend hatte er sie fortgebracht von diesem schrecklich weißen, toten Ort. Er hatte ein Portal geöffnet, über das er den Ort, an dem der Tod keine Macht mehr hatte, verließ und stattdessen mit ihr einen anderen leeren Raum betrat. Von dort aus hatte er sie dann in eine Art Illusion geführt, eine Illusion, die Reena nur allzu bekannt war – die Wohnung ihrer Eltern, die Wohnung, in der sie aufgewachsen war. Es stimmte alles, jedes noch so kleine Detail, mit Reenas Erinnerungen überein,

die weiße Raufasertapete, der sandfarbene Teppich, das blaukarierte Sofa, auch die gelbe Bettwäsche ihrer Eltern in deren Schlafzimmer, die bunten Sticker am Badezimmerspiegel. Und doch war das alles nur eine Illusion. Ein künstlich, mittels Magie erschaffener Raum, eine perfekte Kopie von der Wohnung ihrer Eltern, in der sie in der letzten Nacht noch deren toten Körper aufgefunden hatte. Das Blut war verschwunden, es war alles sauber, beinahe makellos. Reena hatte deutlich Skalls wachsamen Blick auf sich gespürt und sie hatte gewusst, dass er ihre Reaktion abwartete,

tief in ihrem Inneren hatte sie es gewusst. Sie hatte auf den Boden gestarrt, den Teppich, hatte die Kleiderhaken an der Wand angesehen, einen Blick in die Küche geworfen, wo sie immer zusammen mit ihrer Mutter gekocht hatte, sie hatte in das Schlafzimmer ihrer Eltern geschaut, das so herrlich vertraut wirkte. Und doch empfand sie nichts beim Anblick dieser Dinge. Skall hatte ihr gesagt, dass das nicht ihre echte Wohnung war, dass ihre echte Wohnung ein Tatort sei, an dem vielleicht noch Blut oder sogar die Leichen ihrer Eltern waren. Er hatte Reena verboten, die Tür zu öffnen, da sie

sich mit der Raummanipulation nicht auskenne und ihr gesagt, dass sie ohne ihn in ihrer Begleitung nirgendwohin gehen würde. Reena hatte seine Worte einfach hingenommen, stillschweigend. Dann hatte sie in ihr altes Kinderzimmer geschaut. Und dort hatte Jakob in seinem Bettchen gelegen, mit wachen Augen und einem fröhlichen Lächeln auf dem niedlichen Gesicht. Er hatte die Hände nach ihr ausgestreckt und Reena hatte nicht anders gekonnt, als zu ihm zu stürmen und ihn fest an sich zu drücken, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Ihre Tränen waren von seinem Strampelanzug aufgesogen worden.

Und nun stand sie wieder hier, hielt ganz fest alles in den Händen, was ihr von ihrem alten Leben noch geblieben war. Jakob. Der einzige, an den sie sich klammern konnte. Skall hatte ihr auch erklärt, dass sie aus dem Leben der Menschen um sie herum verschwunden war, genau wie Jakob. Darum würde sie ihn behalten können, obwohl sie als seine nur sechszehn Jahre alte Schwester nicht als Vormund in Frage kam. „Natürlich nur, wenn du ihn alleine aufziehen kannst“, hatte Skall noch kühl hinzugefügt und abschätzig mit angesehen, wie sie ihren Bruder im Arm

gehalten hatte. „Ich schaffe das“, hatte Reena erwidert. „Ich schaffe das. Ich schaffe das irgendwie.“ Und auch jetzt schmiegte sie sich an ihren kleinen Bruder und versprach sich, nicht zu verzagen. „Ich schaffe das“, wiederholte sie nun. „Ich schaffe das irgendwie.“ Nachdem sie ihre neue Wohnung inspiziert hatte, hatte sie kurz geduscht und sich die allmählich weiß werdenden Haare gewaschen. Dabei hatte sie fasziniert das Wasser von siedend heiß auf eiskalt gestellt, ohne einen nennenswerten Unterschied zu bemerken.

Nun sah Reena auf. „Hast du Hunger, Jakob?“, fragte sie ihren kleinen Bruder leise und als er zufrieden gluckste, lächelte sie schwach und ging mit ihm auf dem Arm in die Küche. Als sie dort jedoch ankam, stockte sie und blieb stehen. „Wer sind sie?“, fragte sie mit fester Stimme und fragte sich, wie sie so ruhig bleiben konnte, obwohl ein fremder Mann in der Küche stand. Der Mann war blond, seine Haare waren etwas länger gehalten, der Stil seiner Kleidung wirkte jugendlich und ein wenig frech, er trug eine offene Lederweste über einem weißen Shirt mit V-Ausschnitt und dazu eine löchrige

Jeans sowie passende Lederstiefel. Der Blonde sah auf. In seiner Hand hielt er ein Weinglas, in dem er eine gelbgrüne Murmel gemächlich kreisen ließ. „Du kannst mich sehen?“, fragte er ein wenig überrascht. Reena zog nur eine Augenbraue in die Höhe. „Wer sind sie?“, wiederholte sie ihre Frage scharf. „Und wie sind sie hierhergekommen? Kein Fremder sollte hier eindringen können!“ „Nun, beide Fragen verlangen nach derselben Antwort“, meinte der Blonde mit einem milden Lächeln, während er der Murmel beim Kreisen zusah. „Mein Name ist Huw.“ „Huw?“, wiederholte Reena fragend.

„Ein seltsamer Name. Man kann ihn ja noch nicht einmal richtig aussprechen.“ Warum blieb sie diesem Eindringling gegenüber so gelassen? Huw seufzte und ließ das Weinglas ein wenig sinken. „Okay, du hast ja Recht. Mein echter Name ist Hugo“, erklärte er. „Aber ich mag ihn nicht“, setzte Huw gleich hinterher. Reena runzelte die Stirn. „Das erklärt aber noch nicht, warum du hier bist.“ Huw seufzte erneut, dieses Mal noch ein wenig theatralischer. „Ach, die Jugend von heute ist so schrecklich ungeduldig. Manchmal besteht eine Antwort auch aus mehreren Teilen. In diesem Fall ist die Antwort einfach. Ich bin ein Geist,

Liebes.“ Reenas Stirnrunzeln wurde noch ein wenig stärker. „Ein Geist?“, echote sie skeptisch. „Richtig. Ich tue, was immer mir beliebt. Manipulierte, künstlich erschaffene Räume können mich dabei nicht aufhalten. Und hier gefällt es mir. Es ist so still. Ganz anders als in der Realität, wo ich zuerst gewesen bin. Dort laufen permanent Polizisten durch die Gegend und die Sirenen, die Gespräche … das ist nicht die Art von Entertainment, die ich bevorzuge.“ „Und … bist du dann …“ „Unsichtbar, ja“, beantwortete Huw die Frage, ehe sie gestellt worden war. „Für

die meisten Menschen jedenfalls. Aber du scheinst eine Ausnahme zu sein.“ Reena schluckte und drückte Jakob noch ein wenig enger an sich. Er schien völlig unbehelligt zu sein. Aber gut, er war ja auch noch klein. Abrupt wandte Reena sich von Huw ab. „Hey, Liebes. Ist unser nettes Gespräch etwa schon zu Ende?“, fragte Huw. „Ich muss verrückt geworden sein“, murmelte Reena leise, dann wandte sie sich wieder zu Huw um – und tatsächlich stand er noch immer da, an der Küchenzeile. „Ja, das kann natürlich gut sein“, pflichtete Huw ihr ungerührt bei. „Ich habe gehört, dass es nicht gut ist, wenn

einem Körper das gesamte Blut entzogen wird.“ Reena riss die Augen auf. „Das … wie kannst du das wissen?“, fragte sie stotternd. Huw lächelte nur sanft. „Ich kenne alle deine Geheimnisse, Liebes … oder sollte ich dich besser … Katharina nennen? Hm?“ Wieder ließ er die Murmel sachte kreisen. Reena schluckte und ein Zittern durchlief ihren Körper. „D-das bin ich nicht“, stammelte sie. Huw schenkte ihr nur einen mitleidigen Blick, der mehr sagte als tausend Worte. Reena hatte das Gefühl, zu ersticken. „So heiße ich nicht!“, rief sie aus. „Das

ist eine Lüge!“ Sie bemerkte, wie ihr etwas Nasses über die Wangen lief. Es waren Tränen. Sie flossen einfach und Reena wusste nicht einmal, warum. Da verblasste Huws Grinsen plötzlich und er kam näher. Der Blick seiner hellgrauen Augen war mit einem Mal sehr viel sanfter, die schelmische Boshaftigkeit war von einem Augenblick auf den anderen daraus verschwunden. Mit einem gewissen Nachdruck wischte er Reena mit dem Daumen die Tränen von den Wangen. „Na, na, Liebes … Wer wird denn hier gleich weinen?“ Nun hob auch Reena einen Arm und wischte sich mit dem Ärmel ihres schwarzen Pullovers

über das Gesicht, während sie versuchte, mit der anderen Jakob festzuhalten. Ehe ein Unglück geschehen konnte, nahm Huw ihr den kleinen Jungen ab und hielt ihn nun seinerseits im Arm, wiegte ihn sanft hin und her. Reenas Wangen waren wieder trocken und sie sah Huw ernst an. „Nenn’ mich nie wieder so“, sagte sie mit kühler Stimme. „Mein Name ist Reena.“ Huw zögerte einen Augenblick, dann setzte er Jakob auf dem Küchentisch ab. „Ich verstehe, Reena“, sagte er dann mit ebenso ernster Stimme, sodass es beinahe feierlich klang. Er blickte zu Jakob. „Im Übrigen solltest du in Zukunft darauf verzichten, in der Nähe

deines kleinen Bruders oder irgendeines anderen Menschen mit mir zu reden.“ Reena sah Huw nachdenklich an. „Können andere dich hören?“ „Nein“, erwiderte Huw. Reena nickte zu Huws Weinglas hin. „Was ist damit?“ Huw seufzte. „Ertappt. Was ich anfasse, sehen die Sterblichen, bis meine Aura es in eine ihnen unzugängliche Dimension übernimmt und es unsichtbar wird.“ „Und wie lange dauert das?“, wollte Reena wissen. „Je nach Masse des Gegenstands etwa zwei bis sieben Tage.“, erklärte Huw und machte eine kurze Kunstpause, ehe er weitersprach. „Darum stelle ich dieses

Weinglas auch nur höchst ungern ab. Dasselbe gilt übrigens auch für Kleidung.“ Reena fasste sich an den Kopf. „Ich bin verrückt“, sagte sie leise und nahm Jakob wieder auf den Arm. Dann wandte sie sich ab und verließ die Küche. „Hey!“, rief Huw ihr empört hinterher. „Nur weil du verrückt bist, bedeutet das nicht, dass du mich hier einfach so stehenlassen darfst!“, echauffierte er sich. Reena ging zu Jakobs Bett und legte ihren Bruder wieder hinein, gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann ging sie ins Wohnzimmer, wo Huw schon auf sie wartete. „Also gut“, sagte sie nun und

ließ sich auf das blaukarierte Sofa sinken. „Auch wenn ich vielleicht übergeschnappt bin, bin ich doch wenigstens nicht allein“, meinte sie und sah zu Huw auf. Dieser erwiderte ihren Blick nachdenklich. „Ja, da hast du Recht“, pflichtete er ihr schließlich bei. „Es ist nie gut, allein zu sein, schon gar nicht für ein junges Mädchen wie dich.“ Reena nickte gedankenverloren, dann schaltete sie den Fernseher ein und ließ es zu, dass Huw sich neben sie setzte, obwohl ihr dabei sehr unwohl war. Doch so verging die Zeit sehr viel schneller und so sah sie erst wieder auf, als sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Schneeweißes Haar, wie eine vorbeifliegende Schleiereule. Sie sah zur Tür und ins Skalls Gesicht, das so ausdruckslos ruhig war wie immer. Reenas Gedanken jedoch rasten plötzlich. Hatte er sie mit Huw reden hören? Sie sah zu Huw. Konnte Skall ihn wirklich nicht sehen? Spielte ihr Kopf ihr einen Streich oder hatte Huw die Wahrheit gesagt? „Du musst jetzt also weg“, sagte Huw nur. Reena verzichtete auf eine Antwort, denn Skall schien ihn wirklich nicht sehen zu können, was ihr eine

hartnäckige Gänsehaut über den Rücken jagte. Doch sie riss sich zusammen, schaltete den Fernseher aus und stand auf, sah in Skalls Gesicht, dessen seelenlose Augen kühl auf sie herabschauten. „Wir müssen los“, erklärte Skall schlicht. „Deine Ausbildung beginnt.“ ~ (7. Mai 2018, 08:30 Uhr) Reena holte noch einmal tief Luft, ehe sie den ersten Klingelknopf drückte. Dabei schwirrten ihr noch viele andere Dinge im Kopf herum, zum Beispiel Jakob, den sie gerade eben noch zur

Schule gebracht hatte, wo er die dritte Klasse besuchte. Der Blick seiner Lehrerin war ihr nicht entgangen. Die Frau war selbst Mutter und konnte Reena nicht ausstehen, da sie davon überzeugt war, dass Reena ihren Bruder vernachlässigte. Verständlich. Es gab wohl kein Kind in ganz New York, das so einsam war wie Jakob … Reena seufzte schwer. Eigentlich ging es ihr viel zu schlecht, um heute zu arbeiten. Sie fühlte sich schmutzig, als klebte an ihren Händen noch das Blut ihres letzten Opfers. Und mit diesen blutbeschmierten Händen hatte sie Jakob

berührt, sie hatte ihn bei der Hand genommen, ihn umarmt, ihm über den Kopf gestreichelt. Ich hätte ihn damals weggeben sollen, dachte sie plötzlich und biss sich auf die Unterlippe, bis sie salziges Blut schmeckte. Überrascht hob sie die Hand an ihre Lippen. Sie würde sich wohl nie daran gewöhnen, dass sie den Schmerz nicht fühlen konnte. Schnell nahm sie ihre Hand wieder herunter und beeilte sich, auch noch die restlichen Knöpfe zu drücken, in der Hoffnung, dass niemand sie dabei beobachtete. Doch die Straße war leer. Das Hauptquartier der Schattenläufer war natürlich kein einfaches Gebäude. Es

lag außerhalb der physikalischen Welt, genau wie Reenas Wohnung und auch jede andere Unterkunft eines Schattenläufers. Ein realer Aufenthaltsort war einfach zu angreifbar. Jedoch konnte jedes Wohnhaus als Zugang, als Portal, fungieren, solange es nur genug Klingelknöpfe gab. Zehn brauchte es mindestens und leerstehende Häuser eigneten sich selbstredend am besten dazu. Darum gab es in New York dreißig vom Bund der Schattenläufer aufgekaufte Häuser, die grundsätzlich als Portal genutzt werden konnten. Nachdem Reena den letzten Knopf betätigt hatte, ertönte schließlich eine

Stimme, männlich und offenbar auch recht jung, jedoch kam sie nicht aus der Gegensprechanlage, sondern hallte in Reenas Kopf wider. „Name?“, fragte diese Stimme knapp. Reena schätzte, dass es sich bei dem Besitzer der Stimme um Knife handelte oder vielleicht auch um Jäger, zwei Schattenläufer, die Reena noch aus ihrer Ausbildung kannte. Nur die besten Absolventen durften Pförtner sein und so das Ein-und Ausgehen der Schattenläufer regeln. Vielleicht war ihr diese Person aber auch vollkommen fremd. „Reena, Schülerin von Skall“, erwiderte die Schattenläuferin leise. „Ich bitte um

Einlass ins Hauptquartier“, fügte sie im Flüsterton hinzu. „Gewährt“, antwortete die Stimme und dann sprang die Tür auf. Dahinter lag Weiß. Dieses schreckliche, grelle Weiß, das Reena so sehr hasste. Wäre Reena nun ein ganz gewöhnlicher Einbrecher oder, im Falle eines bewohnten Hauses, ein Anwohner gewesen, der die Tür auf normalem Weg öffnete, hätte sie hinter dieser Tür nichts weiter vorgefunden als ein ganz gewöhnliches Treppenhaus. Doch stattdessen betrat Reena nun die Eingangshalle des Hauptquartiers. Sogleich trat sie an den weißen Tresen, hinter dem tatsächlich der junge

Schattenläufer namens Knife stand, der sie soeben auch eingelassen hatte und von dem sie sich einen neuen Auftrag holen würde. „Hallo Knife“, sagte sie und hob zum Gruß kurz die Hand. „Hi Reena“, antwortete der junge Mann ihr. „Gut, dass du da bist. Ich hab’ da was für dich.“ „Ich wollte mir eigentlich nur einen neuen Auftrag holen“, meinte Reena verwundert. Knife lächelte hintergründig. „Tja, ich denke, das hier hat erstmal Vorrang“, sagte er und schob Reena einen Brief zu, dessen Rückseite vollkommen weiß war, ohne Schrift.

„Ein Brief?“, fragte die Schattenläuferin verwundert und nahm den Umschlag auf. Als sie das Siegel, das aus schwarzem Wachs gemacht war, sah, erschrak sie. „Solitude?“, fragte sie entsetzt und sah wieder Knife an. „Weißt du, was es damit auf sich hat?“ Knife sah sie nicht noch einmal an, er durchsuchte eine dicke Akte. „Um was genau es geht, kann ich dir nicht sagen. Aber du bist nicht die einzige, die so einen Brief bekommen hat.“ „Beruhigend“, kommentierte Reena sarkastisch und zögerte. Doch dann entschied sie, dass ein ungeöffneter Brief die sich möglicherweise

anbahnenden Probleme auch nicht beilegen würde, und so nahm sie eine ihrer Klingen hervor und schlitzte das Papier auf. In dem Umschlag war nur ein einfacher weißer Zettel, auf dem nur zwei Worte standen. Büro. Sofort. Ärgerlich zog Reena die Augenbrauen zusammen. „Was denkt der sich eigentlich?“ Knife sah auf. „Reena, so spricht man doch nicht von einem …“ Reena ließ ihn nicht ausreden, sondern hielt ihrem Kameraden lediglich den Brief hin. Knife stutzte, dann lachte er trocken auf.

„Ja, das sieht ihm ähnlich.“ Reena seufzte. Wenn Solitude doch wenigstens geschrieben hätte, worum es ging. Dann hätte sie sich auf etwas Bestimmtes gefasst machen können, aber so konnte es sich um beinahe alles handeln, von einem Lob über einen Sonderauftrag bis hin zur Schelte oder sogar dem Ausschluss aus den Reihen der Schattenläufer – was in diesem Falle den Tod bedeutete. Reena schluckte. Skall hatte doch wohl nicht wirklich mit Solitude über sie gesprochen? Das würde er doch nicht tun, oder? Warum hätte er das tun sollen? Alles, was zählt, sind Resultate,

wiederholte Reena in ihrem Kopf. Ich habe bisher jeden meiner Aufträge unverzüglich innerhalb weniger Minuten erledigt und ich bin niemals aufgefallen. Und Skall würde mich niemals fälschlich anschwärzen, das ist nicht seine Art … Knife schien weniger besorgt zu sein. „Es hätte schlimmer sein können“, sagte er. „Wenn Solitude wütend auf dich wäre, hätte er es dazugeschrieben.“ Reena sah den Jungen ärgerlich an. „Du hast gut Reden. Also für mich klingt das hier schon ziemlich ruppig. Den Kopf abreißen kann er mir noch immer.“ „Ach, dafür würde er sich doch nicht so viel Mühe machen“, scherzte

Knife. Reena seufzte erneut. „Tja … also bis später“, sagte sie dann und ging nun mit schnellen, gefasst wirkenden Schritten in die Richtung, in der sich die Büroräume befanden. Es war schwer zu erklären, wie man sich in einem unnatürlich weißen Gebäude, bei dem man nicht einmal die Wände vom Boden unterscheiden konnte, zurechtfand, doch es fühlte sich einfach so an, als kenne Reena den Weg. Als sie schließlich vor Solitudes Büro stehenblieb, nutzte sie den Moment, um noch einmal ihre Sachen zu richten. Dann hob sie die Hand und klopfte. Statt einer Antwort öffnete sich nur die

Tür wie von Geisterhand und Reena trat ein. Solitudes Büro war schlicht und … anders. Immerhin nicht mehr so grässlich weiß, eher dunkel gehalten. Die Büros waren sehr viel persönlicher gestaltet als das restliche Hauptquartier, denn ihre eigenen Räume durften die Schattenläufer so gestalten, wie sie es wünschten, vorausgesetzt natürlich, dass sie solche Raumillusionen erzeugen konnten. Doch Solitude war ein mächtiger Schattenläufer, einer der acht Mächtigsten überhaupt. Darum war es für den Meister auch möglich, sein Zimmer beinahe schon

dunkel zu gestalten, mit dunklem Holz, dunklem Samt an der Wand, dunklem Parkett. Ja, es wirkte beinahe schon, als sei es Nacht geworden. Licht spendete nur eine kleine Schreibtischlampe. Und am Schreibtisch saß, unverkennbar, Solitude. Er sah auf, als sie vor ihm zum Stehen kam und lehnte sich mit auf dem Tisch gefalteten Händen zurück. Sah sie einfach nur an, mit seinen im Laufe der Zeit rot gewordenen Augen. Wie ein lauerndes Raubtier. Reena konnte nicht verhindern, dass ihr Blick kurz über die zahlreichen Fläschchen, die fein säuberlich in einem großen Regal aufgereiht waren, und den antik wirkenden Globus huschte. Sie

liebte diesen mystischen Raum, er vermittelte ihr eine gewisse Wärme, fast wie ein gemütliches Kaminfeuer, was vor allem an den vielen dunklen Rottönen liegen musste. Viel weniger als diesen Raum jedoch mochte sie den Mann, dem er gehörte. Der einzige, vor dem Reena wirklich wahren Respekt hatte – oder sogar Angst. Auch als Reena sich endlich dazu durchrang, ihm offen ins Gesicht zu sehen, sprach er nicht. Reena hielt den Umschlag in die Höhe. „Ich bin wegen des Briefes hier, Meister.“ Solitude nickte langsam. „Sehr gut.“

Die junge Schattenläuferin schluckte. Endlich setzte Solitude zu einer Erklärung an. „Es ist allmählich an der Zeit, dass du zu einer vollständigen Schattenläuferin wirst. Sieben Jahre sind vergangen und das achte wird deinen Pakt mit der Magie und unserem Herrn endgültig besiegeln.“ Reena nickte knapp. Das wusste sie. Die Grundausbildung eines Schattenläufers dauerte nur knapp einen Monat, jedoch war es erst acht Jahre später erlaubt, selbst einen Schattenläufer heranzuziehen, so wie Skall es mit ihr getan hatte. Und erst dann war man selbst auch ein vollwertiges Mitglied im

Bund der Schattenläufer. Doch dann drängte sich ihr eine Frage auf. „A-aber deswegen habt ihr mich doch nicht hergebeten, oder, Meister?“, fragte sie stotternd und verfluchte sich in Gedanken für ihre in Ehrfurcht zitternden Lippen. „Da muss es doch noch mehr geben, nicht wahr?“ Solitude stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch auf. „Ich hatte heute schon drei andere Novizen hier, also glaube ja nicht, du seist etwas Besonderes.“ Reena musste erneut trocken schlucken, doch zugleich waren seine herablassenden Worte auch ein Grund zum Aufatmen. Wenn es noch drei andere

gab, sie heute hier an ihrer Stelle gestanden hatten, musste der Grund für Solitudes „Einladung“ eine andere sein als ein Tadel oder gar ein Rauswurf. Es sei denn, er hatte heute einen schlechten Tag, was praktisch immer vorkommen konnte, zu jeder Tageszeit. Und dann war niemand vor ihm sicher. Eilig wies sie ihre Gedanken zurück und besann sich darauf, dass sie Solitude irgendetwas antworten musste. „Verstehe“, sagte sie schnell. „Verzeihung.“ Entgegen ihrer Erwartungen sprach Solitude einfach weiter, ohne Reena ihr erbärmliches Auftreten noch unangenehmer zu gestalten. „Reena, seit

einiger Zeit schon besteht Gefahr für unseren Bund, für die Schattenläufer“, sagte der Weißhaarige. „Gefahr?“, echote Reena überrascht und zuckte zurück, als Solitude sie mit einem finsteren Blick strafte. Offenbar hatte er keine dümmliche Nachfrage gewünscht. Jedoch fuhr er einfach fort. „Es haben sich Widersacher erhoben, die mit unserem Magiegeschick nicht einverstanden sind und uns deshalb auszuschalten gedenken.“ „Widersacher …“, wiederholte Reena verwundert. „Aber wer könnte den Schattenläufern schon schaden?“ Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, zog

sie auch schon wieder den Kopf ein, weil sie glaubte, unaufgefordert gesprochen zu haben. Doch dieses Mal störte Solitude sich nicht daran. „Andere, die sich die Magie zunutze gemacht haben“, antwortete er ruhig. „Sie agieren schon seit einigen Jahren, doch mehr ist uns nicht über sie bekannt.“ Reena glaubte, stumme Unzufriedenheit in Solitudes sonst so kühlen Blick lesen zu können, doch im nächsten Augenblick war dieser Ausdruck schon wieder verschwunden. „Sie nennen sich die Goldenen Falken und sind durchaus in der Lage, mit einem Schattenläufer Schritt zu halten. Ich hielt es für angebracht, es einer

Novizin wie ihnen mitzuteilen. Todesfälle können wir uns nicht erlauben.“ Reena nickte schwach. „Ich verstehe.“ „Seien sie vorsichtig.“ „Verstanden.“ Sie deutete eine kurze Verbeugung an und neben ihr öffnete sich die dunkle Eichenholztür, Solitudes stumme Aufforderung, sein Reich jetzt zu verlassen. Reena kam diesem Wink mit Freuden nach und stand im nächsten Moment wieder im Weiß. Reenas Gedanken überschlugen sich. „Seien sie vorsichtig“, hatte er gesagt. Wann war er dazu übergegangen, sie so respektvoll anzusprechen? Und hatte er ihr wirklich zur Vorsicht

geraten? Er? Reena wusste nicht so recht, was sie mehr verstörte. Er hatte ihr geraten, vorsichtig zu sein. Reena schluckte. Bisher hatte sie sich immer für unsterblich gehalten, für ein übernatürliches Wesen, das allen Schmerz und die Bürde der Sterblichkeit abgestreift hatte wie ein Schmetterling sein Kokon. Also wer war dieser Feind, vor dem sie sich in Acht nehmen sollte? ~ (7. Mai 2018, 09:00 Uhr) „Morgen, Ash“, begrüßte Saskia ihren

Partner, als dieser das Hauptquartier der Goldenen Falken betrat. „Hast du gut geschlafen?“, setzte sie gleich darauf hinterher. Das Hauptquartier war ein gigantischer Wolkenkratzer mitten in New York, in dem auch andere Unternehmen Platz fanden. Die obersten zehn Stockwerke gehörten den Ermittlern, einschließlich malerischer Dachterrasse in schwindelerregender Höhe, die allerdings kaum Verwendung fand. Höchstens als luxuriöse Startrampe zum Fliegen. „Morgen“, erwiderte Ashley. „Ja, ging so“, fügte er hinzu und steckte das goldene Emblem, das ihn als Mitglied

der Goldenen Falken auswies, wieder zurück in seine Umhängetasche, in der er immer Block, Stift, Handy und Laptop bei sich trug. Das Emblem hatte die – natürlich stark verkünstelte – Form einer Sonne, genaugenommen war es ein zwölfzackiger goldener Stern, der in der Mitte einen Falken mit weit aufgespannten Flügeln zeigte. Alles in allem ein sehr schönes Zeichen, das nur einen Nachteil hatte – in der Hosentasche piekte es ziemlich unangenehm, darum trug Ashley es – vollkommen unverantwortlich, nur in seiner Tasche bei sich. Er blickte kurz zu seinem Schreibtisch,

der dem von Saskia genau gegenüberstand, dann zum Fahrstuhl, der ihn in den letzten Stock bringen würde. In Gedanken wiederholte er noch einmal alle Worte, die er in wenigen Augenblicken vor dem Kopf der Goldenen Falken sagen würde und die er sich gefühlt die ganze Nacht über zurechtgelegt hatte. Doch dann entschied er sich dazu, sich noch einmal hinzusetzen und den Kaffee anzunehmen, den Saskia ihm bereits geholt hatte. Ein morgendliches Ritual, das er nicht vernachlässigen wollte. „Und? Hast du auch gut geschlafen?“, wollte er dann von seiner Freundin wissen.

Saskia rührte gedankenverloren in ihrem eigenen Kaffee. „Na ja. Es ging so“, meinte sie dann ausweichend. „Ich hab’ nicht viel geschlafen, weil ich im Kopf alles nochmal durchgegangen bin“, erklärte sie und nahm dann zögerlich den ersten Schluck. „Und?“ „Nichts.“ Ash nickte. „War ja klar.“ Auch er nippte an seinem Kaffee. Dass es für sie alle schon seit Monaten keine guten Nachrichten gab, war nichts Neues. „Ich habe schon seit längerem das Gefühl, dass wir etwas ganz Entscheidendes übersehen, als ob ein

wichtiges Puzzleteil ganz offensichtlich vor uns läge, nur irgendwie kriegen wir es nicht zu fassen …“ Saskia zuckte resigniert mit den Schultern. Ashley hingegen hob überrascht den Blick. „Ja! Ja!“, rief er aus und sprang von seinem Platz auf. „Genau diesen Gedanken habe ich gestern auch gehabt!“ „Aha“, machte Saskia nun verwundert. „Und weißt du auch, worum es sich bei diesem einen offensichtlichen Puzzleteil handelt?“, wollte sie interessiert wissen. „Und ob!“, erwiderte Ash überlegen grinsend. „Aha“, machte Saskia erneut, verwundert über Ashs Verhalten. „Ich wette, es sind die Aufzeichnungen

meines Vaters“, erklärte Ashley stolz. Saskia runzelte die Stirn. „Aber Ash, dein Vater hat den Goldenen Falken nichts hinterlassen“, sagte sie ruhig, fast schon ein wenig enttäuscht. „Es wurde alles bei dem Unfall vernichtet, falls es denn da jemals etwas gegeben hat.“ Sie stellte ihren Kaffeebecher weg. Ashs Grinsen schwand, seine Mimik wurde ernst, als er sich mit beiden Händen vor Saskia auf dem Tisch abstützte. „Mein Vater war ein Goldener Falke, ein Magier!“, sagte er eindringlich. „Wenn es irgendwelche Fortschritte seiner Nachforschungen gab, dann hätte er alle seine Notizen doch sicherlich durch Magie geschützt!

Er wäre nicht einfach so gestorben, ohne dafür irgendwelche Vorkehrungen getroffen zu haben!“ Saskia stützte sich müde auf ihre Hand. „Und das ausgerechnet aus dem Mund von dem, der sein goldenes Emblem einfach nur in eine Tasche steckt.“ Ashleys Blick wurde finster. „Es piekt“, sagte er und legte alle Ernsthaftigkeit in seine Stimme. „Und außerdem ist das was vollkommen anderes!“ Saskia seufzte erneut und entschied, dass es dumm war, mit Ashley über solche Banalitäten zu streiten. Stattdessen fasste sie das eigentliche Thema wieder auf. „Sieh’ mal, Ash, ich weiß, wir sprechen hier von deinem Vater

und ich weiß auch, wie sehr du ihn bewundert hast. Aber im Grunde war auch er nur ein Mensch. Es gibt keine Aufzeichnungen von ihm. Daher müssen wir wohl oder übel davon ausgehen, dass er so weit war wie jeder andere hier auch – ganz am Anfang.“ Betrübt ließ sie den Kopf hängen. Ash hingegen hatte die Nase voll davon, zu resignieren und aufzugeben. „Aber es kann doch unmöglich sein, dass es mehr als zehn Jahre lang keinen einzigen Hinweis gegeben hat! Das glaube ich einfach nicht, das kann ich nicht glauben. Warum stört es hier eigentlich niemanden, dass wir seit Jahren nur auf der Stelle laufen? Sind wir nicht dazu da,

um magische Verbrechen zu bekämpfen und Unschuldige zu schützen? Warum kämpft hier keiner für das, was wir eigentlich tun sollen? Was ist das hier? Ein Club der Waschlappen?“ Zornig wandte er sich ab. Saskia stand auf. „Ash“, sagte sie leise. „Ich geh’ zu ihm“, erklärte Ashley seiner Partnerin nun mit harter Stimme und finsterem Blick und ging mit festen Schritten auf den Aufzug zu, der sich in diesem Augenblick auftat. „Ash!“, rief Saskia nun und kümmerte sich inzwischen nicht mehr darum, dass alle anderen im Büro verwundert die Köpfe gehoben hatten und untereinander verwirrte Blicke tauschten. „Ash, was

soll denn das?“, fragte Saskia. „Das ist doch albern!“ Sie wollte nach seinem Arm greifen, doch Ash wich ihr aus und betrat den gläsernen Fahrstuhl, der kurz darauf seine Türen wieder schloss und den jungen Magier in einer fließenden Bewegung ins oberste Stockwerk brachte, das achtzigste, genau genommen. Ein Boden aus Glas erstreckte sich vor ihm, der besonders empfindliche Menschen vermutlich hätte schwindeln lassen, andere Goldene Falken gingen geschäftig umher, öffneten Türen, trugen Dokumente von A nach B und wirkten dabei sehr wichtig.

Das hier war die Chefetage, hier arbeiteten nur die einflussreichsten Goldenen Falken. Alle anderen hier waren Lakaien, die als Laufburschen missbraucht wurden. Entschlossen hielt Ashley auf das Büro ganz am Ende des Flurs zu. Er klopfte energisch an. „Herein“, bat ihn eine kräftige Stimme auf der anderen Seite der Tür und Ash betätigte die Klinke, trat in das hochmoderne Büro des obersten Falken ein. Richard Lane war sein Name, seit sechs Jahren das Oberhaupt der Organisation, die sich ausschließlich mit der

Bekämpfung übernatürlicher Verbrechen befasste. „Guten Tag, Mr. Lane“, begrüßte Ash seinen Vorgesetzten schlicht. „Guten Tag“, erwiderte der Falke ebenso. „Nennen sie mir auch ihren Namen, junger Mann?“ „Ashley Reynolds“, antwortete Ash. Der Blick des betagten Mannes mit dem weißen Haar und den dunklen Augen hellte sich noch ein wenig weiter auf. „Ah, ja. Ich erinnere mich an sie.“ „Ich bin der Sohn von James Reynolds“, sagte Ash nun mit harter Stimme. Richard Lane sah Ashley verwundert an. Dann lächelte er flüchtig. „Nun, das hat in unserem Bund keine Bedeutung, aber

natürlich freut es mich, dass sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten wollen, werter Mr. Reynolds …“ Ja, nachdem ich nach seinem Tod wieder zum unbedeutenden Novizen gemacht wurde, obwohl ich schon so viel weiter war, dachte Ash frustriert, ehe er den alten Mann etwas barsch unterbrach. „Ich erhebe Anspruch auf die Aufzeichnungen meines Vaters.“ Mr. Lanes Blick wandelte sich abermals ins Verwunderte. „Aber Mr. Reynolds, wie sie wissen, hat ihr Vater uns bedauerlicherweise nichts dergleichen hinterlassen …“ „Das ist eine Lüge!“, fuhr der junge Falke aufbrausend dazwischen. „Sie

haben mich die ganze Zeit über angelogen und jetzt versuchen sie es erneut!“ Mr. Lane begann sichtlich, sich unwohl zu fühlen angesichts des heftigen Gefühlsausbruchs seines Novizen. „Aber Mr. Reynolds, ich muss doch sehr bitten …“ Ash schnaubte. „Mein Vater war ein erstklassiger Magier, Schutzzauber wären ein Leichtes für ihn gewesen“, sagte er leise und verschränkte die Arme vor der Brust. Mr. Lane schüttelte traurig den Kopf. „Aber was, wenn es da nichts zu schützen gab?“ Ash sah den Meister finster an. „Was

wollen sie damit andeuten?“ Richard Lane zog kaum merklich den Kopf ein. „Nun, sicherlich will ich nicht behaupten, dass Mr. Reynolds unfähig gewesen wäre …“, stammelte er. Rückgratloser alter Sack, dachte Ashley voller Zorn. „A-aber ich fürchte, dass er keine seiner Nachforschungen jemals schriftlich festgehalten hat. Er war ein Denker, kein Schreiber. So leid es mir tut, Mr. Reynolds. Ich verstehe sehr gut, was sie fühlen, doch ich fürchte, sie müssen, wie wir alle, damit leben, dass James Reynolds sämtliche Resultate seiner Arbeit buchstäblich mit ins Grab genommen

hat.“ Ash versuchte, sich zu beruhigen, obwohl er glaubte, gleich explodieren zu müssen. Doch schließlich war er sich sicher, dass er seinen Tonfall würde mäßigen können. Noch einmal atmete er tief durch. „Ich verstehe“, sagte er schließlich demütig. „Bitte verzeihen sie meinen plötzlichen Gefühlsausbruch. Ich muss mich selbst vergessen haben.“ „Natürlich. Ich kann sie sehr gut verstehen. Jeder von uns ist doch aufgewühlt, wenn es um den Tod eines geliebten Menschen geht“, meinte Richard Lane großmütig. Ash nickte und lächelte knapp. „Vielen Dank, Mr. Lane.“ Mit diesen Worten

verließ er das Büro und ging schnellen Schrittes zurück zum Aufzug, der ihn, zusammen mit drei anderen stummen Goldenen Falken, zurück in die einundsiebzigste Etage brachte. Währenddessen fiel es Ash schwer, seine Gefühle im Zaum zu halten und nicht zu zeigen, wie verdammt wütend er war. Mein Vater war also ein Denker, dachte Ash spöttisch. Von wegen. Vater hat immer Tagebuch geführt, ich bin doch nicht blöd. Als er aus dem Aufzug stieg, kam sogleich Saskia auf ihn zu, ihr Gesicht schien mit allen Sorgen der Welt behaftet zu sein, als hätte er soeben etwas unverzeihlich Dummes getan.

Wenn sie nur wüsste, dass Ash seit einer Minute etwas noch viel Unverzeihlicheres plante. „Und?“, wollte sie vorsichtig wissen. Ash packte ihren Arm und brachte sein Gesicht ganz nah an ihres. „Ich brauche deine Hilfe, Saskia“, wisperte er ihr eindringlich ins Ohr, sodass nur sie ihn hören konnte. Saskia wich zurück und sah ihn verwundert an. „Hilfe? Wobei?“ „Hier stimmt etwas nicht“, erwiderte Ash und hob den Blick. „Ash, was ist denn da oben passiert?“, hakte Saskia verzweifelt nach. Ashs Blick war finster, als er seiner Freundin antwortete. „Ich habe noch nie

ein so verlogenes Lächeln gesehen.“

Viertes Kapitel

(9. August 2011, 23:45 Uhr) Weiß. Natürlich. Skall hatte Reena durch ein Portal in einen einfachen weißen Raum gebracht, in dem sie gerade so Platz fanden, das Produkt einfachster Raumbildungsmagie, wie der Ältere ihr erklärt hatte. Nichts von dem, was sie sah, war real, lediglich trügerische Wände und Boden gaben ihnen Halt. Diese Illusionsmagie war sehr aufwändig, darum verzichtete man meistens auf Farben und vor allem auf unnötige Einrichtungsgegenstände.

Nun stand Skall mit seiner Schutzbefohlenen hier, mitten in diesem von Magie erschaffenen Raum. Hinter ihnen schloss sich gerade die Tür, die sie von Reenas Wohnung direkt hierher geführt hatte, anstatt in das Treppenhaus, das man hinter der Wohnungstür vermuten sollte. „Irgendwelche Fragen?“, wollte Skall wortkarg wissen und als Reena verwundert zu ihm aufsah, bemerkte sie wieder diesen argwöhnischen Ausdruck in seinem blutleeren Gesicht, in seinen seelenlosen Augen. Er fragte also, ob sie Fragen hatte. Sie senkte den Blick wieder und wie ein

Film liefen vor ihren Augen die Geschehnisse der vergangenen vierundzwanzig Stunden ab, schnell und farblos. Ihre Eltern waren ermordet worden, und sie hatte nicht erfahren, warum, ein fremder Mann mit weißen Haaren und schwarzen Augen hatte sie dort „erwartet“, mitten in dem Massaker, er hatte sie durch mehrere magische Portale geführt, ihr einen neuen Namen gegeben, es war ein seltsames Ritual an ihr vollzogen worden, bei dem Reena alles Blut aus dem Körper gesaugt worden war, ohne dass es sie umbrachte, dann hatte man sie wieder zurück in ihre Wohnung gebracht, die wieder genauso

aussah wie vorher, aber doch nur ein Trugbild war, ihr war ein merkwürdiger Geist mit Murmelglas und Schmalzlocke im Punkerlook begegnet, mit der Zeit waren ihre Haare weiß und ihre Augen schwarz geworden und auf ihrem Schlüsselbein hob sich mittlerweile ein weißes Zeichen ab, von dem niemand etwas gesagt hatte, und nun stand sie hier und empfand all das nicht einmal als besonders beunruhigend. Genau genommen war diese absolute Gefühlstaubheit das einzige, das Reena beunruhigte. „Also, ein paar Fragen hätte ich da schon“, antwortete das Mädchen nun und erlaubte sich dabei sogar einen

unverkennbar giftig-sarkastischen Unterton. Skall blickte gelangweilt zur Seite. „Beschränk’ dich auf die wichtigsten, wenn’s geht“, sagte er nur. Sein Tonfall sagte Reena jedoch deutlich „halt’ am besten weiter die Klappe“, doch sie wollte es trotzdem wagen, immerhin hatte er sie ja gefragt. „Wieso bin ich hier?“, wollte sie darum wissen. Skall seufzte. „Du hattest ein überaus traumatisches Erlebnis. Mein Auftrag war es, dich vor solch lästigen Gefühlen wie Trauer und Sehnsucht zu retten, die dich mit der Zeit zerfressen hätten. Glaub’ mir, dein Leben wird besser sein

so.“ Reena nickte langsam. „Ich verstehe“, sagte sie schlicht, weil ihr nichts Besseres einfiel. „Sonst noch was?“, hakte Skall nach. Reena nickte erneut. „Warum bin ich hier?“, wiederholte sie ihre erste Frage etwas deutlicher. Erneut atmete Skall tief durch, als müsste er sich zwingen, ruhig zu bleiben. „Du wirst von nun an für die Schatten arbeiten, das ist der Deal“, sagte er. „Der Deal?“, echote das Mädchen verwundert. „Ja“, bestätigte Skall knapp. „Ein sorgenfreies Leben für dich, Seelen für

die Unterwelt.“ „Die Unterwelt?“ Skall seufzte zum dritten Mal. „Alle Schattenläufer sind Auftragsmörder. Wir erhalten Aufträge und erfüllen diese still und zuverlässig.“ „Für wen?“ „Für einen Dämonen, der uns die Magie der Schatten zum Geschenk gemacht hat. Das mächtigste Wesen im Dies-und Jenseits. Wir stehen tief in seiner Schuld. Er ist unser Gott.“ Reena schluckte. Okkultismus also. Nun gut, was wunderte sie sich darüber eigentlich noch? Dämonenanbetung? Seelen? Auftragsmörder?

Wo war sie da nur hineingeraten? Ihre Familie war nicht besonders streng gläubig gewesen, doch ob sie sich Dämonen zuwenden sollte, daran zweifelte sie stark. Und auch zu morden war eine Straftat, ohne Frage. Darum fasste sie sich nun ein Herz und sprach ihre Gedanken frei aus. „Ihr habt mich aber nie gefragt, ob ich so einen Handel überhaupt abschließen will.“ Ihre Stimme war trocken. Skalls Blick traf sie kälter als jemals zuvor. „Ist das so?“, fragte er kühl. „Fürchtest du dich etwa? Noch ist es nicht zu spät, auszusteigen … ich muss dafür nur …“ Plötzlich hatte er ein

Messer in der Hand, mit der anderen griff er in Reenas Haarschopf, er zog sie zu sich heran, das Messer gefährlich nah an ihrem Hals, dann am Schlüsselbein, wo das Zeichen des Pakts prangte, weiß, beinahe leuchtend, in der Form eines eingekreisten Sichelmondes. Es schien, als strahle die Klinge eine eisige Kälte aus, Reena konnte das blanke Metall fühlen, bevor es ihre straff über dem Knochen gespannte weiße Haut berührte. Plötzlich kam etwas über sie, eine Art Panik, die sie jedoch nicht lähmte, sondern ihr Kraft gab. Sie griff nach Skalls Hand und entwand sich mit unerwarteter Stärke seinem eisenharten Griff. „Hör’ auf!“,

rief sie schrill aus und trat zurück, bis sie die weiße Wand in ihrem Rücken spürte. Skall sah sie beinahe überrascht an und ließ dann das Messer sinken. „Hast du dich umentschieden?“, fragte er dann und ein zufriedenes Grinsen zierte sein Gesicht. „Ja!“, bestätigte Reena mit einem entschlossenen Nicken. „Gut“, meinte Skall, kam näher und legte einen Arm um ihre Schultern. „Dann ist es für dich jetzt an der Zeit, deine Ausbildung zu beginnen.“ Er lächelte. „Was du hier siehst, ist nicht nur manipulierter Raum, nein, meine Magie hat auch die Zeit manipuliert. Das

bedeutet, dass in der realen Welt keine einzige Minute vergangen ist. Alles, was wir eben besprochen haben, ist praktisch nie geschehen. Durch die nächste Tür musst du alleine gehen.“ Er beugte sich zu ihr herunter und sein Gesicht war ganz nah an ihrem. „Viel Glück, Reena.“ Reena schluckte und erschauderte, als ein warmes Gefühl ihren eiskalten Körper durchflutete. „D-danke“, stotterte sie dann ein wenig nervös. Das Glücksgefühl wich augenblicklich Beklommenheit, als sich auf Skalls Zeichen hin eine neue Tür vor ihr öffnete. Doch was dahinter lag, sah um ehrlich zu sein einladender aus als dieser

falsche, steril-weiße Raum, in dem sie absolut gar nichts fühlte. Sie sah dunkle, edel anmutende Fliesen, Glasfenster, Tische, Barhocker, einen künstlich angelegten Teich mit Schilfrohr. Ohne sich noch einmal umzudrehen, gab sie sich einen Ruck und tat den Schritt in diesen hochmodernen, aber sehr hübsch eingerichteten Raum, der sich allem Anschein nach in einem Penthouse befand, nach der Aussicht, die die riesigen Fenster ihr boten, zu urteilen. Direkt hinter ihr schloss die Tür sich wieder. Reena schluckte und atmete tief durch. Skall hatte sie schon wieder allein

gelassen. Doch dann hob sie den Blick und nahm ihre Umgebung etwas genauer in Augenschein. Als allererstes bemerkte sie einen Mann mit Sidecut, der in einem Sessel mit edlen roten Polstern saß und die Beine übereinander geschlagen hatte. Natürlich waren seine Haare weiß und seine Augen schwarz. In der Hand hielt er ein Glas mit einer blass gelben Flüssigkeit, vermutlich Alkohol oder dergleichen. Sicher teures Zeug, wie Reena in Gedanken hinterhersetzte. Sie zuckte erschrocken zusammen, als der Fremde plötzlich zu sprechen begann. „Die Achte im Bunde“, sagte er

mit sehr tiefer, respekteinflößender Stimme und ignorierte offenbar, welchen Schrecken er Reena gerade eingejagt hatte. Er setzte lediglich das sechskantige Glas an seine farblosen Lippen, um einen Schluck von der Flüssigkeit zu nehmen. Reena schluckte und bemerkte nun, dass rechts von ihr bereits sieben weitere Jugendliche auf Barhockern saßen, vier Mädchen und drei Jungen. Sie alle wirkten unruhig und nervös, ihnen allen schien die Situation nicht sonderlich zu behagen. „Setz’ dich bitte zu den anderen. Wir sind noch nicht vollzählig.“ Reena zögerte einen Augenblick, dann

ging sie zu den anderen hinüber und setzte sich ebenfalls auf einen der Hocker. Dann herrschte Stille. Keiner wagte, irgendetwas zu sagen, Reena traute sich nicht einmal, den anderen ins Gesicht zu sehen, daher kam es ihr sehr gelegen, als sich ein weiteres Portal öffnete und ein Mädchen in den Raum stolperte, das noch um einiges jünger zu sein schien als Reena. Reena schätzte die kleine Blonde, deren Haare auch gerade im Begriff waren, zunehmend aufzuhellen, auf allenfalls zehn Jahre. Bevor der Mann im Sessel das Wort an die Neue richten konnte, wie er es auch bei Reena getan hatte, öffnete sich hinter dem Mädchen erneut ein Portal

und ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren stolperte über das Mädchen und begrub es unter sich. Reena und die anderen blieben stumm, tauschten aber erstmals Blicke aus, dann sahen sie alle miteinander zu dem Mann im Sessel hinüber. Dieser jedoch ließ das Malheur gänzlich unkommentiert. „Nummer neun und zehn“, sagte er stattdessen. „Wenn ihr euch dann bitte zu den anderen setzen würdet …“ Der junge Mann kämpfte sich, peinlich berührt, eilig in die Höhe und half auch dem Mädchen beim Aufstehen und entschuldigte sich freundlich für das Unglück.

Das Mädchen nickte nur knapp und ging zu den anderen. Bald darauf waren auch die restlichen angehenden Schattenläufer anwesend. Unter ihnen waren inzwischen zwei sehr junge Mädchen, genauer gesagt Zwillinge, wie unschwer zu erkennen war. Die ältesten jungen Schattenläufer schätzte Reena auf etwa dreißig, ein Mann und eine Frau. Alle anderen schienen etwa in Reenas Alter zu sein. Doch Reena blieb keine weitere Zeit mehr, ihre neuen „Kameraden“ genauer in Augenschein zu nehmen, denn nun erhob sich der fremde Mann aus seinem blutroten Polstersessel und stellte das

Sechseckglas auf einem der runden Tische ab. „Nun, da wir jetzt alle versammelt sind, erlaubt mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Solitude, ich bin einer der acht ranghöchsten Schattenläufer und für die Neuzugänge unseres Bunds in diesem Quartal Lehrer und Prüfer.“ Seine langsamen, majestätischen Schritte vermittelten bereits eine gewisse Überlegenheit und große Autorität. Als Reena kurz in sein Gesicht sah, glaubte sie, in seinen Augen etwas Rotes aufblitzen zu sehen, doch lange wagte sie es nicht, ihn anzusehen. Jedoch war sie sich sicher, dass seine Iris rot gefärbt war, seine Augen hatten sich

verändert wie die von Rose. „Fünfzehn Schüler“, sprach der Mann, der den Namen Solitude trug, gemächlich weiter. „Nun, auch wenn ihr alle bereits das Zeichen der Schattenläufer auf eurem Körper tragt, auch wenn euer Blut bereits unserem Gott zum Geschenk gemacht wurde, lasst mich euch eines versichern – nicht alle von euch werden am Ende tatsächlich wahrhaftige Schattenläufer werden. Falls doch …“ Für einen Moment zierte seine leichenblassen Züge ein raubtierhaftes Grinsen. „Nun, falls doch, wäre es eine Überraschung.“ Er ging zu dem Jungen hinüber, der zuvor auf das Mädchen gefallen war.

„Nenne mir deinen Namen“, forderte Solitude ruhig. Der junge Mann blickte erschrocken auf, dann setzte er mit zittriger Stimme zu einer Antwort an, nein, sein ganzer Körper zitterte dabei. „L-Leon W-“ Er stockte, biss die Zähne zusammen. Schweiß trat auf seine Stirn. „Leon Will-“ Wieder brach er ab, seine Hände verkrampften sich und er senkte verzweifelt den Blick. Sein Zittern wurde unkontrollierter. Solitude verdrehte die Augen. „Nicht diesen Namen“, sagte er barsch. „Deinen richtigen!“ Leon zuckte zusammen und schluckte sichtbar. „S-Silver“, stotterte er nun.

„Silver“, wiederholte Solitude langsam, dann ging er weiter, zeigte auf den nächsten Jungen. „Knife“, antwortete dieser, einer der jungen Burschen in Reenas Alter mit weißwerdenden dunkelblonden Haaren und grauen Augen, über denen bereits unverkennbar ein schwarzer Schatten lag, so wie über ihrer aller Seelenspiegeln. Solitude nickte zufrieden und ging weiter. „Era“, sagte eines der beiden Zwillingsmädchen. „Fire“, sagte die etwa dreißigjährige Frau.

„Shade“, sagte das nächste Mädchen, eines von denen, das in Reenas Alter zu sein schien. Für einen Augenblick stoppte Solitude und musterte das brünette, schüchtern wirkende Mädchen eingehend. „Shade“, wiederholte er das Wort, als handle es sich dabei um etwas hochgradig Abstoßendes. „Ein selten einfallsloser Name. Sicherlich wirst du schon mindestens die hundertste sein, die diesen abgedroschenen Namen trägt.“ Mit diesen Worten ging er weiter und zeigte auf einen schlaksigen Jungen mit braunen Wuschelhaaren. „Jäger“, sagte dieser.

„Sky“, sagte der andere Zwilling. „Reena“, sagte Reena, als Solitude bei ihr angelangt war. Es folgten noch drei andere Mädchen, die von ihren Mentoren El, Flash und Lotus genannt worden waren, stille Gestalten wie Reena auch, mit von weißen Strähnen durchzogenem Haar, bei jeder von ihnen kurzgeschnitten. Die männlichen Anwärter trugen des weiteren die Namen Storm, Misery, Cloud und Isaac. „Diese Namen“, erhob Solitude nun wieder die Stimme, „werden von nun an bis in alle Zeit die euren sein. Diese Namen wurden euch gegeben, damit ihr

Schmerz und Trauer eures alten Lebens hinter euch lasst, um ein neues zu beginnen. Jedoch …“ Er machte eine Kunstpause und sah seine Schüler eindringlich an. „Jedoch ist das Leben eines Schattenläufers kein Geschenk. Ihr werdet hart dafür arbeiten müssen und die moralischen Grenzen eures alten Lebens hinter euch lassen. Und nicht alle von euch werden diese Ausbildung überleben. Meine Aufgabe ist es, euch zu allererst zu selektieren, um die wahren Schattenläufer unter euch von den Unwerten zu trennen. Danach folgt eure wahre Ausbildung, die ihr zusammen mit eurem Mentor meistern werdet.“ Wieder schwieg er für einen

kurzen Augenblick, als wollte er ihnen allen Zeit geben, die Informationen zu verarbeiten. Dann sprach er ungerührt weiter. „Ich will ehrlich zu euch sein. Es wäre eine Überraschung, wenn auch nur die Hälfte von euch bis ganz zum Schluss am Leben bliebe.“ Reena zuckte zusammen, als plötzlich einer ihrer Kameraden trotz der einschüchternden Stille die Stimme erhob. Reena glaubte, dass es der war, der den Namen Cloud trug. „Aber ich dachte, als Schattenläufer wären wir unsterblich“, sagte der Junge frei heraus. Solitudes kühler Blick traf ihn, schüchterte ihn aber nicht im Geringsten

ein. Schließlich ließ der Meister sich zu einer Antwort herab. „Das ist so nicht ganz richtig. Es besteht die Möglichkeit, von nun an sämtliche für Menschen lebensgefährliche Situationen lebend zu überstehen, doch nur bei etwa dreißig Prozent aller, an denen das Ritual vollzogen wurde, kommt es zu einer fast vollkommenen Unsterblichkeit.“ Er hob in einer stolzen Geste das Kinn. „Und darum kommen wir noch in der heutigen Nacht zur Selektion, damit die verbleibenden unter euch bald schon mit ihrem Training beginnen können. Seid ihr also bereit, eure Ausbildung zum Schattenläufer anzutreten?“ Gibt es denn einen anderen Weg für

mich?, fragte Reena sich stumm, doch dann erwiderte sie zusammen mit ihren Kommilitonen laut und deutlich „Jawohl, Meister Solitude!“ ~ (7. Mai 2018, 20:59 Uhr) Tick. Tack. Aufmerksam beobachtete Reena die Zeiger, die unaufhörlich weiterrückten. Gleich würde es neun Uhr sein. Die letzte Stunde einer einfachen Barbesitzerin würde schlagen. Reena hielt sich, im Schutz der Dunkelheit, in einer kleinen Gasse neben dem Lokal auf. Dieses sollte in

einer halben Stunde öffnen und Gäste empfangen. Doch dazu würde es nicht mehr kommen. Mit einer gewissen Entschlossenheit klappte Reena ihre Taschenuhr zu und stieß sich von der roten Backsteinmauer hinter sich ab, an der sie gelehnt hatte. Auf der Hauptstraße war noch viel los, Autos, Menschen. Eine Gruppe von Rauchern stand um die Ecke und Reena konnte trotz des Verkehrslärms ihre Stimmen hören, wie sie sich über ihre Universität und eine Party in der vergangenen Nacht unterhielten. Hier jedoch war es absolut dunkel und die Gasse war eng, niemand würde Reenas

mörderisches Treiben bemerken. Reena ging zur Rückseite der Bar und verschmolz mit der Wand, nutzte die Fenster, die nur als Lüftungsschlitz für die Toilettenräume fungierten. Dummerweise brannte in dem hell gefliesten Raum das Deckenlicht, eine Leuchtstoffröhre, darum musste Reena sogleich wieder aus dem Schatten kriechen und auf den Toilettensitz klettern. Dann öffnete sie die Kabinentür. Es blieben noch fünfundzwanzig Minuten. Grundsätzlich war das viel, doch sie musste an den Auftrag denken, bei dem Skall ihr unaufgefordert

dazwischengefunkt war. Es konnte immer etwas Unerwartetes geschehen. Reena sah den Schatten unter der Tür und spürte auch, dass er sich mit dem Schatten der Theke kreuzte. Genug Platz für sie, zumindest hoffte Reena, den Schatten richtig einzuschätzen. Und außerdem wusste sie nicht, ob dieser Schatten ihr wirklich nutzte. Sie hörte im Nebenraum Gläser klirren. Lindsey Arnold, fünfunddreißig Jahre alt. Ihre Seele für die Schattenläufer, für den Herrn. Reena holte noch einmal tief Luft, dann tauchte sie erneut in die Schatten ein, kroch unter der Tür hindurch, verharrte.

Wartete. Fasste die Situation ins Auge. Lindsey stand an der Bar, polierte die Gläser für die Drinks, die sie jeden Abend mischte. Abwarten. Reena blieben noch mehr als zwanzig Minuten. Schnell sein. Kein Aufsehen erregen. Dem Opfer keine Zeit geben, sich zu wehren. Der perfekte Moment. Lindsey zündete ein Teelicht an, ging an der Bar vorbei, zu den Tischen. Reena wartete. Dann, als Lindsey zu den Toiletten gehen wollte, kreuzten sich ihr Schatten

und der der Theke. Reena ergriff die Gelegenheit beim Schopfe und schlüpfte in den Schatten ihres Opfers. Ohne ihr Zutun wurde Reena vom Schatten mitgezogen, über die kalten Fliesen. Reena wartete. Lindsey puderte sich vor dem Spiegel die Wangen, überprüfte noch einmal die Kabinen und die zugehörigen Fenster. Dann ging sie zurück in die Lounge. Das war der Moment, in dem Reena zuschlug. Kaum dass sie aus dem Schatten aufgetaucht war, sprang sie auf Lindsey Arnold zu, die beiden silbernen Klingen am weichen Fleisch ihres Halses. Reenas Opfer hatte nicht einmal die Zeit, erschrocken die Luft

einzuziehen, geschweige denn, um Hilfe zu rufen oder zu schreien. Im nächsten Augenblick schwappte ein Schwall von Blut aus Lindseys Kehle und sie ging gurgelnd in die Knie, fiel leblos zur Seite. Ein Meer aus Rot verteilte sich um ihren Körper herum, immer größer wurde die Blutlache, tiefrot und glänzend. Reena steckte die – absolut unbefleckten – Klingen zurück in ihre Scheiden an ihrer Hüfte. Zufrieden betrachtete Reena den toten Körper, dann ging sie in die Knie und nahm ihren Seelenstein hervor, um Lindsey Arnolds Seele damit einzufangen. „Hast du das gesehen, Skall?“, fragte

Reena mit einem Lächeln in die Stille hinein. „Er nicht, aber ich“, antwortete ihr eine Männerstimme und Reena sprang erschrocken auf, beinahe wäre sie sogar in die Blutlache getreten, doch nur beinahe. Für einen Moment dachte sie, jemand hätte sie ertappt, für einen Augenblick hatte Reena geglaubt, es wäre alles vorbei. Wie erleichtert war sie da, als sie wohlbekanntes goldenes Haar und bleiche Augen sah, sowie Lederjacke und Weinglas. „Huw!“, rief sie halb erleichtert, halb ärgerlich aus. „Gottverdammt, du hast mich

erschreckt!“ „In deiner Situation würde sich wohl jeder erschrecken“, erwiderte Huw ungerührt und schwenkte sein Weinglas so, dass die Murmel unaufhörlich kreiste, so wie er es immer tat. „Was zum Teufel tust du hier? Warum bist du mir gefolgt?“, wollte Reena säuerlich wissen. „Ich tue und lasse, was ich will“, antwortete Reenas imaginärer Mitbewohner ruhig. „Übrigens, ist dir das eigentlich vollkommen egal?“, fragte er dann. Für einen Moment schwand der Ärger aus Reenas Gesicht und wich Verwunderung.

„Was?“ „Na, das da“, sagte Huw und deutete mit einem Nicken auf die langsam erkaltende Leiche. Reena verstand und ihr Blick wurde wieder ernst. „Es muss mir egal sein.“ Huw seufzte theatralisch. „Ein Jammer, dass du eine so kaltblütige Killerin bist. Und dabei hatte sie doch Kinder, wie du mal eines gewesen bist. Zwei Mädchen.“ Reena runzelte die Stirn. „Woher weißt du das?“, wollte sie misstrauisch wissen. „Niemand kann von meinen Aufträgen wissen, nur ich allein!“ Huw lachte trocken auf. „Das glaubst aber auch nur du.“ Er grinste. „Du führst Selbstgespräche, wenn du vor dem

Badezimmerspiegel stehst. Lindsey Arnold, fünfunddreißig Jahre alt, Barbesitzerin, Mutter von zwei Töchtern, sieben und neun Jahre alt.“ Reena knirschte mit den Zähnen. „Fein. Und jetzt beantworte meine Frage: Was willst du hier?“, wollte sie zutiefst verstimmt wissen, sodass ihre Stimme wie ein Knurren klang. „Das Bier war alle“, erklärte Huw achselzuckend. „Daher bin ich dir gefolgt. Eigentlich wollte ich ja, dass du mir auf dem Weg nach Hause was kaufst, aber das hier ist besser.“ In einem der Barschränke hatte er eine Flasche hochwertigen Rotweins gefunden.

„Stell’ die weg“, befahl Reena ihm zischend. „Es darf nichts gestohlen werden!“ „Ich stehle sie nicht“, sagte Huw. „Ich trinke einen gepflegten Schluck daraus und dann verschwinde ich wieder. Leise wie der Wind.“ Mit einem plopp entkorkte er die Flasche. Reena schloss die Augen und atmete tief ein und aus. „Also gut“, sagte sie schließlich, weil sie tief in ihrem Inneren wusste, dass sie ihrem eigensinnigen Mitbewohner nichts befehlen konnte. Stattdessen ging man mit ihm besser Kompromisse ein, in der Hoffnung, dass er sich daran hielt.

„Lass’ noch was drin und stell’ sie dann zurück. Und fall’ nicht auf.“ „Alles klar“, meinte Huw und grinste zufrieden. Reena sagte sich, dass man Huw ja sowieso nicht fassen konnte und dass es im Grunde nur darum ging, dass sie hier schnell wieder wegkam. Darum verschwand sie im Handumdrehen wieder auf demselben Weg, auf dem sie auch gekommen war. Und so gelangte sie wieder in ihre Wohnung, wo sie Jakob bereits schlafend vorfand. Reena seufzte. Ein Glück, die Albträume schienen heute einmal ihre schmutzigen Griffel

von ihrem kleinen Bruder zu lassen. Es würde gut sein, wenn Jakob endlich einmal ordentlich ausgeschlafen und weniger verstört zur Schule ginge, um dann den Alltag eines gewöhnlichen Jungen zu leben. Reena schluckte. Sieben Jahre war es schon her, fast acht. Jakob würde niemals völlig normal sein. Die Albtraumgestalten würden ihn verfolgen, auf ewig. Reena setzte sich auf die Bettkante und strich ihrem kleinen Bruder vorsichtig durchs Haar. „Es tut mir leid“, flüsterte sie leise in die Dunkelheit hinein. Behutsam gab sie Jakob einen Kuss auf die Stirn, dann stand sie auf und ging in

ihr eigenes Schlafzimmer, nein, in das Schlafzimmer ihrer Eltern, das immer noch genauso aussah wie früher. Müde rieb Reena sich die Augen. Dann zog sie sich die schwarze Kluft über den Kopf, löste ihren Zopf. Als Reena an sich hinunterblickte, sah sie aus dem Augenwinkel das weiße Zeichen der Schattenläufer, das knapp unterhalb ihres linken Schlüsselbeins für immer eingebrannt war, dazu bestimmt, niemals wieder gelöst zu werden. „Du weinst ja schon wieder.“ Reena sah erschrocken auf. „Huw!“, rief sie aus, mäßigte ihre Lautstärke jedoch rasch wieder. Im nächsten Augenblick war sie einfach nur froh, dass sie noch

ein graues Top und ihre Hose über ihrer Unterwäsche trug. „Himmel, was soll das heute?“, fragte sie nun. „Ich habe sogar angeklopft“, meinte Reenas Mitbewohner mit Unschuldsmiene. Reena griff nach ihrem Nachthemd, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie sich nicht weiter umziehen konnte. Auch wenn Huw vielleicht etwas Derartiges erwartete. Aber nicht mit ihr! Darum blieb sie mit dem weißen Stoff in der Hand stehen. „Du bist ja schon wieder da“, meinte sie nun beiläufig und knetete nervös ihr Nachthemd. „Zweieinhalb Weinflaschen schwerer, ja“, bestätigte Huw grinsend.

„Aha“, machte Reena, sie wusste, dass Huw nicht betrunken werden konnte. Immerhin etwas. „Also, was hast du auf dem Herzen, Liebes?“, fragte Huw nun und kam näher. „Was?“, fragte Reena überrascht. Huw deutete auf seine eigenen Wangen und Reena begriff. „Gar nichts“, erklärte sie schnell. „Gar nicht also“, wiederholte der Blonde ernst. „Hör’ mal, Liebes, ich bin ein Geist. Ich sehe die tiefen Wunden in deiner Seele, egal wie sehr du sie zu verstecken versuchst.“ „Meine Seele?“, fragte Reena kühl.

„Meine Seele habe ich vor acht Jahren gegen den Frieden eingetauscht.“ ~ (7. Mai 2018, 22:00 Uhr) „Das ist doch Unsinn, Ash!“, redete Saskia verzweifelt auf ihren besten Freund ein. „Du steigerst dich da doch bloß in etwas absolut Hirnrissiges hinein!“ Ash schüttelte nur den Kopf, während er das Passwort für seinen Laptop eingab. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Meister Lane etwas vor mir versteckt hält.“ „Aber warum sollte er das tun?“, fragte

Saskia. „Ash, wenn du irgendwelche Dummheiten machst …“ Saskia schüttelte nur den Kopf. „Wenn rauskommt, dass du den Goldenen Falken nicht länger zu einhundert Prozent loyal bist, werden sie dich rauswerfen! Oder … dich sogar für immer zum Schweigen bringen.“ Sie sah Ashley bittend an. Ash sah finster zurück. „Ich? Ich soll den Falken nicht mehr loyal sein?“ „Ash, das habe ich nicht gesagt …“ „Ich bin den Goldenen Falken sogar so loyal, dass ich bereit bin, mein Leben zu riskieren, um ein falsches Spiel in unseren eigenen Reihen aufzudecken! In genau diesem Augenblick, seitdem ich

mit dem Meister gesprochen, nein, seitdem ich ihm die Zähne gezeigt habe.“ Er begann, rasch zu tippen, ohne Saskia noch einmal anzusehen. „Ash, lass’ das!“, rief seine Freundin da plötzlich und klappte einfach den Laptop zu. „Au!“, rief Ash, als sie ihm damit die Finger einklemmte, jedoch mehr aus Überraschung als vor echtem Schmerz. Er sah Saskia verwundert an. „Was sollte das denn?“ „Als Angehörige der Goldenen Falken werde ich nicht zulassen, dass du dich irgendwo reinhackst“, erklärte seine Partnerin ernst und hielt den Laptop zu. Ashley sah sie mit großen Augen an.

„Hacken?“, echote er verwundert. „Mann Saskia, ich wollte doch nur ’ne Runde Packman spielen, um mir die Zeit zu vertreiben!“ Saskia blinzelte. „A-aber ich dachte … weil du das ja auch kannst …“ „Aber doch nicht mit Google!“, erwiderte Ashley fassungslos, dann begann er zu lachen. Saskia seufzte und fasste sich an den Kopf. „Okay. Und wofür willst du dir die Zeit vertreiben? Und wofür hast du mich um diese Uhrzeit überhaupt herbestellt?“ „Hab’ ich doch schon gesagt. Ich möchte, dass du mir hilfst“, erklärte Ash.

„Bei Packman?“, fragte Saskia müde. „Nein“, antwortete Ash gedehnt, während er erneut sein Passwort eingab. „Dabei, die Lüge um das Vermächtnis meines Vaters aufzudecken.“ „Fängst du schon wieder damit an?“ „Ich hab’ nie damit aufgehört.“ Saskia stöhnte theatralisch auf. „Bitte, Ash, ich bin zwar deine Freundin, aber auch ich bin ein Falke und habe keine Lust, das in nächster Zeit zu ändern.“ Ash sah seine Partnerin lange an. „Saskia, es ist wirklich vollkommen ungefährlich.“ Er zögerte. „Na ja, zumindest, was den Bund der Goldenen Falken angeht.“

Saskia runzelte die Stirn. „Was? Aber was hast du denn dann …“ „Das kann ich dir nicht sagen“, unterbrach Ash sie. „Glaub’ mir einfach. Ich brauche dich heute Nacht hier an meiner Seite. Bitte, Saskia.“ Saskia seufzte erneut schwer. „Ich soll also einfach hier bleiben.“ „Genau.“ „Und nichts tun.“ „Genau.“ „Und es wird keine Konsequenzen haben?“ „Nicht für dich.“ „Aber?“ „Ich werde mir holen, was der Goldene

Falke mir vorenthalten hat“, sagte Ash kämpferisch. „Ich hoffe, du weißt, was du tust“, meinte Saskia leise. „Ganz sicher.“ Eine Weile blieb es still zwischen den beiden Ermittlern, dann schaltete Ash die x-Box ein und drückte Saskia einen seiner Controller in die Hand. „Bleib’ aber immer wachsam“, mahnte er seine Freundin. „Ash“, sagte Saskia leise. „Was planst du? Was erwartet uns hier?“ „Das weiß ich selbst nicht so genau.“ Saskia seufzte noch einmal. „Bleib’ einfach nur wachsam“, wiederholte Ashley eindringlich.

Saskia zwang sich zu einem Lächeln, das schließlich aber doch noch ihre Augen erreichte. „Ich bin Mitglied der Goldenen Falken. Ich bin immer wachsam.“ „Gut.“ So vertrieben sie sich drei Stunden lang die Zeit und nichts geschah. „Ash“, sagte Saskia schließlich und ließ den Controller sinken. „Es ist schon spät. Was soll das hier? Sollten wir nicht vielleicht lieber schlafen gehen?“ Gerade, als sie diese Worte ausgesprochen hatte, nahmen Ash und Saskia plötzlich eine Bewegung hinter dem Sofa wahr. Zwei Hände näherten

sich Ashs Hals, in den Fingern eine spitze, scharfe Klinge, die nach seinem Blut dürstete. Doch Ash reagierte schnell und griff nach den Händen, bevor sie ihn erreichten, er berührte die Klinge und scharfes Metall schnitt in seine Handinnenflächen, doch der Schmerz schien ihn nur anzutreiben. Mit einem Ruck riss Ash seinen Angreifer nach vorne, sodass dieser vor ihm auf den Couchtisch krachte. Dabei gab die Gestalt keinen einzigen Laut von sich. Ash sprang auf, über die Lehne des Sofas, griff nach dem Katana, das dort an der Wand lehnte, schwang es nach dem schwarz vermummten Mann, der ihm

gefolgt war. Auch Saskia hatte der hinterhältigen Attacke entkommen können, hatte nun zwei Pistolen gezogen und schoss auf ihren Angreifer. Bereits der erste Schuss war ein makelloser Treffer, das Blei bohrte sich durch den Kopf der Gestalt, hinterließ ein schwarzes Loch in der Stirn. Doch zu ihrem Erschrecken zeigte sich das Wesen davon völlig unbeeindruckt und verschwand einfach rückwärts in der Wand, im Schatten, den es aufgrund der fehlenden Lichtquellen in Ashs Wohnzimmer zu Hauf gab. Erschrocken keuchte Saskia auf und wich zurück, die Pistolen noch immer

erhoben. In diesem Moment war auch Ashs Gegner auf die gleiche Weise verschwunden. „Magie“, sagte Ashley nur. „Sind sie noch hier?“, wollte Saskia wissen. „Mit Sicherheit.“ Langsam wandte er sich zu seiner Freundin um. Diese riss im nächsten Moment entsetzt die Augen auf. „Hinter dir!“, schrie sie und schoss auch auf den Mann, der hinter Ash wieder aus dem Schatten gestiegen war, doch wieder zeigten die Kugeln keine Wirkung, auch ein Kopftreffer stoppte die Gestalt nicht. Ash wirbelte herum und hieb dem

Angreifer die ausgestreckte Hand samt Messer ab. Nun hielt der Mann inne, wich zurück und versank abermals im Schatten. Ashley erlaubte es sich, die Augen zu schließen, um mit seinem gut trainierten Geist zu prüfen, ob sie noch da waren. Er spürte ihre unheimlichen Präsenzen nur zu deutlich. Auch bemerkte er, wie sie sich allmählich entfernten, sich zurückzogen. „Sie sind fort“, meinte Ash und schlug die Augen wieder auf. „Was waren das für Gestalten?“, fragte Saskia bebend, den Zeigefinger noch immer am Abzug ihrer Waffen, jedoch ließ sie sie nun sinken.

Ash erwiderte nichts, kniete sich stattdessen hin und hob den abgetrennten Unterarm auf. „Was zum … Sieh dir das an“, sagte Ash und hielt Saskia das tote Körperteil hin. „Das …“ Die junge Frau runzelte die Stirn. „Kein Blut“, stellte sie dann knapp fest und sah Ash fragend an. „Das ist doch völlig unmöglich“, meinte sie. „Offenbar nicht“, entgegnete Ash nachdenklich. Er hob auch die Klingen auf, die der Angreifer zusammen mit seinem Arm verloren hatte. Sie waren merkwürdig, aber raffiniert geschmiedet, lange, pyramidenförmige Klingen, Gebilde mit tödlicher Spitze

und vier scharfen Kanten. Ash sah Saskia an. „Und? Glaubst du mir jetzt?“, fragte er. Saskias Augen wurden groß. „Das war dein Plan?“ „Ich wusste nicht, was genau passieren würde.“ „Du hättest mich trotzdem warnen können.“ „Das habe ich doch.“ Saskia schnaubte. „Also, was denkst du?“, fragte Ash nun und richtete sich wieder auf, den blutleeren Arm in der einen und die beiden Dolche in der anderen Hand. Saskia zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich.

Auftragsmörder?“ „Vermutlich.“ „Aber warum?“ „Weil ich meine Klappe zu weit aufgerissen habe“, entgegnete Ash. „Irgendwie wusste ich, dass es mal so weit kommen würde.“ Saskia seufzte. „Und was haben wir jetzt nach deiner selbstmörderischen Aktion erfahren?“ „Zwei Dinge“, sagte Ash. „Erstens wissen wir jetzt, wie all diese Leute gestorben sind …“ Ashs Freundin sah ihn ungläubig an. „Du meinst … die …?“ „Richtig. Und zweitens wissen wir, dass Richard Lane da seine Griffel mit drin

hat.“

Fünftes Kapitel

(10. August 2011, 00:00 Uhr) „Ich wiederhole mich noch einmal“, sagte Solitude, während er im Boden ein Portal öffnete, ein einfaches Loch, keine Tür. „Das hier ist kein Unterricht. Das ist Selektion.“ Er hob den Blick. „Nur die besten von euch haben es auch wirklich verdient, das Zeichen der Schattenläufer zu tragen und unvergänglich zu sein.“ Mit diesen Worten bedeutete er dem Jungen, der den Namen Knife trug, durch das Portal zu gehen. Knife zögerte nicht lange, hockte sich jedoch erst an den Rand des Lochs, hielt

sich mit beiden Händen fest und ließ sich dann in den nächsten Raum gleiten, wo er bemerkte, dass er auf einer Treppe aufkam. Erst als er sich sicher war, fest zu stehen, ließ er los und verschwand gänzlich auf der anderen Seite des magischen Tors. Solitude nickte anerkennend. „Entschlossen. Umsichtig. Ein guter Mann“, sagte er. Reena sah ihn an, seine Gestalt faszinierte sie, doch als er ihren Blick erwiderte, wandte sie ihren eilig ab, wie ein scheues Schulmädchen. Es war unmöglich, länger als wenige Sekunden in sein leichenblasses, die meiste Zeit über vollkommen starres Gesicht zu

blicken. Vor allem dann, wenn sich seine farblosen Lippen bewegten und er emotionslose, kalte Worte sprach. Reena stieg nach der Frau namens Fire durch das Portal und fand sich auf einer kurzen steinernen Treppe wieder, die kein Geländer benötigte. Sie war Teil eines mit Pflastersteinen gelegten Weges, der in dichtes Schilfgras führte. Schilfgras? Ja … vor Reena lag ein großer, bleigrauer See, zu dem eben dieser steinerne Pfad führte. Über ihr schwebte noch immer das Portal und sie trat eilig einen Schritt zurück, als sie beinahe den Fuß von einem ihrer Kameraden ins Gesicht bekam.

Era landete vor ihr auf dem Boden und blieb ebenso staunend stehen wie Reena eben. Dann blickte sie kurz über ihre Schulter und folgte dem Pfad, der zum Ufer des Sees führte, wo sich schon Knife, Fire, Cloud und einige weitere aufhielten. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte Reena. Die Luft stand. Nicht ein einziger Lufthauch ging. Selbst für Windstille war das zu still. Vor ihnen nur spiegelglattes graues Wasser, irgendwo in der Ferne ein Ufer. Schilfgras, ja, doch keine Tiere. Enten oder Gänse oder Insekten. Es war wie ausgestorben.

Trugbilder?, fragte Reena sich, während sie zu Fire aufschloss. Konnte all dies unter Umständen nur eine Illusion sein? Wie mächtig musste man sein, um solche täuschend echten Umgebungen erschaffen zu können? Sie sah zu Solitude, der seinen Schülern gefolgt war. Wie mächtig mussten diese mächtigsten Schattenläufer sein? Reena blickte über ihre Schulter, auf den See. Was würde sie hier wohl erwarten? Wozu das alles? Selektion, hatte Solitude gesagt. Was bedeutete das? „Reena, richtig?“, fragte plötzlich eine junge Mädchenstimme direkt neben ihr.

Reena sah überrascht in das Gesicht von einem der Zwillinge. Das Mädchen war wirklich sehr viel kleiner als sie. „J-ja“, stotterte Reena nun. „Und du bist …?“ „Era“, antwortete die Blonde freundlich. „Wir sollten einander kennen, schließlich sind wir ja jetzt so etwas wie Kameraden, nicht wahr?“, fragte sie und lächelte sogar. „Vermutlich“, stimmte Reena ihr ein wenig verdutzt zu. „Es wird sich zeigen, wie lange noch“, warf Cloud ungefragt ein. Reena sah den jungen Schattenläufer nachdenklich an und nickte dann aus einer Eingebung heraus einfach schlicht,

um ihm zu bedeuten, dass sie ihn verstanden hatte. Cloud war wie Knife ein sportlicher Junge, hatte hellbraunes kurzes Haar und intensiv grüne Augen. Sein kühler Einwurf schien für ihn nicht wirklich eine Bedeutung zu haben, er vergrub seine Hände in den Hosentaschen und ließ den Blick über das Wasser schweifen. Weiterhin sah Reena zu Knife und Fire hinüber, die nebeneinanderstanden, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Es war schon verrückt. Von einem Moment auf den anderen waren sie Kameraden geworden, und sie nahmen es hin, ohne

Fragen. Brennend hätte es Reena interessiert, wie es dazu gekommen war, dass der stille Knife, der vorlaute Cloud, der schüchterne Silver und die beiden blonden Zwillingsmädchen Schattenläufer geworden waren, doch sie schwieg. Sie alle hatten ihre Vergangenheit hinter sich gelassen. Alles, was nun zählte, war die Zukunft. „Eure erste Prüfung“, begann Solitude nun ohne Umschweife. Er deutete auf das spiegelglatte Wasser. „Dort, in etwa zwanzig Metern Tiefe, gibt es drei Höhlen. Sie alle führen zum anderen Ufer. Jeweils drei von euch werden durch

diese Höhlen schwimmen.“ Es folgte Stille. „Mehr nicht?“, wollte Isaac verwundert wissen. Solitudes Blick war kalt wie immer und noch dazu schien er über diese dümmliche Nachfrage nicht sonderlich erfreut. „Überlebt“, sagte er nur mit harter Stimme. „Ich kann nicht besonders gut schwimmen“, hörte Reena Era leise wispern. Ihre Schwester erwiderte darauf nichts, Skys Blick war kalt wie Eis. „Ich werde am anderen Ufer auf euch warten“, sagte Solitude nun. „Auf mein Signal hin beginnt ihr die Prüfung. Ich

wünsche euch allen viel Erfolg.“ Mit diesen Worten öffnete er ein Portal, trat hindurch und verschwand vor den Augen seiner Schüler. Die Gruppe junger Schattenläufer blieb allein am Ufer zurück, ein wenig unsicher, untereinander tauschten sie ratlose und dennoch kühle Blicke. „Nun denn“, brach Cloud schließlich das Schweigen und nahm in einer übertrieben gelangweilten Geste die Hände aus den Hosentaschen. „Möge der Beste gewinnen.“ „Es scheint mir kein Wettkampf zu sein“, wandte Lotus, eine sehr klein gewachsene Teenagerin mit rot gefärbten Haaren, zaghaft ein.

„Und ob“, entgegnete Fire mit verschränkten Armen. „Ein Wettkampf mit dem Tod.“ „Wir sollen also nur tauchen?“, wollte Era leise wissen. „Bis zum anderen Ufer?“ Knife nickte. „Ist doch klar.“ „Aber das ist doch vollkommen unmöglich“, meinte das Mädchen verzweifelt. „Hey, das ist doch kein Grund zum Weinen“, sagte der Junge, der Jäger hieß, da, grinste die kleine Blonde breit an und klopfte sich aufs Schlüsselbein, wo sich das Zeichen der Schattenläufer befand. „Hast du etwa vergessen, dass

wir jetzt nicht mehr sterben können?“ „Dummkopf“, giftete Flash den Jungen sogleich an. „Natürlich können wir noch sterben. Sonst müssten wir doch so etwas nicht machen.“ In diesem Augenblick deutete El auf das Wasser. „Da!“, sagte sie. Mehrere kleine Wellen schwappten zu ihnen ans Ufer. Noch immer ging kein Wind. „Das Signal?“, fragte Lotus verwundert. „Wahrscheinlich“, sagte Fire. „Wer von uns schwimmt als erstes?“, wollte Era vorsichtig wissen und sah die anderen an. „Also, wenn ihr nicht wollt, gehe ich“, sagte Cloud und watete, wie er war, ins

Wasser hinein. „Ich auch“, schloss Storm, der bisher stets geschwiegen hatte, sich an. Auch Sky, Eras Zwillingsschwester, die ebenfalls stumm geblieben war, setzte sich in Bewegung und folgte ihren beiden Kameraden. Bald darauf tauchten alle drei Prüflinge unter und verschwanden unter der bleigrauen Wasseroberfläche, ihre schwarzen Schatten verloren sich bald in der Tiefe des Sees. Fire ließ sich kurzerhand ins Gras sinken. „Jetzt heißt es wohl warten“, meinte sie, kramte eine Schachtel Zigaretten hervor und zündete sich eine davon an.

Die anderen taten es ihr gleich und setzten sich ebenfalls auf den Boden, nur Era blieb am Ufer stehen und blickte ihrer Schwester hinterher, zum anderen Ufer. Reena saß einfach nur da und schwieg, wie die anderen auch. Die Zeit verstrich beinahe quälend langsam. Schließlich, nach einer unendlichen Viertelstunde, rollten die nächsten sanften Wellen ans Ufer und ließen die Schüler aufsehen. „Sie sind durch“, sagte Lotus und rappelte sich auf, sie lächelte sogar dabei. „Willst du jetzt?“, fragte El ihre

Kameradin. „Ja, ich bin sicher, dass ich das schaffe“, meinte die Rothaarige entschlossen und trat ans Wasser, wo sie dann stehenblieb und sich nochmals umdrehte. „Wer kommt mit mir?“ Da stand Reena auf und gesellte sich zu Lotus. „Viel Glück“, sagte Reena knapp, weil sie unbedingt etwas sagen wollte, was jedoch auch nicht zu viel Gewicht hatte. Auch Knife und Shade erhoben sich zugleich, und das Mädchen hielt zögerlich inne. „W-willst du zuerst?“, fragte sie den Älteren dann scheu. Der Blonde lächelte sie offen an. „Nein, nein. Geh’ nur.“

Shade erwiderte das Lächeln vorsichtig, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Geh’ du. Ich … ich habe es nicht so eilig“, stammelte sie verlegen. Knife lachte, dann nickte er. „Okay. Viel Glück dir nachher.“ Kaum dass Knife bei ihnen war, wagten die drei Schattenläufer sich in tiefere Gewässer vor. Reena spürte kaum die Nässe, geschweige denn die Kälte. Als das Wasser ihr bis zur Brust reichte, holte sie tief Luft und tauchte, zusammen mit Knife und Lotus, unter. Das Wasser war klar und wurde immer tiefer. Vor sich konnte Reena die Felsen erkennen, wo auch die von Solitude

erwähnten Höhlen liegen mussten. Zu diesen Höhlen tauchten die drei jungen Schattenläufer nun. Reena war immer eine recht gute Schwimmerin gewesen, doch natürlich stellte Knife sich dabei viel geschickter an, als hätte er Erfahrung. Als Reena den Eingang der rechten Höhle erreichte, spürte sie bereits schmerzhaft den Druck des Wassers auf ihren Ohren, auf ihrem ganzen Kopf. Die Höhle war dunkel, beinahe schwarz, ein seelenloser Abgrund, in den sie sich nun ohne Zögern hineinwagte. Doch schnell stellte sie fest, wie eng diese Unterwasserhöhle war. Reenas Ellenbogen schrammten am

scharfkantigen Stein entlang. Reena hielt inne, blickte über ihre Schulter zurück, sah das Licht, das sie hinter sich gelassen hatte. Die Luft ging ihr jetzt schon aus, ihre Lungen brannten. Was tue ich hier?, schoss es Reena durch den Kopf. Eine Luftblase entwich ihrem Mund, verlor sich im schwarzen Wasser. Werde ich so sterben?, fragte Reena sich. Ihre Lungen verlangten nach Luft, doch der nächste Atemzug, den Reena im Affekt tat, brachte nur kaltes Wasser in ihre Atemwege. Kämpfen, dachte Reena verzweifelt. Ich muss kämpfen. Jakob wartet zu Hause

auf mich. Er ist doch noch ein Kleinkind, er braucht mich! Obwohl sie sich bereits schrecklich taub und der tödlichen Ohnmacht nahe fühlte, machte sie mit aller Kraft den nächsten Schwimmzug, dabei stieß sie sich den Ellenbogen an einer scharfen Kante und riss sich dabei den schwarzen Pullover auf, der sich mit Wasser vollgesogen hatte und sie schwer nach unten zog. Es ist noch nicht vorbei, dachte sie kämpferisch. Jakob … Skall! Mir ist Unsterblichkeit versprochen worden, Unvergänglichkeit, im Tausch für meine Seele und tausend andere … ich kann hier noch nicht sterben! Ich bin … eine

Schattenläuferin! Unter ihren Händen spürte sie das raue Gestein, wie eine Ertrinkende, die sie ja auch war, klammerte sie sich daran fest, zog sich daran weiter, zum Ende des Tunnels hin, dorthin, wo das falsche Sonnenlicht auf sie wartete, wo sie rettende Luft finden würde. Das ist unmöglich, dachte sie, während sie unter Wasser hustete und nur neues Wasser einatmete, und ihr Husten war so kraftlos, dass sie sich dazu zwang, nicht länger den erbärmlichen Reflexen ihrer sterblichen Hülle zu gehorchen. Dann zog sie sich weiter über den rauen Stein, riss sich ihr linkes Knie dabei auf, schrammte erneut über spitze

Felskanten, doch alles was zählte, war das Licht am Ende des Tunnels. Ich schaffe das, dachte sie und kämpfte weiter gegen den Würgereiz und die Schwäche an. Weiter, nur weiter … Endlich endeten die Steinwände und Reena stieß sich mit letzter Kraft vom Boden ab, schwamm zur Oberfläche. Sie spürte, wie der Druck rasant schwand und es schmerzte. Als ihr Kopf durch die Wasseroberfläche brach, schnappte sie verzweifelt nach Luft, doch sie brachte keinen Atemzug zustande, ihre Lungen waren gefüllt mit kaltem Seewasser. Da setzten ihre Reflexe wieder ein und sie erbrach einen Schwall

von Wasser, hustete. Es brannte, schmerzte noch mehr. Kurz tauchte Reenas Kopf wieder unter Wasser, weil ihr die Kraft fehlte, sich oben zu halten. Schließlich kämpfte sie sich erneut nach oben und holte nun endlich Luft. Selten war die Luft ihr kostbarer vorgekommen. Sie schwamm, immer wieder Wasser schluckend, hustend und vollkommen kraftlos, zum Ufer, sie schwamm Zug für Zug, bis sie endlich Kiesel und Sand unter ihren Händen fühlte. Erschöpft blieb sie dort, mit einer Hälfte ihres Gesichts im Wasser, liegen, rang nach Luft. „Gut gemacht“, erklang da eine

eindringliche, kalte Stimme und Reena hob den Blick. Solitude stand vor ihr und hielt ihr seine weiße Hand hin. Reena zögerte einen Moment, dann ergriff sie die dargebotene Hand und ließ sich aufhelfen, wobei sie das Gefühl hatte, nicht mehr zu sein als ein nasser Mehlsack. Doch was Solitude von ihr dachte, war ihr im Augenblick reichlich egal. Auf wackligen Beinen stakste sie hinauf zur Wiese, wo Knife bereits im Gras saß und ihr knapp zulächelte. Auch Cloud, Storm und Sky, die vor Reena geschwommen waren, schienen wohlauf. Reena ließ sich neben Knife zu Boden

fallen. „Das ist ja ekelhaft“, keuchte sie dann und sah zu dem Jungen neben sich auf. „Wie machst du das? Du warst schneller als ich.“ Knife lächelte erneut. „Na ja, ich hab sowas schon öfter gemacht. Höhlentauchen.“ „Aber keine fünfzehn Minuten lang“, sagte Reena. „Nein, das nicht. Und nur mit Sauerstoff.“ Knife zuckte die Achseln. In diesem Augenblick tauchte Lotus aus dem Wasser auf, ebenfalls prustend und Wasser spuckend, jedoch hatte Reena den Eindruck, dass die Rothaarige nicht halb so erledigt war sie sie selbst. Auch die Kraulzüge, die das Mädchen machte,

wirkten noch kraftvoll. „Nicht dein Tag, was?“, fragte Knife freundlich grinsend. „Was?“, fragte Lotus, die nun zu ihnen stieß. Knife stieß Reena an. „Reena kommt sich verarscht vor, weil sie so fertig ist.“ Lotus lächelte und setzte sich neben die anderen beiden. „Musst du nicht. Ich bin …“ Ihr Blick verdunkelte sich. „Ich meine, ich war mal Leistungsschwimmerin.“ Reena schluckte. „Verstehe.“ Die Vergangenheit liegt hinter uns, wiederholte sie in ihrem Kopf. Solitude gab das Zeichen für die nächste

Runde und es verging kaum eine Viertelstunde, da tauchte Jäger aus dem Wasser auf, schüttelte seine Haare aus und grinste sie alle breit an. „Das ist ja so cool!“, rief er aus und machte einen Freudensprung. Dafür hätte ich nicht mal jetzt noch die Energie, dachte Reena müde. Kurz darauf folgte auch Isaac, doch er schaffte es kaum ans Ufer. Auch er spuckte Wasser, tauchte wieder unter, schluckte Wasser, hustete, brachte kaum einen Atemzug zustande. Reenas Hände verkrampften sich, als sie das sah. Sie wusste, was er durchmachte. Schließlich stieg Solitude ins Wasser, bis

es ihm zur Hüfte reichte, und packte Isaacs Arm, um ihn zu sich an Land zu ziehen. „Du hast Glück gehabt“, sagte er kühl. Reena blickte mitleidig zu dem dunkelhaarigen Jungen, der sich nun, wie sie selbst zuvor auch, schwer ins Gras fallen ließ und heftig nach Luft rang. „Da fehlt noch jemand“, sagte Knife da und Reena hob den Blick. „Ja“, sagte Lotus verwundert. „Normalerweise dauert eine Runde etwa fünfzehn Minuten, oder? Ich glaube, diese Zeit ist schon lange überschritten“, stellte sie fest. Knife sah zu Isaac. „Ja, und seht euch

mal den armen Kerl da an.“ Jäger, der ihren Wortwechsel mit angehört hatte, sah auf den See hinaus. „Diese … Shade … ist mit uns geschwommen“, sagte er verwundert. „Vielleicht hat sie ja wieder gekniffen?“ „Ohne meine Einwilligung kneift keiner“, fuhr Solitude ihnen scharf dazwischen und sie alle zuckten ausnahmslos zusammen. Dann fiel der Blick ihres Meisters auf Knife. „Du da“, sagte er. „Du wirst deine Kameradin suchen gehen.“ Knife zögerte nicht lange, er nickte nur und erhob sich, ging zum Ufer hinunter, watete ins Wasser und tauchte dann mit einem schwungvollen Hechtsprung unter.

Er ist zur selben Zeit getaucht wie ich, dachte Reena verwundert. Und doch bringt er noch immer so viel Kraft auf? Ich bin wirklich eine erbärmliche Schattenläuferin … „Meinst du, es ist alles in Ordnung?“, fragte Lotus da leise. Reena blickte verwundert auf. „Ähm … na, ich hoffe doch“, sagte sie dann. Lotus nickte. „Es ist echt hart. Aber wenn man sich konzentriert, kann man es schaffen.“ Reena nickte ebenfalls und legte ihr Kinn dann wieder auf ihren angezogenen Knien auf. Es verging einige Zeit, bis Knife wieder

auftauchte, Shade im Schlepptau. Er zog sie mit sich in die Nähe des Ufers, wo er sich dann ihren Körper über die Schulter warf. Solitude kam ihm entgegen und nahm Knife den erschlafften Frauenkörper ab. Während Knife also ins Trockene ging und dort mit vor der Brust verschränkten Armen stehenblieb, legte Solitude eine Hand auf Shades Stirn und schloss die Augen. Schließlich schüttelte er den Kopf und legte Shade auf dem Trockenen ab. „Nun, zumindest die Sache mit ihrem Namen hat sich nun erledigt“, kommentierte er den grausamen Tod seiner Schülerin kühl. Reena sah zu Shade hinüber. Sie sah aus,

wie Reena sie kennengelernt hatte, bleich und mit von weiß durchzogenen, brünetten Haaren, die sich sanft zu niedlichen Locken kräuselten, in der gleichen schwarzen Kluft wie sie alle. Es war schwer zu verstehen, dass Shade es trotz dem Siegel der Schattenläufer nicht geschafft hatte, den Tod zu besiegen. Shade war in einem der unterirdischen Tunnel ertrunken. Solitude stellte sich erneut ans Ufer und ließ mit einer einfachen Handbewegung das Wasser aufsteigen, formte es zu einer Welle, die er dann über den weiten See schickte, um so den nächsten Auszubildenden das Signal zu geben.

Erneut vergingen etwa fünfzehn Minuten, bis El auftauchte, müde, aber lächelnd. Auch hustete sie ohne Probleme das eingeatmete Wasser aus und atmete frische Luft ein. Wahnsinn, dachte Reena bei sich. Und auch Misery schien die Viertelstunde ohne Luft nicht viel ausgemacht zu haben. Lediglich Fire hustete sich ebenfalls fast die Lunge aus, als sie wieder auftauchte, aber auch sie hatte genug Kraft, um selbstständig ans Ufer zu gelangen. Als sie bei ihren Kameraden ankam, hustete sie noch immer.

„Alles in Ordnung?“, wollte Knife ein wenig besorgt wissen. „Ach, das ist nur die Raucherlunge“, winkte Fire ab. „Ich hoffe, dass diese dir nicht im Wege stehen wird“, mischte Solitude sich kalt ein. Fire sah über ihre Schulter zurück. „Juckt doch keinen, wenn ich krepiere, oder?“, fragte sie dann überraschend forsch. „Übrigens, kann ich eigentlich noch an Lungenkrebs sterben?“ Solitudes Augen wurden zu schmalen Schlitzen und eigentlich rechnete keiner von ihnen mit einer ernsthaften Antwort, doch tatsächlich setzte er zu einer an.

„Das kommt ganz darauf an, ob du im fortgeschrittenem Stadium auch vollständig auf deine Lunge verzichten kannst.“ Er machte eine beinahe beiläufige Bewegung, um die nächste Welle zu seinen noch wartenden Schülern zu schicken, ohne Fire dabei aus den Augen zu lassen, die nun ihre vollkommen durchweichten Zigaretten zutage gefördert hatte. „Um auf deine erste Frage zurückzukommen“, meinte Solitude nun, „Solltest du noch während deiner Ausbildung das Zeitliche segnen, juckt es tatsächlich keinen, jedoch solltest du es vermeiden, während eines Auftrags zu sterben. Die toten Körper von unseresgleichen dürfen von keinem

Sterblichen jemals gefunden werden. Dasselbe gilt übrigens für die Abfälle, die du hinterlässt.“ Fire stieß hart die Luft aus ihren gequälten Lungen. „Sie kann man echt nicht aus der Ruhe bringen, was?“, fragte sie dann und ließ ihr ebenfalls kaputtes Feuerzeug klicken. „Ganz recht“, erwiderte Solitude und wandte sich wieder dem See zu. Als nächstes stiegen Era und Flash aus dem Wasser, beide entkräftet, aber lebendig. Kaum dass Era jedoch wieder zu Atem gekommen war, machte sie einen Luftsprung. „Hast du das gesehen?“, fragte sie ihre Schwester. „Ich hab’s

geschafft! Zwischendrin dachte ich, ich würde sterben, aber ich habe es geschafft! Ist das denn zu glauben?“ Sie strahlte bis über beide Ohren und die Sommersprossen, die ihr Gesicht zierten, schienen zu leuchten. Sky sah ihre Schwester ruhig an, dann nickte sie knapp und sah wieder zu Boden. Und dann blieb es eine ganze Weile ruhig. Solitude sah die beiden Mädchen an, die zuletzt zu ihnen gestoßen waren. „Einer fehlt noch. Wer ist mit euch geschwommen?“, verlangte er herrisch zu erfahren. „Ähm“, stammelte Era erschrocken.

„Dieser Silver, Meister.“ Solitude schloss kurz die Augen, als müsste er erst einmal tief durchatmen. „Nun, das ist wohl keine besonders große Überraschung. Wie enttäuschend.“ Er sah über seine Schulter. „Einer von euch wird ihn holen gehen“, wies er seine Schüler an. „Alles klar“, sagte Knife sofort und erhob sich nun schon zum zweiten Mal, um nun schon zum dritten Mal ins Wasser zu hechten und wie ein Blitz zum Grund des Sees zu schwimmen. Solitude nickte anerkennend. „Wie ich bereits sagte. Ein guter Mann.“ Reena musste ihrem Meister da insgeheim zustimmen. Knife schien voll

unerschöpflicher Energie zu stecken und zugleich war er … anders als die anderen. Sie selbst hätte es wohl noch immer nicht geschafft, einen toten Körper aus dem Wasser zu fischen, der möglicherweise schwerer war als ihr eigener. Als Knife zurückkehrte, trug er auch Silver wie zuvor Shade an Land. „Tja“, sagte der Junge da und ließ den weißblonden jungen Kerl zu Boden sinken. „Das war wohl zu viel für ihn.“ Reena schluckte. Zwei Tote? Bereits in der ersten Runde? Solitude ließ sich neben Silver auf die Knie sinken und stutzte. Dann legte er

ihm eine Hand auf die Stirn. „Nun, vielleicht erleben wir heute ja doch noch ein Wunder“, sagte er, holte aus und schlug Silver mit der Handkante kräftig auf den Brustkorb. Reena zuckte zusammen, als Silver in die Höhe schoss und einen Schwall Wasser erbrach. „Nun, das könnte vielleicht sogar noch unterhaltsam werden mit dir“, sagte Solitude, der noch immer neben dem armen Jungen hockte. „Vielleicht bist du ja doch mehr als nur ein winselnder Schwächling.“ Er stand wieder auf. „Oder du hattest Glück.“ Reena wandte den Blick ab und bemerkte dabei den toten, kalten Körper

von Shade. ~ (7. Mai 2018, 23:00 Uhr) Am Abend war es Lotus, die Reena ins Hauptquartier der Schattenläufer einließ. „Ich habe eine Seele abzugeben“, sagte Reena zu ihrer alten Freundin und legte ihr den schwarzen, mit der Seele von Lindsey Arnold vollgesogenen Seelenstein auf den Tresen. Lotus nickte und notierte sich etwas auf einem Zettel. „Gut.“ Die Schattenläuferin sah auf und lächelte. „Du bist sehr fleißig, Reena. Skall muss

stolz sein auf dich.“ Reena senkte rasch den Blick. „Er hat noch fünf weiteren Schattenläufern einen neuen Namen gegeben. Ich bin nichts besonderes“, erklärte sie knapp. Lotus zuckte mit den Schultern und nahm den Seelenstein an sich. „Wie du meinst.“ Sie hob die Hand und winkte einen jungen Schattenläufer herbei, der gerade eine Kiste trug, die, wie Reena vermutete, mit Seelensteinen gefüllt war. „Hier“, sagte Lotus und warf auch Lindsey Arnolds Seele zu den anderen. Es klackte, als Stein auf Stein traf. Der Schattenläufer nickte und eilte dann weiter. Reena sah ihm noch kurz hinterher. Auch

sie hatte einmal diese Arbeit verrichtet, die gefüllten Seelensteine gesammelt, sortiert und anschließend zu ihrem Herrn gebracht und sie ihm dargeboten. Im Grunde war es ein Gespräch mit einem Abgrund, mehr nicht. Lotus und Reena sahen auf, als plötzlich Stimmen laut wurden, eine Seltenheit im Hauptquartier. Eigentlich war das hier ein Ort absoluter Stille, schließlich verschluckte der trügerische Boden sogar Schritte. Lärm bedeutete demnach selten etwas Gutes. „Noch nie habe ich so etwas Unfähiges gesehen wie dich, Cloud!“, keifte eine exzentrische Männerstimme. „Du bist und bleibst eine Schande für alle

Schattenläufer!“ Reena und Lotus tauschten einen knappen Blick. Cloud und sein Mentor Secrecy. Reena wusste, dass zwischen diesen beiden häufig die Fetzen flogen, eigentlich wusste das jeder, es war ein offenes Geheimnis, über das keiner sprach. Cloud war für einen Schattenläufer ungewöhnlich lebhaft und wild, auch ein wenig unüberlegt und vor allem spontan. Das alles glich er nur durch seine Flinkheit und sein Geschick aus, doch Secrecy schätzte seinen Schüler dennoch wenig. Dass es jedoch vor aller Augen zu einer

Auseinandersetzung kam, hatte Reena bisher noch nicht erlebt, darum blieb sie, neugierig geworden, vor dem Tresen stehen. Wie Solitude gehörte Secrecy zu den acht mächtigsten Schattenläufern der Welt, er war, wie die anderen auch, bereits mehr als einhundert Jahre alt und einer der erfolgreichsten Schattenmörder überhaupt, er hatte seinem Herrn schon mehr als tausend Seelen dargebracht. Kein Wunder also, dass Secrecy auch hohe Ansprüche an seine Schüler stellte. Und heute schien Cloud diese Ansprüche besonders schwer enttäuscht zu haben. Beinahe tat er Reena leid, wie er dastand, geknickt, mit gesenktem Kopf,

demütig wie ein geprügelter Hund. So hatte Reena ihren Kameraden noch nie gesehen. Mit einem Mal war Reena froh, dass sie selbst den zwar wortkargen, aber doch immer recht freundlichen Skall zum Mentor hatte. Secrecy benahm sich wie ein Sklaventreiber. „Sieh nur“, wisperte Lotus da plötzlich. Verwundert blickte Reena über ihre Schulter, doch Lotus zeigte an ihr vorbei auf Cloud. „Sein Arm.“ Reena runzelte die Stirn, als sie bemerkte, dass Cloud knapp unter der Ellenbeuge der Unterarm fehlte. Es war ein glatter Schnitt, von einer scharfen Klinge. Wer hatte ihm diese Verletzung

beigebracht? Welcher Normalsterbliche wäre in der Lage, so etwas zu tun? Mindestens ebenso auffällig war das Einschussloch in seiner Stirn. Cloud war zäh, ja, doch es sah ganz so aus, als habe er Glück, überhaupt noch hier zu stehen. Reena bekam eine hartnäckige Gänsehaut, ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr gehabt hatte. Wie konnte es sein, dass ein Schattenläufer derartig verstümmelt worden war? Was bedeutete das für den Bund und auch für sie selbst? Das letzte Mal hatte sie in ihrer Ausbildung um das Leben eines Kameraden fürchten müssen, und das war lange her.

„Bitte, Meister“, erhob Cloud nun verzagt die Stimme. „Ihr müsst das verstehen, der Kerl schien auf uns vorbereitet zu sein und er hatte ein Schwert …“ „Ich kann dich nicht verstehen“, erwiderte Secrecy zornig. „Alles, was ich höre, ist das erbärmliche Winseln eines feigen Hundes!“ Secrecy deutete auf den Armstumpf. „Und das da geschieht dir ganz Recht“, sagte er kalt. „Du bist es nicht wert, dich einen Schattenläufer zu nennen, du bist es nicht wert, dem Herrn zu dienen.“ „Bitte, Meister Secrecy“, begann nun die kleine Schattenläuferin neben Cloud,

die Reena bisher noch gar nicht wahrgenommen hatte. Auch auf ihrer Stirn prangte ein schwarzes Einschussloch. „Verzeiht unsere Unfähigkeit. Das nächste Mal werden wir …“ Reena erschauderte. Sie waren also sogar zu zweit machtlos gewesen? „Das nächste Mal?“, fuhr Secrecy sie zornig an. „Ein nächstes Mal wird es für euch beide nicht geben, ich werde hier und jetzt dafür sorgen, dass ein solches Missgeschick nie wieder vorkommt.“ Er hob die Hand und wollte nach Clouds Haaren greifen, in der anderen Hand hielt er seine scharfen Klingen, und Cloud stieß einen Schrei aus, der Reena

das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen, doch plötzlich schloss sich eine Hand um Secrecys Arm. Reena sog scharf die Luft ein. „Secrecy“, sagte Solitude, der eben wie aus dem Nichts aufgetaucht war, ruhig und hielt den anderen weiterhin mit eisernem Griff fest. „Es ist genug.“ Secrecy schenkte dem anderen einen wütenden Blick. „Das hier geht dich nichts an, Solitude!“, fauchte er und erinnerte dabei an eine angriffslustige Raubkatze. „Doch, das tut es sehr wohl“, erwiderte Solitude gemächlich und ließ zu, dass Secrecy sich ruckartig aus der Umklammerung löste. „Dein Schüler

Cloud und seine Begleiterin sind auf eine wichtige Mission geschickt worden, die für uns alle von großer Bedeutung war.“ Secrecy starrte Solitude an, als könne er ihn mit bloßen Blicken töten. „Und eben diese Mission hat … dieser Nichtsnutz von einem Jungen … vermasselt“, schnaubte er. Solitude legte seine Händen hinter dem Rücken aneinander und schritt so langsam auf und ab. Auch er erinnerte dabei an ein lauerndes Raubtier. „Mein lieber Secrecy, wären diese beiden jungen Schattenläufer bei ihrer Mission gestorben, weil dieser Schwertkämpfer ihnen den Kopf von den Schultern

getrennt hat, hätten ihre Leichen unseren Feinden noch deutlich mehr Auskünfte gegeben.“ Für einen Augenblick hielt er inne und sah zu Cloud, der augenscheinlich noch nicht ganz begriffen hatte, dass er Secrecys Wut knapp hatte entrinnen können. „Dass Cloud bei dem Attentat einen Arm verloren hat, ist ungünstig, dass die Zielperson noch unter den Lebenden weilt, ärgerlich. Nichtsdestotrotz werden Cloud und seine Partnerin uns Informationen geben können, anders als zwei nutzlose Leichen.“ Er seufzte. „Dass Cloud und seine Partnerin gescheitert sind, sollte uns zu denken geben, nicht ihnen. Denn das beweist,

dass wir, die oberste Instanz der Schattenläufer, uns geirrt haben. Der Feind ist stärker, als wir zunächst annahmen.“ Reena sah zu Lotus. „Der Feind?“, fragte sie leise. Lotus hob ratlos die Schultern. „Ist doch klar“, sagte da plötzlich eine vertraute Stimme. „Knife“, sagte Lotus überrascht. „Diese Organisation, von der Solitude uns erzählt hat“, sagte Knife. „Diese Goldenen Falken.“ Er lehnte sich lässig an den Tresen, hinter dem Lotus noch immer stand und sein Blick traf auf den von Reena. „Ich hab’ meinen Brief kurz nach deinem erhalten“, meinte er und

lächelte ihr entschuldigend zu, während er sich verlegen am Hinterkopf kratzte. Reena schnaubte. „Und ich hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet.“ „Na ja, irgendwie ist es das ja auch“, meinte Knife und nickte zu Cloud hin. „Ja, diese Organisation scheint ganz schön stark zu sein“, stimmte Lotus ihm zu. „Ja, Cloud ist eigentlich echt nicht schlecht“, sagte Knife und richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. „Bisher ist noch kein Mensch einer Schattenattacke entkommen“, fügte er hinzu. „Der, den Cloud und die Kleine erledigen sollten, muss echt ein krasser Typ sein.“

Lotus blickte zu Cloud hin. „Er tut mir irgendwie ganz schön leid.“ Knife nickte. „Und ich hab’ ihn vorhin noch um diesen ungewöhnlichen Job beneidet.“ Reena sah ihre beiden Kameraden an. „Wisst ihr irgendetwas über diese Goldenen Falken?“ „Nur, dass sie sich so nennen“, sagte Lotus. „Tja … mein Sozialleben sieht auch nicht so gut aus“, meinte Knife entschuldigend. „Keine Ahnung, was bei den Sterblichen zur Zeit so abgeht.“ „Ob das wohl auch Magier sind?“, überlegte Reena laut.

Knife lachte auf. „Das will ich doch stark hoffen. Ansonsten hätten wir echt abgebaut.“ „Aber wie kann das sein?“, wollte Lotus verwundert wissen. „Unsere Magie stammt von einem Pakt mit der Unterwelt und nur den Schattenläufern wird dieser Pakt ermöglicht, wie kann es also sein, dass andere Magier unsere Feinde sind?“ „Es hat doch schon oft andere Menschen gegeben, die sich als Magier versucht haben, die nicht unserem Bund angehörten und auch nicht das Ritual vollzogen haben“, warf Knife ein. „Ja, aber trotzdem müssen sie dem Herrn

Seelen sammeln“, hielt Reena entschieden dagegen. „Und diese Menschen stellen sich uns auch nicht in den Weg. Lotus hat Recht, warum sollte der Herr unsere Feinde unterstützen? Hat er uns etwa hintergangen?“ „Na, na, na“, ertönte da auf einmal eine tadelnde Stimme hinter Reena. Erschrocken fuhr sie herum. „Skall!“, rief sie überrascht aus. Skalls Blick war zwar kühl wie immer, aber zugleich sah er dieses Mal auch so aus, als würde die Situation ihn amüsieren. „Solche ketzerischen Worte möchte ich aber nicht aus dem Mund meiner Schülerin hören“, meinte er und legte seine Hand auf Reenas Kopf.

„Es tut mir leid“, sagte Reena augenblicklich und tauchte dabei unter Skalls Hand hinweg. „Wir … wir sind nur so ratlos wegen der neuesten Geschehnisse“, erklärte sie ihrem Mentor dann ehrlich. „Ich dachte, niemand könne uns Schattenläufern das Wasser reichen.“ Nun wurde Skalls Blick wieder todernst. „Ja“, sagte er. „Das alles ist in der Tat bedenklich.“ „Bedenklich?“, wiederholte Lotus verwundert. „Wer sind denn diese Goldenen Falken, von denen plötzlich jeder spricht, überhaupt?“, wollte sie wissen.

Skall sah Reena, Lotus und Knife fest an. „Viel weiß ich auch nicht“, sagte er dann. „Aber sicher ist, dass sie eine Gilde von großen Kriegern sind, die sich selbst zur Seite des Guten erklärt hat, um Magier unserer Zunft mit Magie zu bekämpfen.“ „Unserer Zunft?“, echote nun auch Knife verblüfft. „Ja“, bestätigte Skall mit einem Nicken. „Magier, die mit der Finsternis des Jenseits und dem Herrn einen Pakt geschlossen haben, so wie wir alle hier.“ „Aber welcher Art der Magie bedienen sich diese Goldenen Falken dann?“, fragte Knife.

„Sie selbst nennen es wohl ,helle Magie‘. Vor etwa fünfzig Jahren wurde ein neues magisches Portal in die Anderswelt geöffnet, durch das diese Menschen mit der Magie in Kontakt treten können. Sie kämpften gegen die der Finsternis entsteigenden Dämonen an und sprachen einige Zeit später Schutzzauber und Bannkreise, um die Dämonen in ihrer Welt einzusperren, jedoch haben sie sich mit magischen Steinen, wie die, in der wir Menschenseelen sammeln, Magie genommen, um sie mit in ihre Welt zu nehmen. Sie stehlen die Magie vom Herrscher der Unterwelt, ohne ihm eine

Gegenleistung darzubieten.“ Reena runzelte die Stirn. „Aber … wenn das so weitergeht …“ Skall nickte. „Ja, Reena. Wenn wir diese verbrecherischen Menschen nicht bald aufhalten, wird unser Herr sterben und mit ihm die Magie.“ Nun legte auch Knife die Stirn in Falten. „Aber das bedeutet doch …“ „Richtig“, bestätigte Skall wieder. „Wir alle schweben in großer Gefahr. Als Novizen hattet ihr kein Recht auf diese Informationen, jedoch bin ich der Meinung, dass alle davon wissen müssen. Wir müssen für unseren Herrn zusammenstehen, denn er braucht uns. Er hat uns ein Leben fernab von Schmerz

und Tod geschenkt. Als Schattenläufer ist es unsere Pflicht, das Gleichgewicht der beiden Welten zu erhalten und diese sogenannten hellen Magier zu vernichten.“ ~ (9. Mai 2018, 00:00 Uhr) „Okay. Du solltest jetzt sturmfreie Bude haben“, meinte Saskia. „Ich sollte?“, erwiderte Ash ungläubig. Während er gerade im obersten Stockwerk des Hauptquartiers aus dem Fahrstuhl stieg, saß Saskia ein Hausdach weiter und benutzte ihre hellseherischen Fähigkeiten sowie magische Telepathie,

um Ashley sicher in das Büro ihres Anführers zu lotsen. Dass Ashs Plan mehr als riskant war, stand außer Frage. Sollte er auffliegen, würde das ernsthafte Konsequenzen haben, und der Tod war nur eine mögliche davon. Dass Saskia da nicht mit reingezogen werden wollte, verstand Ash nur zu gut und er wertete es nicht als Feigheit, sondern als gesunden Menschenverstand und außerdem war ja er derjenige, der dem Meister misstraute. Umso dankbarer war er seiner Freundin also dafür, dass sie ihm trotz allem von ihrer sicheren Position aus den Rücken deckte. „Na ja, Meister Lane hat sein Büro

verlassen und das Hauptquartier ist beinahe leer.“ „Beinahe?“, echote Ash entsetzt. „Ja, im Gang rechts von dir ist noch jemand … und er kommt auf dich zu!“ „Verstanden“, erwiderte Ash und wählte die linke Tür, hinter der sich die Toiletten befanden. Ash hörte, wie Saskia erleichtert seufzte. „Er ist grade in den Fahrstuhl gestiegen und fährt jetzt sicher nach ganz unten“, teilte sie ihm mit. „Für einen Moment dachte ich schon, er würde dich erwischen. Weißt du, seitdem diese merkwürdigen Gestalten uns aus dem Nichts überfallen haben, bin ich richtig paranoid geworden.“

„Das brauchst du nicht“, entgegnete Ash. „Das waren gute Schleicher, mehr nicht.“ „Sie sind mit den Schatten verschmolzen“, erinnerte Saskia ihn. „Ja, schon“, sagte Ashley. „Aber das ist auch nur eine Form der Magie. Es sind Magier, die mit der Magie schlechte Dinge anstellen. Sowas sind wir doch gewohnt.“ „Und wie erklärst du es mir, dass diese Monster unverwundbar zu sein scheinen?“ Ash zögerte. „Na ja … darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“ „Was?“, fuhr Saskia ihn entsetzt an,

sodass es in seinem Kopf klingelte. „Hast du eine Ahnung, was das für ein Gefühl ist, wenn dein Gegner einen präzisen, absolut makellosen Kopftreffer einfach so wegsteckt?“ Ihre Stimme überschlug sich fast. „Also ist dein verletzter Stolz das eigentliche Problem?“, hakte Ash amüsiert nach. „Auch.“ „Okay. Hey, wie sieht’s aus?“ „Du kannst wieder rauskommen. Es ist schon nach zwölf Uhr“, sagte Saskia. „Ja. Ich bin gleich beim Büro“, berichtete Ashley seiner Freundin. „Ich kann dich sehen. Pass’ auf, da kommt gleich einer von

rechts.“ „Ist links alles frei?“ „Ja.“ „Okay.“ Ash öffnete eine der Türen links, betrat den Raum, in dem die Putzmittel gelagert wurden. „Sag’ mir Bescheid, wenn alle weg sind. Ich will nicht gestört werden.“ „Ich glaube, jetzt ist der letzte in den Fahrstuhl gestiegen. Halt, da kommt noch einer.“ „Mensch, kannst du mir endlich mal verlässliche Ansagen machen?“, fragte Ash gereizt. „Entschuldige mal“, entgegnete Saskia heftig. „Wenn dir meine Arbeit nicht gefällt, kannst du ja auch selbst deine

kognitiven Fähigkeiten einsetzen.“ Ash verdrehte genervt die Augen und war froh, dass Saskia das nicht sehen konnte. Warum musste seine Freundin auch immer gleich so kindisch sein? Er konnte es nun wirklich nicht brauchen, dass sie ihn hängenließ. Seine eigenen „kognitiven Fähigkeiten“, wie Saskia es genannt hatte, waren im Vergleich zu ihren absolut lächerlich. „Okay, es tut mir leid“, entschuldigte Ash sich schnell. „Lass mich jetzt bloß nicht allein, hörst du?“ „Nein, natürlich nicht“, meinte Saskia versöhnlich. Ash öffnete die Tür und lief weiter zu Meister Lanes Büro. „Ich werde jetzt das

Schloss knacken. Sollte doch noch mal einer auftauchen, warn’ mich rechtzeitig, okay?“ „Du kannst dich auf mich verlassen“, versprach Saskia ihm. Ash blieb vor der verschlossenen Bürotür stehen und zückte den magischen Schlüssel, den er einst von seinem Vater bekommen hatte, widerrechtlich eigentlich und das einzige Erbstück, das Ash von ihm besaß. Es war, als hätte sein Vater das alles geahnt, vorausgesehen. Ein magischer Schlüssel war nichts weiter als ein Metallstäbchen, das in jedes gewöhnliche Türschloss passte. Für gewöhnlich waren sie aus reinem

Gold, da Gold weich genug war, um es mittels Gedankenkraft zu verformen – in die Form jedes beliebigen Schlüssels. Ash lächelte, als das Schloss aufsprang, dann zog er den Schlüssel heraus und öffnete die Tür. „Ich habe es geschafft“, teilte er seiner Freundin zufrieden mit und schloss die Tür hinter sich. „Gut. Ich hoffe wirklich, dass das hier nicht völlig umsonst war“, erwiderte Saskia. „Ich werde hier zur Sicherheit weiter Wache halten. Beeil’ dich.“ „Klar.“ Ash blickte zu den Regalen und Schränken. „Wenn Lane irgendetwas vor uns zu verbergen hat, dann ist es sicherlich weggeschlossen“, murmelte

Ashley und probierte nacheinander, die Schranktüren zu öffnen und zumeist hinderte ihn kein Schloss daran. In der einzigen verschlossenen Vitrine jedoch befand sich nichts, das Ash wichtig erschien. „Verdammt“, fluchte der junge Magier. Noch einmal durchforstete er alle Schränke und auch die Schubladen, bis er schließlich im untersten Fach eines Bücherregals, vollkommen unscheinbar, einen Koffer bemerkte. „Das ist doch …“ Ash nahm den schwarzen Kasten vorsichtig an sich. „Ja … das ist Dads Koffer!“ Er legte ihn zu seinen Füßen ab. „Hast du was gefunden?“, erkundigte Saskia sich. Vermutlich hatte sie die

euphorischen Schwingungen bemerkt, die von Ashs Gemüt ausgingen. „Ja“, antwortete Ash. „Dads alten Aktenkoffer. Er scheint verschlossen zu sein …“ Er strich mit den Fingerspitzen über das magische Schloss und zuckte überrascht zurück, als es plötzlich aufsprang. Ashs Augen wurden groß. „Saskia“, sagte er aufgeregt. „Saskia, ich hatte die ganze Zeit über Recht! Das hier ist ein rundum mit Magie versiegelter Koffer! Er ist unzerstörbar und nur ich konnte ihn öffnen!“ „Schön für dich“, kommentierte Saskia trocken. „Du kannst dich weiter freuen, wenn du deinen Hintern aus der Gefahrenzone geräumt hat.“

Ash nickte eilig. „Ja, du hast Recht.“ Er stand auf, nahm erneut seinen Schlüssel hervor, verschloss die Tür, anschließend klappte er den Koffer wieder zu, dann öffnete er das Fenster und stieg hinaus in die kalte Nachtluft, nur auf einen schmalen Metallbalken. „Danke, Saskia“, sagte er, während er in lustiger Höhe das Fenster wieder schloss. Dabei konnte er nicht verhindern, dass seine Hände zitterten wie verrückt. Er hasste diese Höhe, auch wenn er im Grunde wusste, dass ihm nichts passieren konnte. Saskia unterdessen seufzte. „Du bist mir was schuldig“, sagte sie.

„Alles klar“, stimmte Ash dem sofort zu. „Wir treffen uns in meiner Wohnung.“ Mit diesen Worten breitete er die Arme aus und ließ sich fallen, und auch wenn sein Magen und sein Kopf bei dieser Aktion geradezu Amok liefen, verdichtete er die Luft so, dass er nicht wie ein Stein zu Boden fiel, sondern langsam über das hell erleuchtete New York hinwegglitt. Das nächste Hochhaus, das in seinem Weg stand, nutzte er zur Zwischenlandung, nur um sich gleich darauf weiter wagemutig in die Tiefe fallen zu lassen. In einer kleinen Wohngegend kam er schließlich auf dem

Boden auf und ging zu einem der Mietshäuser. Saskia war wohl noch nicht da, es würde auch noch eine Weile dauern, immerhin musste sie die U-Bahn nehmen und das würde sie mindestens zehn Minuten kosten. Also war Ashley so frei, schon einmal ohne sie einen Blick in den Koffer zu werfen. Das Schloss klickte erneut, kaum dass seine Haut das verzauberte Metall berührte. Selten war Ash so aufgeregt gewesen wie in diesem Moment, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er fühlte sich wie ein kleines Kind an Weihnachten, nur bedeutete das hier viel mehr.

Der Koffer war gefüllt mit Papieren, Notizbüchern, vollgekritzelten Stadtplänen und Briefen, auch ein paar Büchern, deren Urheber nicht James Reynolds war. Ash nahm als erstes den Stadtplan zur Hand und erkannte auf den ersten Blick, dass dort alle Tatorte zu dem Fall, an dem Ashs Vater gearbeitet hatte, verzeichnet waren. Doch es sah nicht aus, als gäbe diese willkürliche Anhäufung roter Punkte einen Hinweis auf des Rätsels Lösung, auch wenn dieser Plan natürlich längt nicht mehr aktuell war. Einen Moment zögerte Ashley, dann

holte er sich einen blauen Stift heran und begann, die Karte zu ergänzen. „Immerhin ist sie schon mehr als sechs Jahre alt“, murmelte er dabei. Er kannte sich aus in dem Fall, wusste, wo welche Morde stattgefunden hatten. Doch als er fertig war, ergab das Muster noch immer keinen Sinn. Natürlich nicht. Er sah zu den Notizbüchern. „Das alles hier ist mindestens sechs Jahre alt“, wiederholte er müde. Wie soll uns das alles helfen können? Mit einem Mal zweifelte er beinahe an seiner Entscheidung, Richard Lane zu bestehlen. Aber nur beinahe. Immerhin war ihm all das hier sechs lange Jahre lang vorenthalten worden

und es musste einen triftigen Grund dafür geben. Allein deshalb war es gut, dass Ash die Aufzeichnungen seines Vaters nun endlich in Händen hielt. Er war der einzige, der sie besitzen durfte. Er griff sich eines der fünf Notizbücher, doch es stellte sich rasch als gewöhnliches Notizbuch für Passwörter heraus. Online-Banking, E-Mail-Konten und andere Dinge dieser Art. Das nächste schien ein Tagebuch zu sein. Ash durchblätterte es rasch, doch fand er keine Hinweise, es haftete auch keine Magie daran. Nein, es war einfach nur ein ganz normales Tagebuch, in dem ganz normale Dinge standen. Das nächste war noch beinahe leer und das

rote hatte James Reynolds als Telefonbuch benutzt. Beim letzten jedoch fand Ash eine Art Widmung auf der Innenseite des blaukarierten Einschlags. Wenn du das hier liest, kannst du kein anderer sein als mein Sohn Ash. Dieses Notizbuch habe ich mit einem Zauber belegt, sodass es sich selbst zerstört, wenn ein anderer als du es finden sollte. Also gib gut darauf Acht. Ashley holte tief Luft und schlug die letzte beschriebene Seite auf. Die letzten Worte seines Vaters, die nur an ihn gerichtet waren, die letzte Botschaft. Dass die Goldenen Falken seit geraumer

Zeit unterwandert werden, weiß ich, und dass ich für meine Hartnäckigkeit mit dem Leben bezahlen werde, das weiß ich auch. Ich wünschte nur, ich hätte dir und Fiona sagen können, wie leid es mir tut, dass meine Loyalität stets den Goldenen Falken galt und weniger meiner Familie. Dass du das hier lesen kannst, Ash, bedeutet, dass der Koffer in deine Hände gelangt ist. Das ist gut. Sicherlich hat Richard Lane ihn dir nicht aushändigen wollen, aber dafür hast du ja meinen Schlüssel, den ich dir vor zwei Monaten anvertraut habe. Es tut mir leid, dass ich dich nicht zu Lebzeiten warnen konnte, doch es

erschien mir besser, wenn du deinen Weg selbst findest, anstatt ein Leben zu leben, das du für deine Pflicht hältst. Jetzt kennst du wohl die Wahrheit über Meister Lane. Entscheide selbst, was du nun tun willst. Dein Vater. Eine Träne rollte über Ashs Wange. Es tat weh, das zu lesen, es tat weh, zu wissen, dass sein Vater gewusst hatte, dass er würde sterben müssen. Und er, Ash, hatte nicht den Hauch einer Ahnung gehabt. Er riss sich zusammen. Sein Vater war also ermordet worden. Am vergangenen Tag noch hatte dasselbe auch mit ihm passieren sollen.

Nun spielte Ash wahrlich mit dem Feuer. Aber er würde keine dumme Marionette mehr sein. Er schlug das Buch erneut auf, dieses Mal weiter vorne. Er musste alle Erkenntnisse seines Vaters in sich aufnehmen, um dem Spuk des Verrats ein Ende zu setzen. Ich wähle meinen eigenen Weg, dachte Ash. Schließlich klingelte es. Saskia. Es fiel Ash schwer, sich von den in schwarzer Tinte geschriebenen Zeilen zu lösen, so erschlagend waren all die Neuerungen, mit denen er plötzlich konfrontiert wurde. Widerwillig stand er

auf und öffnete seiner Freundin, um gleich darauf wieder ins Wohnzimmer zu gehen. „Was ist los?“, wollte Saskia wissen und folgte ihm. „Du bist ja weiß wie eine Wand!“ Ash, der bereits wieder das Büchlein in seinen Händen hielt, sah auf. „Saskia“, sagte er mit leicht bebender Unterlippe. „Mein Vater war ein Nekromant.“

Sechstes Kapitel

Solitude hatte wirklich kein Erbarmen mit ihnen. Kaum dass sie alle auf der anderen Seite des Sees angelangt waren, öffnete er ein neues Portal, das sie wieder zurück in dieses moderne Hochhaus führte, in dem sie sich das erste Mal getroffen hatten. Shades erkalteten Körper ließen sie einfach zurück. Erst jetzt bemerkte Reena, dass es in dem Hochhaus helllichter Tag war, obwohl Skall sie eine Viertelstunde vor Mitternacht in ihrer Wohnung abgeholt hatte. Also handelte es sich auch bei diesem Raum um eine Illusion, genau wie

bei dem See. Solitude trat an eine gläserne Tür, die auf einen Balkon hinausführte. Dort wandte er sich noch einmal zu seinen Schülern um. „Wir werden sofort mit der Selektion fortfahren. Nur weil ihr es geschafft habt, nicht zu ertrinken, heißt das noch lange nicht, dass eure Körper bereits die eines Schattenläufers sind“, erklärte er, zog die Tür auf und ging nach draußen, wo er dann die Unterarme lässig auf dem silbernen Geländer ablegte. Seine Schüler folgten ihm zögerlich. „Kommt nur näher und seht nach unten“, forderte Solitude sie auf. Sie gehorchten.

Reena schluckte, als sie nach unten sah. Er hatte doch nicht etwa vor … „Selbst ein Fall aus dieser Höhe darf euch nicht brechen.“ Tatsächlich, dachte Reena und wunderte sich über die Kühle ihres eigenen Gemüts. „Das Ritual sollte eure Knochen im Idealfall gestählt haben“, sagte Solitude und richtete sich wieder auf. „Ich verlange, dass ihr springt, einer nach dem anderen.“ Es folgte Stille. Keiner von ihnen rührte sich. Solitudes Blick verdüsterte sich. „Du da“, sagte er dann und winkte Knife zu

sich heran, der, wie Reena und die anderen, wieder vom Geländer weggetreten war. „Du kommst mir vielversprechend vor. Du wirst den Anfang machen.“ Reena sah zu Knife, versuchte, irgendeine Reaktion auszumachen. Doch das fröhliche Lächeln, das spitzbübische Grinsen, das sein Gesicht vor wenigen Minuten noch gezeichnet hatte, war verschwunden. Stattdessen war sein Blick kalt wie Eis und Reena erschauderte. Ein echter Schattenläufer, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Der Dunkelblonde zögerte keine Sekunde, ging erhobenen Hauptes an den

anderen Rekruten vorbei, legte seine Hände auf das Geländer, schwang sich elegant darüber und verschwand. Reena hielt unwillkürlich die Luft an. „Nun …“, meinte Solitude und beugte sich über das Geländer. Auch Reena und ihre Kameraden traten näher und warfen einen Blick in die Tiefe. Unten auf dem steinernen Bürgersteig lag Knife, alle Viere von sich gestreckt, bewegungslos. Sie sahen lange auf ihn herab. Stille herrschte unter ihnen. Gerade wollte Solitude sich abwenden, als Knife sich plötzlich regte und aufstand, als wäre nichts geschehen.

„Alles klar!“, rief er zu den anderen hinauf. „Der nächste kann kommen!“ Solitude nickte knapp und sah dann seine übrigen dreizehn Schüler auffordernd an. „Na los, nachdem der erste noch in einem Stück ist …“ Er machte eine scheuchende Handbewegung. „Dann will ich jetzt“, meinte Cloud entschlossen, nahm Anlauf und sprintete dann, ohne auf eine Zustimmung seitens seines Ausbilders zu warten, los. „Furchtlos“, sagte Solitude mit einem neuerlichen Nicken zu seinen übrigen Schülern und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie ein Schattenläufer zu sein hat.

In diesem Augenblick erreichte Cloud die Brüstung, verfehlte mit den Händen das kalte Metall und stürzte mit einem erschrockenen Aufschrei wenig elegant in die Tiefe. Solitude fasste sich mit einer Hand an die Schläfe und schüttelte den Kopf. „Jedoch viel zu ungestüm für einen lautlosen Mörder der Schatten“, kommentierte er. Reena tauschte mit Lotus und Era einen besorgten Blick. Jäger stieß ein amüsiertes Lachen aus. „Idiot.“ Solitude schenkte ihm einen missbilligenden Blick. „Solange ich

anwesend bin, verlange ich Disziplin und Ruhe. Du wirst noch früh genug eine Gelegenheit haben, dich zu beweisen.“ „Ich lebe noch!“, schallte es da von unten zu ihnen herauf. „Also kann ich jetzt?“, fragte der Junge mit den Rehaugen aufgeregt. Solitude seufzte. „Nur zu.“ In Reenas Ohren klang es verdächtig nach einem ,fall tot um‘. „Okay“, meinte Jäger und fuhr sich noch einmal durch die dichte Mähne. Dann ging er zum Geländer und schwang ein Bein darüber. „Fuck, das ist wirklich hoch“, stellte er dann fest und schluckte schwer, während er in die Tiefe blickte.

„Einen echten Schattenläufer muss so etwas völlig kaltlassen“, meinte Storm großspurig. „Ach ja?“, giftete Jäger ihn über die Schulter hinweg an. „Dann spring’ du doch als erster, Großmaul!“ Er zuckte zurück, als ihn der stahlharte Blick Solitudes traf. „Spring’“, befahl dieser ihm kalt. Jäger schluckte noch einmal, dann kletterte er gänzlich über das Geländer, hielt sich noch fest, ließ sich ein wenig nach vorne kippen. „Scheiße“, murmelte er, dann ließ er los. El beugte sich über die Brüstung. „Er steht wieder“, teilte sie den anderen mit.

„Der Nächste“, sagte Solitude. Stille. „Alles noch dran!“, meldete Jäger da von unten. Stille. Mittlerweile sichtlich genervt wandte Solitude sich zu seinen Schülern um. „Ich dulde keinen Aufschub, kein Zaudern und vor allem verabscheue ich es, Zeit zu verlieren. Zumal es sowieso nur zwei Möglichkeiten gibt, wie ihr diesen Test besteht – tot oder lebendig. Also?“ Er musterte seine Schüler mit überheblichem Blick. „Vielleicht eine von den Damen?“ Stille.

„El. Du stehst gerade so passend“, sagte Solitude und nickte zu dem jungen Mädchen hin. El erschrak sichtlich, doch dann klemmte sie sich die Unterlippe zwischen die Zähne und nickte tapfer, stieg über die Brüstung, wie Jäger es vor ihnen getan hatte. „Vielleicht sind deine Knochen ja widerstandsfähig, aber dein Fleisch und deine Haut ist es nicht, junge Dame“, sagte Solitude da mit einem Mal. „Es wäre unschön, wenn du dir heute schon eine hässliche Verletzung zuziehen würdest, die nie wieder heilt. Also lass’

das.“ Verwundert löste El ihre Zähne von ihrer Lippe und nickte erneut. Und dann sprang sie. Reena trat nun an die Brüstung und sah El hinterher, wie sie fiel und schließlich hart auf dem Boden aufschlug, jedoch stand sie kurz darauf wieder. Irgendwie erleichterte Reena das. „Ich will als Nächstes“, sagte Misery da und schwang sich ebenfalls über das Geländer. Wieder sah Reena ihm hinterher, doch nun zuckte sie erschrocken zurück, als sie mit ansah, wie sein Körper ungebremst auf dem Asphalt aufschlug und zerschmettert wurde, selbst aus

dieser Entfernung konnte sie noch hören, wie sein Rückgrat zersplitterte, seine Knochen barsten und sein Kopf aufplatzte wie eine Wassermelone. Die verbliebenen neun Schüler suchten verunsichert Solitudes Blick, doch dieser blickte ungerührt in die Tiefe. „Früher oder später musste das ja passieren“, sagte er nur. „Fire, du wirst die Nächste sein“, entschied er dann kühl und wandte sich erneut um. Reena blickte zu Fire, der Ältesten unter ihnen, die bisher immer kühl und tough gewirkt hatte, nun jedoch leichenblass war und am ganzen Körper zitterte. „N-nein“, stotterte sie und wich zurück. „Das kann ich

nicht!“ „Ach komm“, sagte Era aufmunternd. „Du kannst das ganz bestimmt!“ „Hast du etwa Höhenangst?“, fragte Lotus verwundert nach. „Du warst doch vorhin schon super, dann wird das hier bestimmt ein Kinderspiel für dich!“, sagte auch Silver freundlich und lächelte Fire offen an. „Ach, dummes Gewäsch“, fuhr nun Solitude schnaubend dazwischen und ehe Fire sich versah, hatte er sie auf die Arme genommen und sie ohne Zögern vom Balkon geworfen. „Der Nächste!“, herrschte er seine Schüler barsch an, noch ehe Fire auf dem Boden aufgekommen war. „Flash“, sagte er und

deutete in die Richtung, in der er sie vermutete. „Du als nächstes!“ Erneut antwortete ihm nur Stille. „Ähm … Flash ist nicht mehr hier“, meinte Storm da. Solitudes Blick verfinsterte sich so sehr, dass Reena fürchtete, dass seine roten Augen gleich Funken sprühen würden. „Verstehe“, sagte er dann jedoch. „Dann springst du als Nächster.“ Mit diesen Worten stapfte er an seinen Schülern vorbei, ins Innere des Penthouse. Storm sah ihm hinterher und zuckte dann die Achseln, ehe er sprang. Etwas ratlos blieben die übrigen zurück, bis Solitude wieder zu ihnen stieß. Seine Hand war in Flashs hellem Haarschopf

vergraben, als er sie mit sich wieder nach draußen schleifte und ihr Winseln emotionslos ignorierte. Sein Blick war noch kälter als sonst. Flash weinte und schrie und schlug um sich und Reena spürte eine unangenehme Gänsehaut auf ihren Armen, als sie sah, wie sehr Flash sich fürchtete. Verzweifelt versuchte das junge Mädchen, dem eisenharten Griff zu entkommen. „Nein, ich kann das nicht!“, kreischte sie. „Schwachsinn, natürlich kannst du!“, schimpfte Solitude und wollte nach Shades Beinen greifen, um sie, wie Fire zuvor, eigenhändig über die Brüstung zu werfen.

Doch Flash stemmte sich gegen Solitude und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Ich kann das nicht! Ich kann das nicht!“, wiederholte sie vollkommen ausgelöst. Zugleich traten Reena und ihre Kameraden einen Schritt zurück, als ob Flash ein tollwütiges Tier wäre, bei dem sie sich nicht anstecken wollten. Und plötzlich, entgegen aller Erwartungen, riss Flash sich los und stolperte, keuchend und weinend, rückwärts gegen die Glasscheibe, sank daran zu Boden und sah aus großen, geröteten Augen zu ihrem Lehrer und ihren Mitschülern auf. „Ich will das

nicht“, wisperte sie. Da verlor Solitudes Blick etwas an Härte. „Du willst nicht mehr?“, wiederholte er und es klang beinahe sanft, etwas, das Reenas Gänsehaut nur noch verschlimmerte. „Noch ist es für dich nicht zu spät, auszusteigen, den Pakt zu lösen.“ Reena schluckte und dachte an Skalls Worte, die ganz ähnlich gewesen waren. Shade atmete heftig und sie ließ ihren Hinterkopf gegen das kalte Glas sacken. Und dann nickte sie. „Ja!“, rief sie bebend aus. „Ich will nicht sterben! Wenn ich springe, werde ich sterben!“, wiederholte sie und blanke Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Solitude nickte verstehend und ging vor seiner jungen Schülerin in die Hocke. Dann riss er ihr mit einem einzigen Ruck die Tracht der Schattenläufer vom Leib, sodass das weiße Zeichen, das ihren schneeweißen Oberkörper zierte, zum Vorschein kam. „Dann werde ich das Siegel nun entfernen und dich in die Freiheit entlassen“, sagte Solitude kühl. Das ist nicht richtig, dachte Reena da, doch sie konnte sich nicht bewegen. „Ein Schattenläufer fürchtet den Tod nicht“, sagte Solitude nun. „Du bist schon tot, Flash.“ Reena riss die Augen auf. Aber das bedeutet ja …

Bevor Flash reagieren konnte, hatte Solitude ihr einen spitzen Dolch in das Siegel gerammt, in die kalte, blutleere Haut, bis auf die Knochen und darüber hinaus. Flash schrie gepeinigt auf, es war so laut, dass selbst die ruhige Sky zusammenzuckte. Reena schluckte, doch bewegen konnte sie sich noch immer nicht, auch konnte sie den Blick nicht abwenden, als plötzlich Blutfäden aus Flashs weit aufgerissenen Augen quollen, aus ihrer Nase und ihrem Mund, ihren Ohren und schließlich auch aus der Wunde. Blut, dachte Reena wie betäubt.

Schattenläufer haben kein Blut … Der Schrei verstummte, Flashs Augen wurden trüb und ihr Kopf fiel nach vorne auf ihre Brust. Solitude stand auf und steckte den Dolch weg. „Schade“, sagte er. „Wirklich schade. Stark war sie ja.“ Er wandte sich wieder seinen Schülern zu. „Das Zeichen der Schattenläufer ist eine unserer wenigen Schwächen. Merkt euch das gut und denkt immer daran, es vor allem anderen zu schützen. Euer ewiges Leben hat einen hohen Preis gefordert. Verschwendet es nicht.“ Er atmete tief ein. „Und nun lasst uns weitermachen. Du, Reena.“ Reena schluckte und versuchte, sich aus

der Starre, die Flashs Tod ausgelöst hatte, zu lösen, doch sie fühlte sich wie betäubt und nicht in der Lage, sich zu bewegen. Doch schließlich nickte sie gehorsam und trat auf die Brüstung zu. Langsam legte sie beide Hände auf das Geländer. Sie konnte ihren Blick nicht von dem scheinbar unendlichen Abgrund lassen, der genau vor ihr lag. Sie sah auch Knife, Jäger, Storm, Cloud und El, die unten standen, scheinbar vollkommen unversehrt. Und sie sah auch Miserys toten Körper. Wenn sie sprang, würde sie das überleben? Oder würde sie enden wie ihr Kamerad, mit zerschelltem Körper auf dem grauen

Asphalt? Sie sah noch einmal knapp über ihre Schulter, zu Flash. Es gibt nur noch Tod für uns, dachte Reena dumpf, ihre Gedanken wirkten wie betäubt. Ein Leben haben wir nicht mehr. Wir haben es den Schatten geopfert, und der Magie. Das bisschen Leben, das mir geblieben ist, widme ich den Schattenläufern und Jakob. Noch einmal atmete sie tief ein, dann sprang sie. Die Luft zerrte an ihr, an ihren kurzen Haaren, ihren Gliedern. Der Boden kam rasch näher und doch kam es Reena vor wie eine Ewigkeit, eine Ewigkeit, die lang genug war, um noch den einen oder

anderen panischen Gedanken zuzulassen. Ich werde sterben, schoss es ihr durch den Kopf. Nie und nimmer kann ein menschliches Skelett diese Belastung ertragen … egal wie ich lande, ich werde mir alle Knochen brechen. Und dann kam der Aufprall. Er war dumpf. Wie ein Stein schlug sie mit Gesicht, Händen und Bauch auf dem Boden auf. Es tat nicht weh, doch Reena spürte einen Ruck durch ihren ganzen Körper gehen, eine gewaltige Kraft, die ihr Rückgrat hätte brechen und ihren Schädel zerbersten müssen. Und dann war es dunkel. „Woah, das sah echt übel aus!“, vernahm

sie da plötzlich Jägers Stimme. „Du warst auch nicht eben ein Naturtalent“, kommentierte Cloud. „Da spricht ja grade der Richtige“, spottete Knife amüsiert. „Klappe, Streber!“, fuhren Jäger und Cloud ihn gleichzeitig an. Reena schaffte es nicht, sich zu bewegen. Ihr Herz schlug heftig, ihr Kopf dröhnte von innen heraus und auch ihr Magen protestierte heftig gegen all diese Misshandlungen. „Hey, lebst du noch?“, fragte Jäger da und Reena hörte Schritte näherkommen. „Reena?“, fragte nun auch eine Mädchenstimme, die nur El gehören konnte.

Und endlich schaffte Reena es, den Kopf zu heben, sich aufzurappeln. Fassungslos starrte sie auf ihre Hände. Die Haut war an den Handballen aufgeplatzt und darunter lag blutleeres, rosafarbenes Fleisch. Und auch an ihrem Kopf konnte sie eine solche Stelle ertasten. „Reena lebt noch!“, teilte Jäger den anderen an ihrer Stelle lauthals mit. Endlich gelang es Reena, aufzustehen. Hatten die anderen sich auch so gefühlt? Sie musterte ihre Kameraden und bemerkte auch bei Cloud und El Abschürfungen im Gesicht, doch da es nicht blutete, fielen diese kleinen

Wunden kaum auf. Fire stand etwas abseits, ihre Klamotten waren zerrissen und ihr Blick war leer. Reena ging an Miserys zerschmettertem Körper vorbei und atmete tief durch. Sie lebte noch. Sie hatte diesen Sturz aus mehreren dutzend Metern Höhe überlebt. Als sie sich umdrehte, landete im nächsten Augenblick schon Sky vor ihnen, eine der beiden Zwillinge, vorbildhaft könnte man sagen, auf beiden Füßen und mit einem unveränderlich stoischen Gesichtsausdruck, so als ob sie eben nur von einem Stufenbarren gehüpft wäre. Und auch Lotus überlebte ihren Sprung. „Wow, wir sind echt unsterblich, was

Reena?“, fragte sie, als sie sich aufrappelte, sie hatte eine ebenfalls sehr schmerzhaft aussehende Landung hingelegt, allerdings schien auch sie nichts davon zu spüren. Reena nickte nur knapp, ihre Zunge klebte ihr trocken im Mund, sodass sie kaum sprechen konnte. Wieder wanderte ihr Blick zu Miserys Leiche. Lotus bemerkte diesen Blick und verstummte daraufhin. „Da kommt schon der Nächste“, sagte Knife, hob den Blick und schirmte sich mit einer Hand die Augen ab. „Oder sollte ich vielleicht lieber die Nächste sagen?“ Reena zuckte unwillkürlich zusammen,

als mit einem Mal direkt vor ihr Eras kleiner Körper ungebremst auf den Asphalt klatschte und ihr Schädel mit einem hässlichen Geräusch einfach zerschmettert wurde und in viele kleine Teile zersprang. Für einige Augenblicke herrschte tatsächlich geschockte Stille, doch als Reena sich umsah, sah sie nur eiserne Masken mit Blicken aus Eis. Auch Skys Blick war vollkommen ausdruckslos. Uns bleibt nur der Tod … Reena verschränkte die Arme vor ihrer Brust, fast als würde sie sich selbst umarmen, als könnte sie sich selbst trösten, doch die Leere und die Kälte

ließen sich nicht vertreiben. Dass Silver unversehrt bei ihnen ankam, freute sie nur mäßig. Bald darauf folgte auch Isaac, doch auch dieser Aufprall war anders. Reena glaubte erneut, Knochen bersten zu hören und musste mit aller Kraft dem Impuls wiederstehen, sich mit beiden Händen die Ohren zuzuhalten und ihre Augen vor dem Grauen zu verschließen. Dennoch senkte sie den Blick. „Was zum … Fuck!“, rief Jäger da entsetzt aus. Reena sah auf, als ein heiseres Stöhnen ertönte. Es war, als bohrte sich eine Pistolenkugel durch ihr Inneres, ihr

wurde kalt und heiß zugleich, als ihr Blick auf den von Isaac traf, auf diese noch immer strahlend blauen Augen. „Scheiße“, brachte Isaac leise hervor und versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, doch seine Arme knickten unter dem Gewicht seines Oberkörpers ein. Reena schluckte. Isaacs Körper war vollständig zerschmettert worden, genauso wie der von Misery und Era. Sie sah auf, als Solitude neben Isaac landete, elegant wie eine Katze, ungeachtet der gewaltigen Höhe, aus der er gesprungen war. Der Blick, den der Schattenläufer Isaac schenkte, war schon

beinahe betrübt, auch wenn seine toten Augen nichts verrieten. „Das … das geht schon“, meinte Isaac und unternahm einen neuerlichen Versuch, sich aufzurichten, zog ein Bein unter seinen Körper und versuchte unter größten Anstrengungen, aufzustehen, doch es war vergeblich. Auch seine Beine gaben nach, es sah aus, als hätte jemand eine Marionette von ihren Fäden losgeschnitten. Solitude seufzte und zückte ein Messer. Isaacs Augen wurden groß. „Nein, nein!“, rief er und versuchte, von Solitude wegzukriechen. „Das … ich krieg’ das hin, ehrlich! Es tut auch gar nicht

weh!“ „Dein Glück“, sagte Solitude und zog Isaac zu sich heran. „Aber deine Wunden werden nicht mehr heilen, deine Knochen werden nicht nachwachsen. Es ist vorbei.“ Mit diesen Worten machte er einen sauberen Schnitt über Isaacs Schlüsselbein. Es war dasselbe wie bei Flash. Ein Schrei, Blut aus Ohren, Mund, Nase und Augen. Und alles was bleibt, ist Tod … ~ (9. Mai 2018, 03:00 Uhr) Irgendetwas war merkwürdig, als Reena

ihre Wohnung betrat. Schon den ganzen Tag fühlte Reena sich unwohl, genau genommen seitdem sie mit Skall gesprochen hatte, seitdem er ihr und ihren Kameraden offenbart hatte, dass sie nicht länger absolut unangreifbar und immerzu in Sicherheit waren. Und es machte sie wütend. Sie war eine Schattenläuferin. Jemand wie sie durfte nicht paranoid werden, sich nicht einmal aus der Ruhe bringen lassen. Nicht wegen irgendeiner dummen Geschichte und auch nicht wegen ein paar verbrecherischen Menschen, die sich ohne Erlaubnis Magie abgriffen. Nein … nein, paranoid war sie nicht.

Ihr Gefühl trog sie nicht, sie spürte es. Der Flur war dunkel und es war vollkommen still. Wie damals, dachte Reena plötzlich und ging langsam ins Wohnzimmer. Nein, nicht wie damals, widersprach sie sich selbst. Es gibt kein Damals. Nur ein Heute und ein Morgen. Sie seufzte. „Huw?“, fragte sie leise. Es war mitten in der Nacht, Jakob lag sicherlich schon längst im Bett und schlief. Er war ein sehr braver Junge, er war es gewohnt, für sich selbst zu sorgen. Als Reena keine Antwort erhielt, runzelte sie die Stirn. Sicherlich war das

nur einer von Huws dummen Streichen. Er benahm sich schlimmer als ein alberner Junge. Als Reena nun einen Fuß ins Wohnzimmer setzte, stockte sie. Jemand hielt sich in diesem Raum auf … beziehungsweise in den Schatten. „Okay“, sagte Reena mit fester Stimme. „Was soll das? Werde ich jetzt vom Bund überwacht oder was?“ „Oh nein“, antwortete ihr eine Stimme und sie konnte eine Gestalt im Dunkel erkennen. Reena schloss genervt die Augen, doch zugleich fiel auch ein wenig die Anspannung von ihr ab. Diese Stimme kannte sie. Aber trotzdem war sie mit

diesem unangemeldeten Besuch nicht einverstanden. „Was tust du hier, Skall?“, fragte sie durch zusammengebissene Zähne. „Ein einfacher Besuch“, antwortete der Weißhaarige. „Schon klar“, sagte Reena. „Und wenn du mir tatsächlich aus mir vollkommen unklaren Gründen hinterherspionieren würdest, würdest du es mir wohl nicht sagen.“ „Ich bin enttäuscht von dir“, entgegnete Skall und Reena konnte sein leichtes Kopfschütteln erkennen. „Dabei habe ich doch geschworen, dir als dein Mentor immer ehrliche Antworten zu geben. Wie verletzend, dass du mir

meine Ehrlichkeit absprichst.“ Reena seufzte. „Schon gut, schon gut. Und selbst wenn, ich habe nichts zu verbergen.“ „Das ist gut.“ Reena legte ihre Klingen auf dem Wohnzimmertisch ab. „Kannst du dich ruhig verhalten, während ich nach Jakob sehe?“, wollte sie dann ein wenig schnippisch wissen. „Sicher“, sagte Skall ruhig. Reena warf ihrem Mentor einen letzten warnenden Blick zu, dann ging sie ins Kinderzimmer, ließ die Tür dabei angelehnt, um keinen unnötigen Lärm zu verursachen. Wie erwartet schlief Reenas kleiner Bruder bereits tief und

fest, ohne von Albträumen geplagt zu werden. „Er ist groß geworden“, stellte Skall, der Reena gefolgt war, gleichmütig fest. „Wäre er damals bereits älter gewesen, hätte er ebenfalls ein guter Schattenläufer werden können.“ Reena schluckte und musterte das schlafende Gesicht ihres Bruders. So ist es besser, schoss es ihr durch den Kopf. Es genügt, dass bereits ich meine Seele verkauft habe. Jakob soll normal aufwachsen. Sie sah auf, in Skalls ausdrucksloses Gesicht. „Ja, vielleicht“, stimmte sie ihm dann halbherzig zu. Sie erhob sich und schloss die Tür leise wieder. Dann sah sie zu Skall auf. „Was

willst du wirklich?“, fragte sie dann ernst. Skalls Schultern hoben sich leicht an, als hätte er aufgeseufzt. „Es gibt Gerüchte“, sagte er. „Gerüchte?“, wiederholte Reena verwundert. „Gerüchte darüber, dass uns wichtige Informationen entwendet wurden.“ „Informationen?“ Reena verstand gar nichts, doch sie begriff, dass es ernst sein musste. „Den Schattenläufern? Welche Informationen denn? Und von wem?“ „Es ist offenbar komplizierter. Der Spion, der von den Acht zu den Goldenen Falken entsandt wurde, hat

interne Informationen aufbewahrt, von denen kein Sterblicher erfahren darf.“ „Interne Informationen? Skall, ich verstehe gar nichts!“, rief Reena aus. Skall hob gebieterisch die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. „Ich habe von meinem Meister davon erfahren und darum will ich dir ebenfalls davon berichten. Diese Informationen, von denen ich spreche, hat ein Angehöriger der Goldenen Falken vor etwa sechs oder sieben Jahren über uns zusammengetragen, Erkenntnisse, die, in den Händen anderer Magier, uns alle hätten zu Fall bringen können. Allein dass der Schattenläufer Hound sich bereits vor neun Jahren den Goldenen

Falken als Richard Lane vorstellte und es innerhalb von nur drei Jahren an die Spitze dieser Verbrecherbande schaffte, hat uns vor dem Untergang bewahrt. Hound tötete diesen Goldenen Falken, James Reynolds, und entwendete ihm die Aufzeichnungen, da sie mit einem Zauber belegt waren, die er nicht lösen konnte.“ „Und was ist nun geschehen?“, wollte Reena langsam wissen. „Hound hat uns diese Daten vorenthalten. Nicht einmal die Acht wussten davon.“ „Verrat?“, fragte Reena verwundert. „Möglicherweise.“ „Und was habe ich damit zu tun?“, hakte

Reena nach. „Du sollst nur auf dich achtgeben“, erklärte Skall. „Denn irgendwer, der bisher unter Hounds Aufsicht stand, hat Reynolds’ Informationen gestohlen. Vermutlich der, der auch Cloud und seine Partnerin, Sunrise, so übel zugerichtet hat.“ Reena holte tief Luft und schloss für einen Moment die Augen. Das waren zu viele negative Geschehnisse auf einmal, zu viele schlechte Neuigkeiten. „Ich gehe jetzt duschen“, entschied sie darum kühl und wandte sich der Badezimmertür zu. „Du wartest noch hier?“ „Sicher.“ Deutlich konnte Reena den Unmut in Skalls Tonfall hören, Unmut

darüber, dass sie ihn jetzt einfach so stehenließ, doch das war Reena jetzt egal. Sie wollte nichts mehr von all dem wissen, nichts hören, nichts sehen. Plötzlich schien es, als stünde mit einem Mal alles auf der Kippe, was Reena seit fast acht Jahren als ihr Leben betrachtete, ein Leben, das sie mit all seinen Facetten und Unannehmlichkeiten zu schätzen gelernt hatte. Nacheinander ließ sie achtlos ihren schwarzen Pullover, das weiße T-Shirt, ihre Hose sowie ihre Unterwäsche zu Boden fallen, dann löste sie ihre Zopf und stieg unter die Dusche. Sie drehte das Wasser auf, es war eiskalt,

doch Reena spürte nur das Plätschern auf ihrer wächsernen Haut, keine Temperatur. Nasse weiße Haare hingen ihr ins Gesicht. Reena blieb unter dem Wasserstrahl stehen und seufzte. Gegen ihren Willen musste sie an das denken, was Skall ihr eben anvertraut hatte und sie fragte sich, welche Konsequenzen die neuestens Entwicklungen für sie und all die anderen Schattenmörder haben würden. Die Schattenläufer hatten ihr dieses unvergängliche Leben ermöglicht, doch wenn die Schattenläufer tatsächlich fallen sollten … Nachdenklich berührte Reena das weiße

Siegel auf ihrem Schlüsselbein, eine weiße Wellenlinie mit drei ebenso weißen Punkten darüber. Sollten die Schattenläufer fallen, würde sie sterben. Ohne dieses Siegel, das ihr von ihrem Herrn gegeben worden war, war sie nicht mehr als eine blutleere Hülle. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen, als sie an Flash und Isaac zurückdachte. Nein, sagte sie sich. Das ist schon mehr als sieben Jahre her … Reena war versprochen worden, dass sie niemals würde sterben müssen, dass sie keine Schmerz mehr erfahren würde und sich auch sonst von allen Bürden des

menschlichen Lebens befreien könne. Doch plötzlich wurde Reena klar, dass dieser Pakt nicht sicher war. Was würde nach ihrem Tod aus Jakob werden? Ja, was würde mit ihm geschehen? Reena wollte gar nicht daran denken … Nein, sie konnte ihn nicht auch noch allein lassen, nicht sie auch noch, nicht nach allem, was geschehen war, nicht nachdem ihre Eltern schon … „Deine Gedanken quälen dich in letzter Zeit sehr“, sagte da plötzlich jemand. Reenas Kopf ruckte in die Höhe. „Huw!“, rief sie zornig aus. „Hau ab, du elender Mistkerl!“ Sie sprang unter der Dusche hervor und schlug mit dem Handtuch nach ihrem respektlosen

Mitbewohner, woraufhin dieser nur mädchenhaft kicherte und anschließend durch die abgeschlossene Tür verschwand. Reena knirschte mit den Zähnen und stieg noch einmal unter die Dusche, um sich noch schnell die Haare zu waschen. Dabei gingen ihr nun auch Huws Worte nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte Recht. Er hatte ja so Recht. Reena fühlte sich ausgelaugt und leer. Wie konnte das sein? Ihr war versprochen worden, allen Schmerz hinter sich lassen zu können, im Dienst der Schattenläufer und der Magie ein sorgenfreies Leben führen zu dürfen.

Doch Reenas Gedanken quälten sie, trieben ihr kalte Tränen der Erschöpfung in die tiefschwarzen, ihrer Seele beraubten Augen. Sie sorgte sich um ihren Bruder, fühlte sich so schrecklich einsam. Stoisch schlitzte sie einem Menschen nach dem anderen die Kehle auf, nahm seine Seele mit sich und kehrte dann nach Hause, müde und entkräftet, allein und voller Ängste. „Reena?“ Reena schreckte aus ihren Gedanken auf. „Reena, ist alles in Ordnung?“ Skalls Stimme, dachte Reena müde. Sie

stieg aus der Dusche und ging zur Tür, lehnte ihren Kopf gegen das weiß gestrichene Holz. „Ja, ja … alles klar“, antwortete sie dann gedämpft. „Ich hab’ dich schreien gehört“, sagte Skall. „Es ist nichts. Nur … eine Spinne“, log Reena und wusste, das war die schlechteste Ausrede überhaupt. Ein Schattenläufer fürchtete sich doch nicht vor so etwas. Aber eine solche Macke war für Skall wohl einfacher zu schlucken als dass sie erschreckend realistische Wahnvorstellungen hatte, die sie beim Duschen beobachteten. Sie spürte, wie Skall zögerte. „Du weinst?“, vernahm sie dann seine weiche,

ruhige Stimme. Reena schluckte und fasste sich an die von Wasser und Tränen nasse Wange. „Nein“, widersprach sie ihrem Mentor dann und wischte sich die Tränen weg. „Du bist merkwürdig heute“, sagte Skall nur. Reena zögerte, dann entschied sie, Skall nicht länger auszuweichen und zu belügen. Sie vertraute ihm. „Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist“, sagte sie leise, drehte sich um und ließ sich mit dem Rücken zur Tür auf den kalten Boden sinken. „Wenn du zweifelst …“, begann Skall und Reena spürte bereits, wie ihr noch kälter wurde als ohnehin schon, und sie

spürte auch, dass ihrem Mentor die nächsten Worte nicht leicht über die Lippen kamen. „Wenn du zweifelst, sehe ich mich gezwungen, das Siegel zu entfernen.“ Reena schloss verzweifelt die Augen. Es war seine Pflicht. Sie versuchte, den Aufruhr in ihrem Inneren niederzuzwingen. Längst vergessen geglaubte Bilder von Flashs und Isaacs Gesichtern blitzten vor ihrem inneren Auge auf. „Nein, ich zweifle nicht“, versicherte sie Skall dann schweren Herzens. „Es ist nur … Jakob.“ Das war nicht gelogen. „Skall … du hast doch auch eine kleine Tochter“, sagte sie dann leise.

Einen Moment lang herrschte Stille. „Ja“, bestätigte Skall dann mit gefasster Stimme. „Machst du dir denn niemals Sorgen um sie?“ „Nein.“ Reena ließ niedergeschlagen den Kopf sinken. „Verstehe.“ „Sie ist die meiste Zeit bei ihrer Mutter“, sprach Skall nun weiter. Reena nickte, für sich, nicht für Skall. „Ich verstehe. Mach’ … mach’ dir keine Sorgen, Skall. Nicht um mich. Ich werde weiter arbeiten gehen. Versprochen“, sagte sie leise. „Ich habe mein Leben den Schatten verschrieben und ich werde

den Pakt niemals brechen.“ Sie stand auf, nahm sich ein Handtuch und wickelte es um ihren Körper, dann öffnete sie die Tür. „Das hoffe ich sehr“, sagte Skall, der nun genau vor ihr stand. „Ich schwöre es.“ „Gut.“ Skall nahm ihr Gesicht in seine Hände und gab Reena einen Kuss auf die Stirn. Seine Schülerin sah zu ihm auf und ein schwermütiges Lächeln erhellte ihrer beider Gesichter, als sie die kalte Haut des jeweils anderen an ihrer eigenen spürten.

~ (9. Mai 2018, 07:00 Uhr) Sie hatten sich für den Rest der Nacht schlafen gelegt, um sich am nächsten Tag erneut den Aufzeichnungen von Ashleys Vater widmen zu können. Die Euphorie allerdings war verflogen. „Dafür wirst du bestimmt rausfliegen“, meinte Saskia verärgert, als Ash den schweren Aktenkoffer auf den Wohnzimmertisch hievte und ihn dann öffnete. „Unsinn“, meinte Ashley und nahm erneut das Notizbuch hervor. „Dafür

werd’ ich nicht einfach nur rausfliegen“, fügte er dann düster hinzu. „Allein danach zu fragen hat ja immerhin schon genügt, um mir zwei Meuchelmörder auf den Hals zu hetzen.“ „Zwei?“, wiederholte Saskia verwundert. „Na ja, ich gehe davon aus, dass du ihnen noch nicht bekannt bist“, erwiderte Ash. „Also ja. Diese merkwürdigen Schleicher waren beide für mich gedacht.“ Er hielt inne. „Allerdings kennen sie dich jetzt auch. Dass sie entkommen konnten, ist wirklich ärgerlich.“ „Großartig“, schnappte Saskia. „Dann hast du mich da jetzt also auch noch

reingezogen!“ Ash hob verwundert den Blick. „Aber du hast doch freiwillig mitgemacht.“ „Konnte ich denn ahnen, dass ich in eine so große Sache verwickelt werden würde, die mit einem Attentat auf mein Leben endet?“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe. „Und das alles nur, weil du mal wieder deine riesige Klappe nicht halten konntest!“ Ashs Augen wurde schmal. Mit einem Mal fand er die Anschuldigungen seiner Freundin nicht mehr amüsant. „Ach, ist das deine Lebenseinstellung?“, fauchte er. „Einfach mitspielen und brav Pfötchen geben, egal wie offensichtlich gemogelt

wird?“ „Na komm, so offensichtlich war es nun auch wieder nicht“, entgegnete Saskia. Ashley spürte, dass ihm gleich der Kragen platzen würde. „Mein Vater hat etwas herausgefunden, er wurde dafür ermordet und als ich, sein Sohn, danach gefragt habe, wurden mir zwei Auftragskiller auf den Hals gehetzt! Klingt das für dich etwa nach fairem Spiel?“ Saskia schenkte ihm einen abschätzigen Blick und verschränkte dabei die Arme vor der Brust. „Vielleicht war ja auch dein Vater der Verräter. Und dann ist es doch ganz natürlich, dass …“ „Wie bitte?“, fuhr Ash ihr zornig

dazwischen. „Mein Vater soll ein Verräter gewesen sein? Du hast ihn doch noch nicht einmal gekannt!“ „Ich sagte ,vielleicht‘“, erklärte Saskia kühl. Ash sah sie finster an. „Das wichtigste bei den Goldenen Falken ist Geheimhaltung und Loyalität“, fuhr die junge Frau dann fort. „Was du hier tust, verletzt beide Gebote. Und damit du es endlich schnallst – ich bin damit nicht einverstanden und werde mich nicht weiter für deine egoistischen und offensichtlich vollkommen wahnsinnigen Ziele einspannen lassen.“ Abrupt stand sie auf.

Das war der Moment, den Ash hatte kommen sehen. „Schön, dann geh’ doch!“, rief er zornig aus und wandte sich wieder demonstrativ den Büchern zu. „Das werde ich“, antwortete Saskia und wandte sich ab. Da sprang Ash auf. „Du wirst doch keinem was sagen, oder?“, fragte er atemlos. Saskia blieb im Flur stehen. „Ich werde wohl keinem noch sagen müssen, dass du es warst, der die Aufzeichnungen gestohlen hat. Aber ich werde den Goldenen Falken auch weiterhin Rede und Antwort stehen, wie es meine Pflicht

ist.“ Ashs Blick wurde noch finsterer und er spürte auch einen Stich in seiner Herzgegend. „Wehe dir, du verlierst auch nur ein Sterbenswörtchen über das hier“, knurrte er dann drohend und seine Hand wanderte zum Heft seines Katanas. „Ich dachte, du wärst meine Freundin!“ Saskia wandte sich zu ihm um und der Blick ihrer blauen Augen war kalt wie Eis. „Wie naiv“, sagte sie dann mit einem falschen Lächeln. „Sorry, aber meine Loyalität gilt seit meiner Ausbildung nur Meister Lane und den Goldenen Falken.“ Ash knirschte mit den Zähnen, während es in seinem Kopf ratterte. Dass seine

„Freundin“ so plötzlich eine neue Seite von sich aufzeigte, ging kaum in seinen Denkapparat. Ja. Er war zutiefst enttäuscht und furchtbar wütend. „Warum hast du mir denn dann bisher überhaupt geholfen?“, fragte er darum und versuchte, sie nicht sehen zu lassen, wie sehr er verletzt war. „Tja … jetzt kann ich den Falken wohl alles haarklein berichten.“ Ashleys Augen wurden groß. „Du falsche Schlange … Das wagst du nicht!“ „Warum sollte ich es nicht wagen?“, wollte Saskia verwundert wissen. Im nächsten Augenblick hatte Ash seine ehemalige Partnerin an die Wand gestoßen, die Klinge seines Katanas an

ihrem Hals. „Weil ich dich dann töten werde“, zischte er. Saskia lächelte nur. „Das bezweifle ich.“ Ash spürte den Lauf einer Pistole an seiner Brust. Er biss sich auf die Unterlippe. „Das hast du alles geplant, von Anfang an“, sagte er und nun konnte er seine Enttäuschung nicht länger verbergen, doch eigentlich wollte er das auch gar nicht. Er war ja auch nur ein Mensch. „Hm … nein“, sagte Saskia zu seiner Überraschung und sie zog die Pistole ein Stück zurück. „Um ehrlich zu sein habe ich mich gerade eben erst entschieden, auszusteigen. Weißt du, warum? Ich habe

diesen Wahnsinn in deinen Augen gesehen … du bist bereit, uns alle zu verraten. Ich entscheide mich nun Mal für die andere Seite. Sieh es ein, Ash.“ Ash schluckte, schnaubte. „Das wirst du noch bereuen!“, fauchte er zornig. „Ich bin sehr gespannt darauf“, flötete Saskia und verließ ungehindert seine Wohnung. Ashley blieb zähneknirschend zurück und fühlte sich wie gelähmt. „Ach, verdammt!“, schrie er dann und schleuderte sein Schwert von sich, schlug gegen die Wand. „Ich hätte sie töten sollen. So werde ich derjenige sein, der den Löffel abgibt.“ Jetzt ist alles aus, dachte er müde.

Er schlurfte kraftlos zurück ins Wohnzimmer, sah zu dem offenstehenden Aktenkoffer. Was wird jetzt wohl passieren?, fragte er sich. Werden mich jetzt noch andere jagen? Mit Sicherheit. Was wird hier gespielt? Sind die Goldenen Falken jetzt plötzlich meine Feinde? Die Wahrheit werde ich nur erfahren, wenn ich mich jetzt beeile, dachte er. Er nahm das Tagebuch seines Vaters an sich, durchblätterte es nach Hinweisen, anschließend auch das Notizbuch für die Passwörter und auch das Telefonbuch. Vielleicht fand sich noch irgendwo eine versteckte Botschaft, doch Ash fand

nichts dergleichen. Dann schlug Ashley die erste Seite des Notizheftes auf, in dem James Reynolds’ wahre Erkenntnisse zu dem Fall niedergeschrieben waren, das, in dem auch die Widmung stand. Ich schreibe im Jahr 2010. Die Todesfälle, die sich bereits seit Jahren immer wieder ereignen, sind und bleiben mysteriös. Raubmorde lassen sich ausschließen und auch um Terroristen handelt es sich nach meiner Meinung nicht. Kein Diebstahl, keine Forderungen. Als ginge es nur um den Tötungsakt an sich. Ash seufzte. Das waren die Gedanken seines Vaters und sie glichen seinen

eigenen viel zu sehr. Seit Jahren gingen die Goldenen Falken diesen Morden nach und das waren die einzigen Ergebnisse. Je öfter Ash sich das vor Augen führte, desto deprimierender wurde es. Nein, halt, sagte Ash sich da. Die Goldenen Falken werden möglicherweise schon seit langem manipuliert. Er dachte an die Widmung seines Vaters. Ash hob den Blick und sah sich kurz um. Die Meuchelmörder, die ihn und Saskia zwei Nächte zuvor angegriffen hatten … Eigentlich bestand kein Zweifel. Sie und andere ihrer „Art“ mussten es gewesen sein, die diese rätselhaften Morde verübt

hatten. Aber war er, Ash, nun ein zufälliges Opfer oder ein gezieltes gewesen, weil er in Dingen herumgeschnüffelt hatte, die ihn laut anderen nichts angingen? Vielleicht hatten sie es nicht geschafft, ihn zu töten, doch paranoid war er nun allemal. Er seufzte und wandte sich wieder den Einträgen seines Vaters zu. Es gab eine mehrwöchige Lücke zwischen den beiden Aufschrieben. Wir wissen nur, was wir bereit sind, zu erkennen. Warum sollen also nur die Morde, die mit Messern verübt worden sind und mit durchtrennten Kehlen endeten, zu dieser

Mordserie gehören? Die Anzahl der Toten und die Tatzeiten sowie die Tatorte lassen ohnehin nur auf zahlreiche Täter schließen. Das ist nicht das Werk eines Geisteskranken. Die Morde werden mit System verübt. Ich bin überzeugt, dass dies das Werk einer Organisation ist, die der unseren gar nicht so unähnlich ist. Dass sie sich ebenfalls der Magie bedienen, steht für mich bereits seit längerem fest. Wie sonst sollten sie all diese Menschen ohne jede Spur töten? Die Aufzeichnungen von vor acht Jahren. Nichts, das Ash nicht bereits wüsste.

Er blätterte weiter, las, blätterte. Es musste doch irgendwo relevante Informationen geben, irgendwo … Er gelangte schließlich zu den Einträgen von vor sieben Jahren. Heute habe ich etwas Interessantes erfahren. Es war das erste Mal, dass ich am Tatort anwesend sein durfte. Was ich heute herausgefunden habe, hat mich wirklich motiviert. Es hat zwei Tote gegeben, Mann und Frau, ein Ehepaar, seit etwa sechszehn Jahren verheiratet. Nichts absolut Bahnbrechendes natürlich, aber zwei Tote sind doch eher ungewöhnlich. Aber

das ist nicht der Punkt. Ich habe die Nachbarn befragt und erfahren, dass das Ehepaar einen Sohn im Alter von nur sechs Monaten und eine Tochter im Teenageralter hatte. Doch beide waren nicht aufzufinden. Ash runzelte die Stirn. Menschen waren verschwunden? Warum wusste er nicht davon? Eilig blätterte er weiter, der nächste Eintrag war nur einen Tag später entstanden. Seltsam. Ich sehe meinen letzten Eintrag, es ist meine Handschrift, meine Wortwahl, und doch habe ich das Gefühl, dieser Eintrag stamme nicht von mir.

Von dem ermordeten Ehepaar weiß ich, doch dass sie Kinder hatten … das haben mir die Nachbarn nicht gesagt. Ist das nicht verrückt? Na ja … ich denke, ich verstehe. Jemand hat an meinen Gedanken herumgepfuscht, meine Erinnerungen manipuliert. Doch über meine Gedanken, die ich auf Papier niedergeschrieben habe, hat er keine Macht. Diese Erkenntnis macht mich sehr betroffen, doch ich sollte jetzt Vorsicht walten lassen. Ich werde mein Tagebuch versiegeln, damit niemand die Wahrheit trüben kann.

Ash schluckte. Sieben Jahre war das her … Er schlug die nächste Seite auf. Jetzt, da ich mein Gedankengut für die Ewigkeit gesichert habe, kann ich folgendes für dich, Ash, festhalten. Dieser neue Meister, dieser Richard Lane, stinkt für mich ganz gewaltig. Ich bin sicher, er hat mich manipuliert und mit den anderen wird er es genauso machen. Egal, wann du das in die Hände bekommst, Ash … Falls Lane noch immer unter den Lebenden weilt, nimm dich vor ihm in Acht.

Siebtes Kapitel

(11. August 2011, 00:00 Uhr) Es war der nächste Tag und wieder holte Skall Reena von zu Hause ab, nachdem sie dort zusammen mit ihrem kleinen Bruder die Nacht verbracht hatte. Sie war ins Bett gefallen wie ein Stein und sofort eingeschlafen, bis Jakob sie geweckt hatte, weil er Hunger hatte. Den verbleibenden Tag hatte sie damit zugebracht, vor dem Fernseher zu sitzen, doch wirklich auf das bunte Flimmern geachtet hatte sie nicht. Nein, vielmehr verfolgten sie die Eindrücke des letzten Tages … Eras zerschmetterter Körper, Isaacs und

Flashs Schreie … „Warum musst du mich eigentlich immer abholen?“, wollte Reena nun zaghaft wissen, während Skall erneut ein Portal öffnete, von dem Reena nicht wusste, wohin es führen würde. „Ganz einfach“, antwortete dieser ihr. „Ich bin dein Mentor und als solcher trage ich die Verantwortung für dich. Außerdem werde heute ich derjenige sein, der dich trainiert.“ Reena hob überrascht den Blick. „Und was … was ist mit Solitude?“ „Er war nur für die Selektion zuständig“, erwiderte Skall und sah nun seine Schülerin an, während das Portal vor ihnen geduldig auf sie wartete.

„Solitude kann euch nicht alle auf einmal unterrichten. Ab jetzt kommen wir Mentoren ins Spiel, allerdings wird er noch immer ein Auge auf uns haben. Auf uns alle. Daher ist es besser, wenn du heute alles gibst.“ Reena schluckte, dann nickte sie hastig und auf Skalls Zeichen hin trat sie durch das Portal und fand sich in einem weißen Raum wieder. Natürlich, weiß. Sie hob den Blick und bemerkte, dass sich ihre Kameraden ebenfalls schon in diesem Raum aufhielten, genauso wie deren Mentoren, stumme und erhaben wirkende Gestalten. Reena schluckte erneut, die Luft schien so dick zu sein, dass sie kaum atmen

konnte, doch als sie Lotus’ Blick auffing und diese ihr scheu zulächelte, erwiderte sie die Geste schwach. Dann bemerkte sie, dass Solitude in der Mitte des Raums stand, die Arme hinter dem Rücken, aufrecht, beinahe majestätisch. Sein Blick glich dem eines Adlers. „Nun, da alle diejenigen, deren Körper und Geist zu schwach gewesen sind, um in den Schatten zu wandeln, aussortiert wurden, beginnen wir heute damit, euch zu vollwertigen Schattenläufern auszubilden“, erklärte er sogleich mit fester Stimme. „Dies wird nicht nur eine Prüfung für diejenigen, die unserem Bund gerade eben erst beigetreten sind, sondern auch

für jene, die heute zum ersten Mal einen Novizen unterrichten.“ Er klatschte auffordernd in die Hände, sodass Reena unwillkürlich zusammenzuckte. „Und nun beginnt das Training!“ Kaum dass er diese Worte ausgesprochen hatte, fasste Skall nach Reenas Handgelenk und zog sie in Richtung Wand, Reena ließ sich überrascht mitziehen. Der Raum war kreisrund und in derselben Form waren massive Metallklötze angereiht, zumindest sahen sie so aus. Sie waren mindestens einen Meter groß und genauso breit, vermutlich sogar perfekte Würfel aus unnachgiebigem Material.

Zu einem solchen Klotz zog Skall nun seine junge Schülerin. „Und was jetzt?“, fragte das Mädchen verwundert. „Du lernst jetzt, was uns Schattenläufern unseren Namen gegeben hat“, erklärte Skall und kniete sich auf den Boden, vor den Schatten, den der Metallklotz auf den weißen Boden warf. „Sieh hin.“ Er berührte den schwarz verfärbten Boden mit beiden Händen und kurz darauf tauchte er darin ein, als wäre der Schatten dunkles Wasser. Reenas Augen wurden groß vor Erstaunen. „Wahnsinn! Wie ist das möglich?“

„Ein Geschenk unseres Herrn“, erwiderte Skall ruhig. „Er schenkt uns ein neues Leben und fortan sind wir in der Lage, mit seinen Kindern, den Schatten, zu verschmelzen.“ Er stand wieder auf und machte dann einen Schritt nach vorne, tauchte einfach so vollständig in den Schatten ein, sodass nichts mehr davon zeugte, dass Skall jemals dagewesen war. Reena trat vorsichtig näher. „Und … wo bist du jetzt?“, fragte sie zögerlich. „Skall?“ Skalls Kopf tauchte wieder aus dem Boden auf und er sah Reena an. „Ich bin genau hier, in diesem Schatten. Ich kann

sehen und hören, nur sprechen kann ich nicht.“ Er hob die Arme aus dem materielosen Schwarz und stemmte sich dann auf dem weißen Boden in die Höhe, es sah aus, als kletterte er aus einem gewöhnlichen Schwimmbecken. Reena wich ehrfürchtig zurück, doch zugleich spürte sie eine seltsame Aufregung in ihrem Inneren. Was sie eben gesehen hatte, faszinierte sie. Sie zuckte zurück, als sie bemerkte, wie nah Skall ihr mit einem Mal gekommen war und wie ein Kaninchen sah sie zu ihm auf. „Jeder Schatten kann dein Verbündeter sein“, sagte Skall nun. „Auch mit deinem Schatten kann ich verschmelzen,

vielleicht sogar, ohne dass du es bemerkst.“ Reena schluckte und versuchte, nicht länger darüber nachzudenken, was für eine Macht ihm das verlieh. „Was ist mit deinem eigenen Schatten?“, wollte sie stattdessen neugierig wissen. „Kann dein Schatten ohne dich existieren?“, stellte Skall kühl die Gegenfrage. Reena stockte. „Was? … Äh … nein“, stotterte sie dann. „Wie also willst du in deinen eigenen Schatten eintauchen?“ „Ja, das … das macht wohl Sinn“, gab Reena leise zu. „Allerdings … ist es kein Ding der

Unmöglichkeit“, sagte Skall da plötzlich. Reena sah auf. „Man kann mit seinem eigenen Schatten verschmelzen?“, fragte sie verblüfft. „Es gibt nur acht Schattenläufer weltweit, die dazu in der Lage sind, ja“, bestätigte Skall und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie alle hatten mehr als einhundert Jahre Zeit, um es zu erlernen. Man nennt sie auch Schattenwandler. Sie können selbst zu ihrem Schatten werden und unabhängig von anderen Schatten umherstreifen. Solitude ist einer von ihnen.“ Reena machte große Augen und blickte zu ihrem Ausbilder. Er war also ein …?

Sie zuckte zurück, als hätte sie allein der Blick seiner kalten Augen verbrannt, als er sie plötzlich ansah. Skall hatte ihre Reaktion wohl bemerkt. „Die Acht sind unglaublich mächtig und du bist dazu verpflichtet, ihnen den angemessenen Respekt zu zollen“, erklärte er. „Ja, ich … ich verstehe“, stammelte Reena und senkte den Blick. „Genug geredet“, sagte Skall da und deutete auf den Schatten. „Es ist Zeit, dass du lernst, in den Schatten zu wandeln.“ Sein Blick war hart wie Stahl. „Enttäusche mich nicht, Reena.“ Reena schluckte zum wiederholten Mal, dann nickte sie tapfer, trat an den

Schatten heran, kniete sich auf den weißen Boden, so wie Skall es zuvor auch getan hatte. Doch schließlich zögerte sie, schloss für einen Moment die Augen, rang mit sich. „Aber … ich weiß doch gar nicht, was ich tun muss“, sagte sie schließlich leise und verzagt. „Das sagen sie alle“, meinte Skall daraufhin nur. „Doch seitdem du dein Blut dem Herrn geschenkt hast, bist du eines seiner Kinder. Du bist bereits ein Schatten, Reena.“ Und wie soll mir das jetzt helfen?, fragte Reena sich beinahe panisch, doch schließlich legte sie beide Handflächen vor sich auf den Boden, vorsichtig und zaghaft. Nichts geschah, sie spürte

deutlich die unwirkliche Fläche der Raumillusion. Sie schloss verzweifelt die Augen und sagte sich, dass sie hier auf keinen Fall versagen durfte. Sie schrie erschrocken auf, als sie plötzlich vornüber kippte, als der Boden unter ihren Händen nachgab, als wäre er von einem Augenblick auf den anderen einfach verschwunden. Es war wie ein Sturz ins Wasser, nach dem man nicht mehr wusste, wo unten und wo oben war, doch zugleich war es natürlich kein bisschen nass, es war nicht kalt und nicht warm. Reena sah Skall, als läge sie ausgestreckt auf dem Boden. Sein Blick war ernst, die Arme hielt er

noch immer vor dem Oberkörper verschränkt. „Du bist wirklich gut“, sagte er da. „Nur wenige können so schnell mit einem Schatten verschmelzen.“ Schnell?, dachte Reena und freute sich auf eine merkwürdige Weise über Skalls Worte. Skalls Blick veränderte sich minimal, wurde ein wenig ernster und zugleich wirkte er … besorgt? „Falls du mich übrigens nicht sehen kannst, verfalle auf keinen Fall in Panik. Stell’ dir einfach vor, es wäre Wasser und kehre an die Oberfläche zurück …“ „Ich kann dich sehen“, wollte Reena sagen, doch kein Wort kam ihr über die

Lippen. Sie erinnerte sich an das, was Skall ihr zuvor noch gesagt hatte. Ich kann sehen und hören, nur sprechen kann ich nicht. Reena überlegte. Stell’ dir einfach vor, es wäre Wasser und kehre an die Oberfläche zurück. Es kostete sie einige Anstrengung, doch schließlich schaffte Reena es, sich aus dem Schatten aufzurichten, nach dem Rand zu tasten und sich nach oben zu drücken. Verwundert hob sie den Kopf, als sie Skalls Hand bemerkte, die er ihr hinhielt. Reena zögerte nicht lange und ergriff sie und ließ sich aus dem Schatten helfen. „Eine beachtliche Leistung“, sagte nun plötzlich eine weitere Stimme, die Reena

erschrocken zusammenfahren ließ. Solitude stand vor ihnen. „Bisher bist du noch etwas unscheinbar gewesen, doch das Wandeln in den Schatten scheint dir zu liegen … Reena.“ Als er ihren neuen Namen aussprach, bekam Reena eine Gänsehaut und sie senkte demütig den Blick, sie konnte ihm einfach nicht ins Gesicht sehen. Schließlich fiel Solitudes eiskalter Blick auf Skall. „Du hast bisher noch nie einen Nichtsnutz herangezogen, Skall“, sagte er. „Ich hoffe, das Glück bleibt dir auch jetzt noch hold.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und schritt weiter. Reena sah zu Skall auf. „Wäre es

schlimm, wenn ich versage?“, fragte sie ihn leise. Skall erwiderte ihren Blick ruhig. „In den folgenden Lektionen würdest du mit deinem Leben bezahlen. Auch mit deinem zweiten“, sagte er nur. Reena nickte. Damit hatte sie gerechnet. Sie wusste, dass ihr Leben permanent auf Messers Schneide stand. Uns bleibt nur der Tod … „Und … für dich?“, fragte sie dann weiter. Über Skalls Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. „Niemand unterrichtet gerne Versager“, sagte er dann nur trocken. Er nickte zur anderen Seite des Raums. „Sieh dir mal die da drüben an. Sehen nicht gerade glücklich

aus, was?“ Reena folgte seinem Blick. Gegenüber von ihnen standen Cloud und sein Mentor, beide sahen so aus, als hätten sie hochrote Köpfe gehabt, wenn denn noch Blut in ihren Adern geflossen wäre. Allerdings war es unverkennbar, dass Clouds Meister vor Wut kochte, auch seine Schimpftiraden konnte Reena deutlich verstehen und sie zog unwillkürlich den Kopf ein. Cloud hingegen wirkte, als wollte er am liebsten im Boden versinken, buchstäblich und wortwörtlich. „Was soll denn das?“, fragte Reena Skall leise. „Es ist doch nicht schlimm, wenn man das Schattenwandeln nicht

sofort beherrscht, oder?“ Sie sah zu Jäger, der noch immer versuchte, in den Schatten einzutauchen, jedoch ohne Erfolg. Seine Meisterin stand neben ihm und sprach ruhig auf ihn ein. Und auch Fire schien noch Probleme zu haben, doch auch ihr Meister legte viel Ruhe an den Tag. „Nein, ist es nicht“, antwortete Skall seiner Schülerin. „Doch Meister Secrecy ist einer der acht Schattenwandler, von denen ich dir vorhin berichtet habe, und sehr streng.“ „Also … ist er wie Solitude?“, hakte Reena nach. „Warum ist er dann Clouds Mentor?“ „Wir bilden Zeit unseres Lebens neue

Schattenläufer aus. Secrecy ist bereits seit einhundertzweiunddreißig Jahren ein vollwertiger Schattenläufer und er hat bereits ebenso viele Lehrlinge herangezogen. Damit hält er den Rekord.“ Er machte eine kurze Pause, dann sah er Reena ernst an. „Und ich bin einer von ihnen.“ Reena sah ungläubig zu ihrem Mentor auf. „Du … du bist der Lehrling von diesem … Schattenwandler?“ Sie wusste kaum, was sie sagen sollte, blickte kurz zu Boden und entsann sich dann, welch vergleichsweise hohe Zahl Skall ihr eben genannt habe. „Einhundertzweiunddreißig?“, wiederholte sie ebendiese Zahl leise und

zugleich kam ihr eine neue Frage. „Und … wie viele hast du?“, wollte sie vorsichtig wissen. Skall lächelte mild. „Ich habe nur drei, dich eingeschlossen.“ Reena zögerte für einen Moment, wusste nicht, wie weit sie gehen durfte. „Und … wie lange bist du schon ein Schattenläufer?“, fragte sie dann dennoch. „Seit fünfzehn Jahren.“ Reena nickte verstehend. „Jeder Schattenläufer muss mindestens einen Neuling rekrutieren“, erklärte Skall. „Erst dann ist er ein vollwertiger Schattenläufer. Die Probezeit beträgt acht Jahre.“

Reenas Augen wurden groß. „Acht Jahre?“, echote sie entsetzt. „Das ist ziemlich lange!“ „Nicht, wenn man unsterblich ist“, erwiderte Skall trocken. Reena verstummte. Ja, vermutlich hatte Skall Recht. Sie schwieg und sah Skall noch einmal in die Augen, in diese tiefschwarze Iris, die keine Pupille mehr erkennen ließ und die sich scharf von seinem weißen Augapfel abhob. Er war … plötzlich so anders. Er erschien ihr gar nicht mehr so kalt und abweisend. Vielmehr … wirkte er vertraut. Vertrauter als all diese anderen

seelenlosen Gestalten um sie herum jedenfalls. Sie hoffte, in ihm tatsächlich einen Mentor gefunden zu haben. Nachdem es auch dem letzten jungen Schattenläufer gelungen war, in die Schatten einzutauchen, erklärte Solitude das Training für beendet und nach und nach verließen die Mentoren zusammen mit ihren Schülern den Trainingsraum. So auch Skall und Reena. Als sie wieder in Reenas Wohnung standen, zögerte Reena für einen Augenblick, wusste nicht, was sie sagen wollte. „W-willst du … also … möchtest du noch kurz hierbleiben?“, fragte sie dann stotternd und senkte den Blick, weil sie sich dumm vorkam.

„Gern“, antwortete Skall zu ihrer Überraschung. Sie lächelte knapp. „O-okay. Ich muss mich nur kurz im Jakob kümmern …“ Mit diesen Worten eilte sie den Flur entlang in Jakobs Kinderzimmer. Sie wusste, es war nicht richtig, doch sie musste Jakob stets alleinlassen und konnte sich erst wieder um ihn kümmern, wenn sie zurück war. Die Babynahrung stand schon bereit und nachdem sie ihn gewindelt hatte, begann sie, ihren kleinen Bruder zu füttern. „Du liebst ihn sehr, nicht wahr?“, fragte Skall da und Reena schreckte auf. „J-ja, natürlich! Er ist … immerhin alles,

was mir geblieben ist …“ Sie biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, ob es in Ordnung war, so zu denken. „Ich habe eine kleine Tochter, so alt wie er“, sagte Skall da. Reena sah ihn überrascht an. „Aber … du bist doch schon seit fünfzehn Jahren …“ „Ich habe nochmals geheiratet“, erklärte Skall ihr. „Eine Frau, mehr als zwanzig Jahre jünger als ich. Am Anfang war es nicht mehr als eine Tarnung, eine Wiedereingliederung in die Menschenwelt.“ Er schwieg und sah Reena vollkommen ruhig an. „A-aber …“ Reena blinzelte. „Aber geht das

denn?“ Skall schmunzelte. „Ja, das geht. Es fühlt sich gut an, nicht alleine zu sein, nicht wahr?“ Reena schluckte und legte Jakob zurück in sein Kinderbett, deckte ihn behutsam zu. „Ja“, stimmte sie Skall schließlich zu und senkte beschämt den Blick. „Aber … können wir denn … also … können wir Schattenläufer denn noch irgendetwas fühlen?“ Skall stieß sich vom Türrahmen ab und kam auf Reena zu, die ehrfürchtig einen Schritt zurückmachte und aus großen Augen zu ihm aufsah. „Ja, wir können“, bestätigte Skall dann und als Reena mit dem Rücken an das Gitterbett stieß und

nicht noch weiter zurückweichen konnte, legte er seine Hand auf ihre Wange und seine Lippen auf ihre. Es war nur eine federleichte Berührung, doch überrascht stellte Reena fest, dass dieser Kontakt ganz anders war als kaltes oder warmes Wasser, dessen Temperatur sie mit ihrem gefühlstauben Körper nicht mehr feststellen konnte. Es fühlt sich noch immer kalt an, dachte Reena im Stillen, während sie für einen einzigen Moment die Augen schloss. Aber es fühlt sich gut an … nicht mehr ganz so tot

… ~ (9. Mai 2018, 19:00 Uhr) „Guten Abend“, begrüßte Reena Knife, als sie an diesem Abend an den Empfang des Hauptquartieres trat, um einen neuen Auftrag entgegenzunehmen. „Abend“, erwiderte der junge Schattenläufer freundlich, doch sein Blick war ernst, so ernst, dass es selbst für ihn ungewöhnlich war. „Ich fürchte, du bist heute umsonst hier, Reena.“ „Was?“, fragte Reena verblüfft. Knife hob langsam die Schultern und blickte auf die aufgeschlagenen Ordner

vor sich, doch nur leere Klarsichthüllen lagen obenauf. „Die Acht haben heute noch keine neuen Namen rausgegeben und ich bezweifle stark, dass wir da heute noch irgendetwas erwarten können.“ Reena runzelte die Stirn. Das war das erste Mal seit ihrer Ausbildung, das erste Mal in sieben Dienstjahren, dass es nichts zu tun gab. „Ist etwas passiert?“, wollte sie schließlich wissen und unwillkürlich dachte sie an das, was Skall ihr anvertraut hatte. „Ja, ich schätze schon“, erwiderte Knife und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. „Aber was es auch ist, wir Nichtvollwertigen werden die letzten

sein, die davon erfahren.“ Reena nickte verstehend. „Also hast du auch keine Ahnung, was hier vor sich geht“, murmelte sie. Ja, so lange sie keinen eigenen Lehrling zu den Schattenläufern bekehrt hatten, wurden sie von den meisten Schattenläufern übergangen und von oben herab behandelt, Rechte hatten sie nahezu keine. Sie standen, nach den Lehrlingen, die ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatten, ganz unten in der unbarmherzigen Hierarchie der Schattenmörder. Reena wandte sich um und erst jetzt bemerkte sie, wie leer das Hauptquartier war. Alle, die noch unterwegs waren,

waren sehr hektisch, eindeutig Anfänger, noch unerfahrener als sie, die ebenfalls noch ihren Platz in der Welt der Schatten finden mussten. In dem Getümmel jedoch entdeckte sie drei bekannte Gesichter und eines davon verursachte ihr ein unangenehmes Schaudern, allein seine Anwesenheit ließ sie sich unwohl fühlen. Secrecy, Skall und Cloud kamen auf sie zu. „Siehst du das?“, fragte Knife da mit gedämpfter Stimme und Reena blickte überrascht über ihre Schulter. „Da. Cloud hat noch immer keine Prothese bekommen.“ Reena sah wieder zurück und bemerkte

den hässlichen Armstumpf, der Cloud geblieben war. Sie nickte schwach, um Knife zu signalisieren, dass sie es gesehen hatte. „Das ist mit Sicherheit eine Strafe von Secrecy“, raunte Knife. „Er will, dass alle das Versagen seines Schülers sehen können. Elender Bastard.“ Reena schluckte, doch sie unterdrückte den Impuls, Knife für seine unhöflichen Worte zurechtzuweisen, denn in ihrem Inneren stimmte sie ihm zu. Secrecy war das Letzte. Als die drei näherkamen, trennte Secrecy sich zu Reenas großer Erleichterung von seinen Schülern und Cloud und Skall kamen vor Reena und

Knife zum Stehen. Cloud umfasste in einer beinahe schützenden Geste den Stumpf seines linken Armes, den er nur mit einem Tuch abgedeckt hatte, damit man den bloßen Knochen und das zerschnittene Fleisch nicht sah. Reena kam nicht umhin, Mitleid mit ihm zu empfinden. Es kam selten vor, dass Schattenläufer verletzt wurden, doch wenn es geschah, wurden die Spuren davon meistens nach allen Möglichkeiten vertuscht. Da keine ihrer Wunden mehr heilte, war man darauf vorbereitet, Schusswunden mit Wachs zu stopfen, Schnitte mit Farbe zu übermalen oder eben sogar neue Körperteile anzufertigen.

Doch auch das schwarze Loch in Clouds weißer Stirn war noch nicht übertüncht worden und dabei waren so glatte, saubere Wunden eigentlich keine große Sache. „Ja … das … Secrecy hat mir verboten, was dagegen machen zu lassen“, stammelte Cloud, als er Reenas Blick bemerkte, und seine Hand krampfte sich um das, was von seinem Arm übriggeblieben war. Sein Blick war, obwohl schwarz und seelenlos, unglücklich. Reena sah ruckartig wieder auf. „Das … Entschuldigung“, stotterte sie verlegen und biss sich auf die Unterlippe, ihr

Blick blieb unwillkürlich an Clouds Kopfwunde hängen. Die Schattenläufer waren eine Armee aus unerschütterlichen Kriegern, Kämpfern, die der Dunkelheit dienten und sich mit den Schatten einer fremden Welt verbündet hatten. Wunden waren stets ein Zeichen der Schwäche. Und Secrecy hatte Cloud verboten, sein Versagen zu verschleiern und vor den Augen der anderen Schattenläufer zu verbergen. Ja, Reena gab Knife im Stillen Recht. Secrecy war ein herzloser Bastard. Skall legte Cloud einen Arm um die Schulter. „Nimm es nicht so schwer“, meinte er gutmütig. „Du hast dein Bestes

getan und diese Goldenen Falken sind nicht zu unterschätzen.“ Reena schmunzelte, als sie das sah. Dass Skall und Cloud den gleichen Mentor hatten, machte sie in gewisser Weise zu Brüdern – oder in ihrem Fall zu Leidensgenossen. „Wisst ihr denn zufällig, warum es heute keine Aufträge gibt?“, wollte Reena nun an die beiden Neuankömmlinge gewandt wissen. Skalls Miene veränderte sich schlagartig und sein Blick wurde ernst. „Oh ja. Weißt du noch, was ich über die entwendeten Informationen gesagt habe?“, fragte er seine Schülerin. „Die Acht haben entschieden, dass der von uns

eingeschleuste Spion, der unter dem Namen Richard Lane agiert hat, dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Alle vollwertigen Schattenläufer haben die Pflicht, sich heute zum Verfahren einzufinden. Näheres ist mir allerdings auch noch nicht bekannt. Jedoch werde ich natürlich hingehen“, erklärte Skall. „Ein Verfahren“, murmelte Reena. Bisher hatte sie so etwas noch nie miterlebt, doch bei der Härte, mit der die Acht agierten, konnte ein „Verfahren“ nichts Gutes bedeuten. Knife verschränkte die Arme vor der Brust. „Ein Verfahren?“, echote er. „Ja“, bestätigte Skall. „Wenn ihr wollt, könnt ihr es euch ansehen“, meinte er.

„Für die Anerkannten unter uns ist es eine Pflicht, und euch wird es nicht schaden.“ Reena nickte. „Alles klar, ich bin dabei“, entschied sie. Skall erwiderte ihr Nicken und öffnete ein Portal, durch das sie alle vier in einen typischen Gerichtssaal gelangten, der sich jedoch ganz in schwarz und weiß präsentierte. Reena schluckte, als sie die vielen in schwarz gekleideten Gestalten auf den weißen Bänken sah. Seit sieben Jahren ist mein Leben als Schattenläuferin bitterer Ernst, dachte sie. Aber das hier … das hier stellt irgendwie alles in den Schatten.

Sie folgte Skall zusammen mit Cloud in eine der Sitzreihen, nur Knife erspähte seinen Mentor und entschuldigte sich, trennte sich von ihnen. Cloud jedoch hielt sich an Skall, was Reena nur zu gut verstand. Sie hätte auch möglichst viel Abstand von diesem tyrannischen, kaltherzigen Monster gehalten, wäre sie an seiner Stelle gewesen. „Bist du schon einmal hier gewesen?“, wollte Cloud von Skall wissen, als sie schließlich in einer Reihe saßen und eine Weile schweigend geradeaus geblickt hatten. „Nein, noch nie“, antwortete Skall. „Dieser Saal ist schon seit mehr als

dreißig Jahren nicht mehr benutzt worden. Ihr seht also, wie prekär dieser Fall ist.“ Reena atmete noch einmal tief durch. Die Schattenläufer waren unerbittlich und die acht Mächtigsten unter ihnen waren vollkommen emotionslose, von Dunkelheit umgebene Bestien. Was würde sie hier also erwarten? Wie würden die Schattenläufer mit jemandem verfahren, der in ihren Augen ein Verbrechen begangen hatte? Und vor allem … was für ein Mensch musste dieser Richard Lane sein, dass er es wagte, die Acht zu erzürnen? Verrat, hatte Skall ihr anvertraut. Dieser Mann, der den Namen Hound trug, hatte

die Acht verraten? Er musste ein wirklich großer Narr sein, oder größenwahnsinnig. Reena bemerkte eine große silberne Uhr über der Tribüne, deren großer Zeiger im nächsten Moment lautstark auf die Zwölf sprang. Auf die Sekunde exakt öffneten sich in diesem Augenblick unsichtbare Türen hinter den hölzernen Pulten und die acht ältesten Schattenläufer, darunter Secrecy und Solitude, ließen sich auf ihren Plätzen nieder. Sie wirkten dabei wie immer erhaben und majestätisch, allein ihre Anwesenheit wirkte auf jeden niederen Schattenläufer einschüchternd und respekteinflößend.

Eine gewöhnliche Schattenläuferin folgte ihnen, sie führte einen etwas älteren Mann vor sich her. Es musste sich bei ihm um Richard Lane handeln, den Kerl, der die Missgunst der Acht auf sich gezogen hatte. Er war gefesselt, ging gebeugt. In Reenas Augen wirkte er wie ein bemitleidenswerter alter Mann. Doch zugleich legte sie auch nachdenklich eine Hand an ihr Kinn. Es war davon auszugehen, dass es keine Zauber waren, die für sein Äußerliches verantwortlich waren. Er musste tatsächlich so aussehen. Schattenläufer, denen man ihr Alter

ansah, waren ungewöhnlich. Es bedeutete, dass sie ihr Leben nach ihrer Blütezeit der Dunkelheit verschrieben hatten, denn erst dann setzte der Alterungsprozess aus und ließ sich durch nichts wieder vorantreiben. Zumeist waren es jedoch junge, häufig sogar jugendliche Menschen, die ihre Seele opferten, um ein neues Leben in den Schatten zu begehen. Demnach stellte Richard Lane tatsächlich eine Rarität dar. Ob das wohl der Grund war, warum er als Spion eingesetzt worden war? Älteren trauten viele Menschen mehr als jungen und möglicherweise hatte ihm sein erfahrenes Aussehen zu der Position

verholfen, die er bei den Goldenen Falken bekleidet hatte. Reena sah auf, als eine der acht Schattenwandler bestimmend auf den Tisch klopfte und sich so augenblicklich alle Aufmerksamkeit verschaffte. Es war eine Frau mit dem selben ausgeblichenen Haar wie sie alle es hatten, und mit feurig rotschwarzen Augen, die sie als Schattenwandlerin auszeichnete. Ihr Name war Wisdom. „Wir haben uns heute hier versammelt, um das Strafmaß eines Verräters und Versagers bekanntzugeben und zu vollstrecken, das Strafmaß des Schattenläufers, der dreiundvierzig Jahre lang auf den Namen Hound hörte

und in Wahrheit William Baker heißt.“ Reena zuckte unmerklich zusammen, als sich eben genannter William Baker schmerzerfüllt krümmte, von der Schattenläuferin neben ihm jedoch wieder aufrichtet wurde. Reena biss sich auf die Unterlippe und zwang sich, weiter hinzusehen. Den wahren Namen eines Schattenläufers auszusprechen, kam bereits einer öffentlichen Geißelung gleich und Reena wusste mit einem Mal, das war erst der Anfang. Das hier … war kein Verfahren. Wie Wisdom es gesagt hatte – das Strafmaß stand bereits fest. Für William Baker gab es keine Rettung mehr. Das hier war

eine Hinrichtung. „Also“, fuhr Wisdom unerbittlich fort. „Neun Jahre sind vergangen, seitdem William Baker mit dem Auftrag betraut wurde, unseren größten und mächtigsten Feind zu infiltrieren. Sie nennen sich, wie wir alle wissen, die ,Goldenen Falken‘. Das Vertrauen der Acht in William Baker hätte eine besondere Ehre für ihn sein müssen, doch wie sich vor wenigen Tagen zeigte, wurde dieses Vertrauen von ihm jahrelang mit Füßen getreten.“ Reena schluckte. Sie foltert ihn, dachte sie. Sie spricht seinen wahren Namen mit aller Absicht aus, seinen ganzen Namen. Sie quält ihn. Und sie genießt es.

Wisdom blickte zu Solitude, der neben ihr saß. „Kommen wir zu den Umständen.“ Solitude nickte und erhob sich. „Sicher. Die Goldenen Falken sind, wie die meisten unter euch bereits wissen dürften, eine verbrecherische Organisation, die unseren Herrn schwächt und auf seine Kosten Magie benutzt, deren Treiben und Handeln von uns jedoch sechs Jahre lang genauestens kontrolliert werden konnten, und das allein durch William Baker, der es bis an die Spitze der Organisation schaffte und uns alle wichtigen Informationen zukommen ließ. Unser Ziel war es,

diesen Zusammenschluss von schändlichen Magiern langsam von innen heraus zu zerstören. Allerdings …“ Er sah zu der Schattenwandlerin, die einen Platz neben ihm saß. „Allerdings haben wir Grund zu der Annahme, dass William Bakers Loyalität nicht dem Bund der Schattenläufer, sondern nur sich selbst galt.“ Die zierliche Frau neben Solitude nickte und erhob sich ebenfalls, während Solitude sich wieder setzte. „Richtig“, sagte die Schattenwandlerin und nickte in die Menge. Reena glaubte sich zu erinnern, dass sie den Namen Envy trug. „Vor sechs Jahren jedoch zeigte sich unter den Goldenen Falken ein Magier

mit einem ,ganz besonderem Gespür‘.“ Sie blickte zu dem angeklagten Schattenläufer, der jedoch mittlerweile aussah wie ein Häufchen Elend. „Das waren ihre Worte, William. Möchten sie uns die Situation vielleicht selbst schildern?“ Der Alte nickte langsam und versuchte, seinen im Schmerz zusammengebissenen Kiefer wieder zu lockern. Schließlich brachte er nur stotternd einige Worte hervor. „S-sein Name war James Reynolds … Was er über unseren Bund herausfand, hätte uns alle zu Fall bringen und auslöschen können! Ich … ich habe uns gerettet!“, beteuerte William.

„Was haben sie mit ihm getan?“, verlangte Envy kühl zu erfahren. „Ich habe ihn mit meinen eigenen Händen umgebracht.“ „Und?“, hakte Envy mit einem wissenden Blick nach. Sie spielt mit ihm, dachte Reena und sie spürte ein starkes Gefühl des Unwohlseins in ihrer Magengegend. Dieses Spiel ist schon lange entschieden … „Er hatte all seine Nachforschungen magisch versiegelt, sodass ich sie nicht zerstören und sie zugleich auch nicht einsehen konnte“, brachte der Alte mühsam hervor.

„Und?“, wollte Envy wieder wissen. „R-Reynolds Sohn hat erneut Verdacht geschöpft“, stotterte der arme Mann. „Erneut?“ „Z-zum sechsten Mal“, gestand William resigniert. „Sechs Mal habe ich seine Erinnerungen manipuliert, sodass er immer wieder glaubte, sein Vater sei ohne Spuren in einem Autounfall ums Leben gekommen, doch immer wieder stand der Junge vor mir in meinem Büro und forderte erneut die Habseligkeiten seines Vater ein.“ „Warum haben sie ihn nicht gleich umgebracht?“, wollte Solitude kalt wissen.

„I-ich dachte, mit diesem Potential könnte er noch nützlich werden“, erwiderte William. „Und seit wann haben sie eigenmächtig Entscheidungen zu treffen?“, hakte Envy gefährlich ruhig nach. „Sie waren nichts weiter als unsere Marionette, William Baker.“ Noch einmal sprach sie seinen Namen aus und sie ließ sich besonders viel Zeit dabei. William wimmerte leise und wieder wollte er zu Boden sacken, doch die junge Schattenläuferin neben ihm zerrte ihn mit übermenschlicher Kraft wieder auf die Beine. „Und wie ging es weiter?“, verlangte nun

Wisdom zu erfahren. „I-ich beschloss, den Jungen zu töten“, stotterte der Mann nun leise wimmernd. „Und sie scheiterten“, sagte Wisdom ohne jede Emotion. „Nicht ich bin gescheitert“, erklärte William da. „Es waren diese beiden Jungspunde, die ich dafür anheuerte, jawohl, dieser Cloud und diese … Sunrise!“ Reena hob den Kopf und wechselte einen kurzen Blick mit Cloud. Wie erbärmlich, dachte Reena. Selbst in dieser Situation noch anderen die Schuld zuschieben zu wollen … er sollte eigentlich wissen, wie hoffnungslos seine Lage ist.

„Diese beiden jungen Schattenläufer waren Anfänger“, sagte Solitude ruhig. „Sie trifft keine Schuld. Stattdessen sind sie derjenige, der uns alle in Gefahr gebracht hat. Der junge Reynolds ist allein durch ihr närrisches Verhalten gewarnt gewesen.“ Reena hob erneut den Kopf. Mochte Solitude auch noch so kaltherzig und distanziert sein, sie bewunderte ihn für seinen Charakter, für sein Verhalten. Ganz gleich, wie unerbittlich er war, sein Urteil war zugleich auch gerecht und er setzte sich, anders als die Mehrzahl aller Schattenläufer, auch für die Unerfahrenen ein. Dafür respektierte

sie ihn. Secrecy, der ganz außen saß, nickte auf Solitudes Worte hin bestätigend. „Jawohl“, sagte er. „Und wie rechtfertigen sie eigentlich, dass sie uns all dies vorenthalten haben?“ Der alte Mann zitterte so sehr, dass Reenas es sogar aus der Entfernung sehen konnte. „Ich … ich wollte die Schattenwandler nicht mit lästigen Zwischenergebnissen langweilen …“ „Lächerliche Ausreden“, fuhr Secrecy ihm dazwischen. „Vielmehr haben sie doch vorgehabt, den Bund und unseren Herrn zu hintergehen und stattdessen die Goldenen Falken, die über gefährlich viel Macht verfügen, zu übernehmen.“

„N-nein!“, rief William entsetzt aus und hob flehend die Hände. „William“, sagte Solitude nun. „Sie sind in einer äußerst ungünstigen Lage.“ Da erhob sich Wisdom erneut. „Und aus diesem Grund, weil sie uns, den acht mächtigsten Schattenläufern, wichtiges Wissen vorenthalten und eigenmächtig gehandelt haben, ohne dass es ihnen zustanden hätte, lautet unser einstimmiges Urteil Entfernung des Siegels!“ Es war wie ein Hammerschlag in der Stille. Reena schluckte und schloss verzweifelt die Augen.

Zwei Mal war sie bei einer solchen Prozedur schon dabei gewesen, doch nie wieder wollte sie so etwas noch einmal miterleben. Die Siegelentfernung und damit die Tötung eines Schattenläufers war über alle Maßen grausam, allein dabei zuzusehen, war furchtbar. Sie spürte eine Hand auf ihrem Arm und öffnete die Augen. Skall neben ihr sah sie eindringlich an. „Sieh hin“, sagte er nur ruhig. „Es ist nicht richtig, die Augen zu verschließen. Sieh hin und sei dir bewusst, dass du niemals so enden möchtest und stattdessen immer tun wirst, was der Bund dir befielt.“

Reena schluckte erneut, dann nickte sie schwach. Sie atmete tief durch und wusste, jetzt war es zu spät, um dem grausamen Spektakel noch entgehen zu können … ~ (9. Mai 2018, 22:00 Uhr) Ash seufzte und legte das Notizbuch zurück in den Koffer, schloss den Deckel. Hörbar rasteten die beiden silbernen Verschlüsse ein. Das magische Siegel würde weiterhin bestehen bleiben und ungebetene Neugierige den wertvollen Inhalt vorenthalten.

Ashley strich gedankenverloren über die metallenen Schnallen. Er hatte seinen Vater immer so sehr bewundert und dieser Koffer war Beweis genug, dass das mehr gewesen war als nur ein von Respekt geprägtes Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Nein … James Reynolds’ Magie lebte fort, auch wenn er selbst schon seit sechs Jahren tot war. Das war eine beachtliche Dauer. Ashleys Vater war ein mächtiger Mann gewesen. Und er war ermordet worden. Ash ließ den Kopf in seine Hände sinken und fragte sich, wie es jetzt weitergehen sollte. Was sollte er mit all diesen

Informationen anfangen? Sein Vater hatte geschrieben, dass der Orden der Goldenen Falken infiltriert wurde, und es bestätigte Ashs Verdacht. Meister Lane war nicht zu trauen und allein das erschütterte Ashs Weltbild so sehr, dass es ihm beinahe so erschien, als gäbe es für ihn keinen Ort mehr auf der Welt. Er hatte doch, seitdem er elf Jahre alt war, nichts anderes getan als für die Goldenen Falken zu arbeiten! Er war doch damit aufgewachsen, dass dieser magische Verbund das Gute war … Die neuesten Erkenntnisse schmeckten dem jungen Falken unbeschreiblich bitter, denn auch dem neuen Meister

hatte er doch sechs Jahre lang sein uneingeschränktes Vertrauen geschenkt … und das Schlimmste war doch, dass seine Freunde, allen voran Saskia, das noch immer taten und immer tun würden. Der Meister stand über allem. Ash schloss verzweifelt die Augen. Saskia würde zu Meister Lane halten, keine Frage. Warum nur half es ihm überhaupt nicht weiter, dass er endlich erfahren hatte, dass er mit allem Recht gehabt hatte? Warum nur stellte sich kein Gefühl des Triumphes ein? Das alles … jedes Wort … ist nur gute Miene zum bösen Spiel gewesen, dachte Ash verbittert. Und schlimmer noch. Er

hielt inne und sah zu dem Koffer, als könnte dieser ihm noch mehr Antworten liefern. Vater ist vor sechs Jahren gestorben, wiederholte er im Stillen noch einmal. Und jetzt erst erkundige ich mich nach irgendwelchen Aufzeichnungen von ihm? Er schüttelte vor sich selbst den Kopf. Nein, sicher nicht, sagte er sich. Ich kenne mich doch … Er fasste sich an den Kopf und schloss erneut die Augen. Das alles muss an einem Zauber liegen, dachte er. Er sah auf und erinnerte sich an das, was sein Vater geschrieben hatte. James Reynolds hatte alle genaueren Informationen über das ermordete Ehepaar vergessen und vor allem über

dessen Kinder. Doch die Aufschriebe dazu waren nicht verschwunden. Eilig sprang Ash auf und holte ein in Leder gebundenes Telefonbuch. Ein Notizbuch hatte er nicht zur Hand, doch das hier würde sicherlich auch seinen Zweck erfüllen. Schnell kritzelte er mit Bleistift nieder, was er auf keinen Fall vergessen wollte. Dummerweise konnte er auf dieses Buch keinen schützenden Zauber legen, das konnten nur die wenigsten, aber immerhin sicherte ihn das hier ab, im Falle einer mysteriösen Amnesie. Ash atmete noch einmal tief durch. Was nun? Er dachte wieder an diese merkwürdigen

Attentäter, die ihn und Saskia mitten in der Nacht aus dem Nichts angegriffen hatten. Doch was hatte dieses Attentat zu bedeuten? Wer hatte diese unheimlichen Meuchelmörder geschickt? War wirklich Lane der Schuldige? Oder waren es vielleicht sogar andere, die verhindern wollten, dass diese Informationen in seine Hände fielen? Aber wie hätten sie anderweitig davon erfahren sollen? Und was hatte es zu bedeuten, dass sie auch vor Saskia nicht Halt gemacht hätten? Dass sie ein notwendiger Kollateralschaden gewesen wäre? Dass sie nicht wichtig war? Dass man sie für seine Verbündete hielt? Eine Mittäterin?

Ash seufzte. Bis zu diesem Morgen war sie jedenfalls noch seine jahrelange Freundin und teure Partnerin gewesen, der er voll und ganz vertraut hatte. Wie schnell man sich doch täuschen konnte. Ash stand auf. Was wäre jedoch, wenn es kein gezieltes Attentat gewesen war, sondern er nur ein weiteres Opfer dieser mysteriösen Mordserie hatte werden sollen? Oder war das zu viel des Zufalls? Und was waren das überhaupt für eigenartige Gestalten? Die Fragen purzelten in Ashleys Kopf nur so durcheinander, die Gedanken

überschlugen sich und verursachten ein heilloses Chaos hinter seiner Stirn. Er ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Ganz unten in einem der Fächer bewahrte er, in einer Plastiktüte verpackt, den Arm des Angreifers auf, den er ihm mit dem Katana abgetrennt hatte. Makaber, sicherlich, aber in diesem Fall absolut notwendig. Ash brauchte jeden Hinweis. Egal wo er da hineingeraten war, er war nun ganz auf sich allein gestellt. Den Goldenen Falken war einfach nicht mehr zu trauen, zumindest nicht, solange Richard Lane irgendwo im Hintergrund die Fäden zog. Er nahm den Arm aus der Plastiktüte und

schlug die Tür wieder zu. Er runzelte die Stirn. Es gab mehrere Dinge, die ihn verwirrten und irritierten. Das absolut blutleere Gewebe war nur ein Aspekt davon. Nein, es war auch so, dass sich, obwohl der Angriff schon eine Weile zurücklag, absolut keine Anzeichen der Fäulnis zeigten. Auf der einen Seite freute Ash das zwar, aber auf der anderen war das doch mehr als merkwürdig. Es war beinahe, als hielte er nur eine tote Gummiprothese in der Hand, doch die wächserne Haut, das Fleisch und der sauber durchtrennte Knochen sprachen doch eindeutig dagegen. Ash schlenderte zurück ins Wohnzimmer

und nahm sein unheimliches Beweisstück mit sich, ließ sich auf dem Sofa nieder und loggte sich in seinen Laptop ein. All das ließ ihn an solche Dinge wie Zombies oder Ghule denken. Die Recherche im Internet brachte auch keine besonderen Ergebnisse. Natürlich nicht. Für die meisten Menschen waren sie Schauergestalten aus Buch, Film und Videospiel. Und diejenigen, die entgegen aller „Logik“, wie die meisten Menschen ihre Weltvorstellung noch betitelten, doch an solche Sachen glaubten, hatten trotzdem keine Ahnung davon und waren einfach nur abergläubisch. Und selbst wenn hätte er

die Beiträge von echten Okkultisten und die von eben genannten Abergläubigen wohl nur schwerlich unterscheiden können. Doch nach allem, was er so zu lesen bekam, konnte er entschieden sagen, dass diese Angreifer für Zombies zu lebendig gewesen waren. Ghule wären vielleicht noch eine andere Möglichkeit, doch die sollten eigentlich, wie Zombies, eher menschen-und leichenfressende Monster sein und keine dolchschwingenden Auftragskiller. Ashley hatte nicht viel Kontakt mit Totenbeschwörung oder Nekromantie gehabt, er hatte nur beim Verhindern mehrerer Attentate geholfen, doch damit

befasst hatte er sich nie. Das brauchte man auch nicht, man musste nur wissen, wo die Zeremonie stattfand und diese dann unterbrechen, den Verrückten wegsperren und damit hatte es sich. Ist doch bescheuert, dachte er mit einem Mal und runzelte ärgerlich die Stirn. Ich wollte die Welt vor unverantwortlichen Magiern beschützen, dabei … kenne ich diese Magien doch nicht einmal richtig. Wie soll ich da irgendetwas bewirken? Man muss die Dinge kennen, um damit umzugehen … im Guten wie im Schlechten … Doch natürlich war es ihm verboten gewesen, sich mit solchen Dingen auseinanderzusetzen. Das bloße

Studieren solcher Magie war eine einzige Straftat. Nein, Ash hatte sich immer nur mit „guter“ Magie beschäftigen dürfen. Dazu zählten Elementarmanipulation, Telepathie, Telekinese und Bann-oder Schutzzauber. Und selbst die durften im Grunde auch von den Mitgliedern der Goldenen Falken nicht einfach so benutzt werden, auch wenn sich daran natürlich niemand hielt. Doch Magie war im Grunde eine Macht aus einer anderen Welt, die sich nicht gerne in Schubladen zwängen ließ. Magie war der Oberbegriff für eine Macht, die alles möglich werden ließ,

vorausgesetzt, man verfügte über das nötige Können und die Erfahrung. Sicherlich wäre Ash mit seinem Wissen in der Lage gewesen, sich die Haare pink zu färben oder sich augenblicklich in ein Äffchen zu verwandeln, wenn er das denn gewollt hätte. Totenbeschwörung war einfach ein Tabu, eine Praktik, die von Grund auf als scheußlich und unmenschlich galt. Ashley konnte dem nicht widersprechen. Magie war die Macht der Manipulation. Gerade deshalb war es ja so wichtig, dass diese Macht nicht missbraucht wurde. Das war der Grund, warum der Orden der Goldenen Falken vor beinahe fünfzig Jahren gegründet worden war, um

die unwissenden Menschen zu beschützen. Aber er war korrumpiert worden, ohne dass seine überzeugten Mitglieder es überhaupt bemerkt hatten. Ash würde diesem Bund jedenfalls nicht mehr über den Weg trauen. Ohne Frage hatte er sich jetzt selbst ins Fadenkreuz der Organisation begeben, die für ihn ein zweites zu Hause gewesen war, und möglicherweise bereits auch in das jahrelanger Feinde. Oder bei beiden Fronten handelte es sich um denselben Puppenspieler, der dahinterstand. Ashley war sich sicher, das Attentat war nur der Anfang gewesen. Er hob den Blick, als es an der Tür

klingelte. Zuerst zögerte er, doch dann erhob Ash sich vom Sofa und griff nach dem Katana, das direkt neben ihm gelehnt hatte. Er musste auf alles gefasst sein. Andererseits erschien es ihm merkwürdig, dass potentielle Feinde jetzt plötzlich gesittet die Türklingel betätigten. Aber vielleicht war auch das ihr Plan. Ash seufzte und fasste sich an den Kopf. Ich fange an zu spinnen, dachte er. Am Ende ist es nur die alte Miller von gegenüber und ich erschreck’ sie zu Tode. Endlich wagte er es, die Tür zu öffnen. Er zuckte zurück, als er in den Lauf

einer Waffe blickte. „Waffe fallenlassen“, forderte die Schützin mit harter Stimme. Saskia, dachte Ash und schluckte. Hinter seiner – mittlerweile ehemaligen – Freundin standen noch drei weitere Agenten der Goldenen Falken und starrten ihn grimmig an, auch sie führten Waffen mit sich. „Saskia“, sagte Ash schließlich verwundert. „Was ist denn los?“ „Lass’ dein Schwert fallen“, wiederholte Saskia harsch. „Dann erzählen wir es dir.“ Ash runzelte die Stirn, doch schließlich ließ er widerwillig sein Katana zu Boden gleiten, auch wenn es ihn

schmerzte. Doch die anderen waren ihm ohnehin überlegen. „Reingehen“, forderte Saskia ihn herrisch auf. Ash blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Er wurde ins Wohnzimmer dirigiert, wo sich dann alle vier Agenten postierten, während er selbst auf dem Sofa Platz nehmen musste. Saskia warf ihm einen Umschlag zu, den er reflexartig auffing. „Aufmachen.“ Ash sah sie für einen Moment skeptisch an. „Pestbakterien oder Ebolaviren?“ „Aufmachen!“, wiederholte Saskia statt einer Antwort scharf. Ash seufzte. Er war ja schneller in Teufels Küche gelandet, als er erwartet

hatte. Erneut blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehorchen und die drei Bilder hervor zu nehmen. Was er sah, schockierte ihn offen gesagt. Richard Lane, in seinem Büro liegend, offenbar tot. Blut war aus seinem Mund, seiner Nase und den Augen gelaufen, sogar aus den Ohren. Doch … Ash irritierte allem voran die Wunde unterhalb seines Halses, wo auch seine Kleidung zerrissen war. „Was ist geschehen?“, wollte er wissen und sah auf. „Wir hatten gedacht, du könntest uns das vielleicht sagen“, giftete Saskia zornig.

Ich?“, echote Ashley überrascht. „Dass du mit Meister Lane nicht einverstanden warst, hast du ja nicht gerade für dich behalten“, sagte Saskia und es sah aus, als wollte sie ihm verächtlich vor die Füße spucken. Scheiße, dachte Ash und bekam eine Gänsehaut. Sie ist echt stinksauer. Und der Meister ist … tot? Er jetzt begriff er, was Saskia gesagt hatte. „Warte, ich soll das gewesen sein?“, wiederholte er laut, was ihm gerade eben erst klargeworden war. „Du wolltest ihn aus dem Weg räumen, so ist es doch.“ „Was? Saskia, nein …!“, versuchte Ash,

sich zu besänftigen. „Darum hast du auch diese absurde Sache mit deinem Vater wieder hervorgekramt, um Mitstreiter für deine Sache zu gewinnen“, erklärte Saskia kalt. „Aber nur damit du es weißt, wir standen alle hinter dem Meister und was du getan hast, ist einfach nur furchtbar!“ Ashley starrte sie vollkommen verständnislos an. In seinem Kopf ging gar nichts mehr. „Aber in den Aufzeichnungen meines Vaters stehen wirklich wichtige Informationen über diese Morde!“, wollte Ash dann sagen, doch er schwieg. Nein, ihnen würde er nichts über das Preis geben, was er in Erfahrung

gebracht hatte. Sie waren verblendet von ihrer naiven Loyalität gegenüber einem Verräter, besessen von einem Feindbild und einem Idol, das ihnen besser in den Kram passte als die Wahrheit. Ash würde gar nicht erst versuchen, ihre Achtung zurückzugewinnen und ihnen dabei auch noch brav in die Hände spielen. Nein, ganz bestimmt nicht. Nein, er würde das Rätsel alleine lösen. Und … vor allem anderen musste er vor diesen absolut Wahnsinnigen fliehen. Es dauerte nicht lange, bis er die Gelegenheit wahrnahm und aufsprang, aus dem Wohnzimmer hechtete. Natürlich reagierten die vier sofort und

schossen auf ihn, doch Ash verzerrte das Licht so, dass sie ihn nicht mehr richtig anvisieren konnten. Elementarmanipulation, die Art der Magie, die ihm am meisten lag. „Lasst ihn nicht abhauen!“, hörte er Saskia rufen. Er erreichte unbeschadet den Flur, klaubte sein Katana auf und lief direkt weiter in die Küche, wo noch ein Fenster offenstand, Hals über Kopf sprang er hinaus in die Nacht und bremste seinen Fall durch verdichtete Luft, gab seinem eigenen Körper den nötigen Auftrieb, um schnell in der Dunkelheit verschwinden zu können. Schließlich landete er unter einer Brücke

und dieses Mal war er sorgfältiger mit den Illusionen, er nutzte das wenige Licht, um sich vollständig in Unsichtbarkeit zu hüllen und dann ließ er sich mit dem Rücken an der kalten Mauer hinabgleiten. Die überstürzte Flucht hatte ihm viel abverlangt, das bemerkte er erst jetzt. Auch erfasste ihn erst jetzt die Erkenntnis, dass er soeben aus seiner eigenen Wohnung hatte fliehen müssen. Er begann zu zittern in der nächtlichen Kälte. Niemand, wirklich niemand wiedersetzte sich dem Bund der Goldenen Falken. Er, Ashley Reynolds, war im Grunde ein toter Mann, nicht nur dass er den Meister

bestohlen hatte, nun stand er auch noch unter Verdacht, für dessen Tod verantwortlich zu sein. Warum musste der alte Sack denn ausgerechnet jetzt sterben?, fragte Ash sich säuerlich. Ich hätte nie gedacht, dass er mich tot noch mehr in Schwierigkeiten bringen könnte … Er fluchte leise und vergrub das Gesicht an seinen angezogenen Knien. Er war vor den Goldenen Falken geflohen. Diese Organisation war doch alles, was er hatte … Wobei, nein. Es gab da noch etwas. Ein Name, den er sich vorhin noch eilig notiert hatte und der in dem Telefonbuch

stand, das in seiner Hosentasche steckte. Ein Name, der mit dem Fall in Verbindung stand, für den Ashley im Grunde ausgebildet worden war. Der Name eines verschwundenen Mädchens. Katharina Bloom.

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Über den Autor

Selina2000
Schülerin, sechszehn Jahre alt, Hobbyautorin. Ich begeistere mich gerne für Musik und Film, häufig so sehr, dass es anderen um mich herum zu viel wird. Ich liebe das Erfinden und Aufschreiben von Geschichten sowie die Schrift selbst. Wenn ich schreibe, kann ich alles um mich herum vergessen und in meine eigenen Welten eintauchen.

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Ryvais Dieser Cliffhanger ... echt fies. Jetzt bin ich mal gespannt, was noch kommt.
Die Geschichte gefällt mir wirklich, obwohl es zwischendurch schon mal kleinere Widersprüche gibt (z.B. schreibst du einmal, Ash hätte einen gut trainierten Geist, dann wieder, seine kognitiven Fähigkeiten seien lächerlich im Vergleich zu Saskias). Aber das stört mich persönlich kaum.
Was ich evtl aber nochmal überarbeiten würde, ist der Handlungsstrang um Ash, Meister Lane und die Aufzeichnungen seines Vaters. Vieles wirkt da für mich einfach etwas zu sehr im Nachhinein notdürftig mit Informationen unterfüttert oder gar nicht erklärt. Etwa dass Ash erst nach so langer Zeit auffällt, das die Dokumente noch existieren müssten. Das ist dir zwar selber auch aufgefallen (zumindest erwähnt Ash es), aber dadurch, dass du den Fehler erwähnst, korrigierst du ihn ja nicht. MMn wäre es sinnvoll, Ash nicht ganz von selbst auf den Gedanken kommen zu lassen, sondern einen Hinweis von außen zu geben. Im Grunde löst das auch alle weiteren Probleme, die ich mit diesem Teil der Handlung hatte, denn wenn es konkrete Hinweise gibt, wirkt Ashs Verdacht nicht ganz so sehr aus der Luft gegriffen. Momentan glaubt man als Leser zunächst eben doch nicht ihm, sondern wie Saskia den Worten Meister Lanes. Und war Ash denn wirklich der Einzige, der seinen Vater und dessen Arbeitsweisen so gut kannte, dass ihm ein Verdacht kommen könnte?
Ist mir nur aufgefallen, aber ich neige dazu, beim Lesen ziemlich viel zu hinterfragen :) Ob du irgendwas an deiner Geschichte verändern willst, bleibt natürlich dir überlassen, wahrscheinlich fällt ohnehin kaum jemandem ein Fehler auf :) Aber ich wollts mal anmerken.
In diesem Sinne hoffe ich dann mal auf eine baldige Fortsetzung ;-)
Lg, Ryvais
PS: Großes Lob übrigens auch für deine tadellose Rechtschreibung :)
PPS: Wenn ich schon mal bei Verbesserungsvorschlägen bin - evtl würde ich schon etwas früher Informationen über die Magie der Goldenen Falken einstreuen. Das kommt erst relativ spät raus.
PPPS: Hab ich eigentlich erwähnt, dass ich es sehr gut finde, wie du beide Seiten beleuchtest? Und dass ich die Charaktere irgendwie alle mag, auch die Schattenläufer (mit Ausnahme vielleicht von Skall oder Secrecy)? Und Huw, mit dem du so wunderbar Reenas Perspektive infrage stellst? Ich glaube nicht, oder? :))
Lg
Vor langer Zeit - Antworten
Selina2000 Ähhhhhhhhhhhhhhhh ... WOW O.O
Und äh ja ... verflixt, du hast recht. Ja, ist ein Widerspruch. Äh ... tja. Werde ich vielleicht noch mal ein bisschen spezifizieren xD (Ist so ein Ding wenn man einen Charakter entwirft und man merkt, dass der anfangs ALLES kann und damit ein wenig unrealistisch wirkt).
Dass Ash erst jetzt auffällt, dass was schiefläuft, liegt allerdings daran, dass im Laufe der Jahre (immer wenn es ihm aufgefallen ist aufs Neue) immer wieder an seinen Erinnerungen herumgepfuscht wurde. Wird nochmal aufgeklärt.
Es ist gut, wenn viel hinterfragt wird :) Da hat man doch das Gefühl, dass nicht nur wischiwaschi über eine Arbeit drübergelesen wird ^.^
Vielen Dank für das Lob ^.^
Ja, das mit der Magie ... hehe ... ja, ich hab mir da was ganz schön Großes eingebrockt. xD
Und du magst Skall nicht? Der Arme xD Jetzt würde mich ehrlich gesagt interessieren, warum ^^ Also auch einfach so, als ... na ja ... Mensch, nicht als eine von mir entwickelte Figur. Was magst du an ihm nicht? Er kümmert sich doch so rührend um Reena xD
Ja, Huw war irgendwie so ein Geistesblitz (ha ha, Geistesblitz) ... (tschuldige) Sowas wollte ich schon immer mal einbringen xD Und keine Sorge, er ist nicht einfach nur random einfach da. Er hat seine Bewandnis.
Schön übrigens, dass dir mein Konzept der drei Kapitelteile gefällt ^^
Tja ... vielen, vielen lieben Dank für diesen Kommentar. Das ist wirklich großartig, wie du dich mit meiner Gedankengrütze auseinandergesetzt hast ^.^
LG Sel
Vor langer Zeit - Antworten
Ryvais War mir ein Vergnügen :)
Okay, aber besagte Aufklärung muss dann wirklich glaubwürdig sein.
Skall - ja, den mag ich einfach menschlich nicht, schlicht aufgrund der Art, wie er Reena behandelt. (Das ist übrigens noch was, wo ich evtl nochmal drüber schauen würde; ich glaube, an der Stelle, wo sie Secrecy mit ihm vergleicht, schreibst du sogar etwas von seiner freundlichen Art oder so. Klar, Secrecy kommt nochmal fieser rüber, aber so nett ist Skall jetzt auch wieder nicht.)
Huw? Das will ich doch hoffen, bei der Vorbereitung ...
Ach, du hast also auch diesen Humor? Du wirst mir echt immer sympathischer xD
Und im Ernst, ich hab das wirklich gern gemacht. Auch in Anbetracht der Tatsache, dass ich gerade ne Fanfiction auf einer anderen Seite betalese, und das ist echt ein ganz anderes Niveau. Insofern - schön. :))
Lg Ryvais
Vor langer Zeit - Antworten
Selina2000 Ich gebe mein Bestes ^^
Okay ... Skall hat bisher nichts wirklich schlimmes gemacht, finde ich. Aber ist natürlich deine Meinung ^^ Während Secrecy bereit ist, seine Schüler jederzeit zu töten, wenn sie nicht spuren oder sich als "nutzlos" erweisen, würde Skall so etwas nicht tun. Zumindest nicht aus seinem freien Willen heraus. Dass es bei den Schattenläufern etwas härter und unbarmherziger zugeht, ist allerdings generell nicht zu leugnen, klar ^^
Schön, dass wir uns verstehen xD
Magst du mir verraten, in welche Richtung besagte Fanfiction geht? ;D Mein "normaler" Buchkonsum leidet darunter, dass ich nur noch im Netz Fanfictions lese xD
Danke für die rasche Antwort :)
LG Sel
Vor langer Zeit - Antworten
Ryvais Na ja, was heißt wirklich schlimm? Er schikaniert Reena schon ein bisschen, würde ich sagen, aber okay.
Eine FF aus Mittelerde, zum Hobbit-Film, die bis jetzt zwar einige Figuren, aber keinen wirklichen Plot davon verwendet, stattdessen ein OC der Autorin mit besonderen Fähigkeiten, die sie aber noch nicht so ganz kennt. Also falls du Empfehlungen suchst: Ich hab zwar schon schlechtere gelesen, aber es gibt auch bessere.
Lg Ryvais
Vor langer Zeit - Antworten
Whisperwind Hallo!
Ich bin noch nicht ganz durch, wollte dir aber auf halber Strecke (oder eher einem Drittel der Strecke) schonmal einen kleinen Kommentar da lassen. Bisher gefällt mir deine Geschichte wirklich gut. Sehr mystisch, spannend und gruselig. Zwischendurch auch mal ganz locker erzählt :) Bin gespannt, was sich noch in der Handlung verbirgt :)
Liebe Grüße!
Vor langer Zeit - Antworten
Selina2000 Echt? Wahnsinn ^.^ Das freut mich unglaublich. Vielen Dank :)
Vor langer Zeit - Antworten
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