Kurzgeschichte
Sie trug eine große Jacke

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"Sie trug eine große Jacke"
Veröffentlicht am 12. August 2016, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Sie trug eine große Jacke

Sie trug eine große Jacke




Bleib stehen, sagte sie, ich weiß, wo du bist.

Ich legte auf. Die Sonne verbrannte die Wolken zu Wasserdampf und kitzelte meinen Sonnenbrand. Um die Ecke bog eine Gestalt und beleuchtete meine Wangen, die zu strahlen begannen. Von hinten berührte das Licht ihre große Jacke, die Fäden verdeckte. Fäden, hauchdünn, grazil, zerbrechlich. Fäden, die einmal Arme gewesen waren.

Ich ging auf sie zu, warf mein Rad fort, in mein schlechtes Gewissen und legte bemuskelte und befettete Knochen um

sie. Fast hätte ich sie nicht bemerkt, aber ich spürte die Wärme ihrer grinsenden Lippen gegen meine rote Haut. Fast hätte ich sie zerdrückt, mit dem dreiviertel Jahr, das in mir schwirrte, in mir flatterte und immer wieder von dort drinnen gegen meine Haut stieß. Es wollte hinausfließen und diese Schnüre in der Jacke aufblasen, wollte die Fasern nicht ungeschützt lassen, wollte das tun, was Zeit so tut: füllen.

Hey, sagte ich.

Hey, sagte sie. Sagte ihr Hauch, der da vor mir stand. Ihre Haare ganz eingerollt in einen Knoten, der so schmal war wie ihre Gelenke.

Wir setzten einen Fuß vor den anderen, umschlangen unsere Hände, ohne uns zu berühren, verflochten unsere Finger mit dem schönen Tag und allen Tagen, die wir voneinander nicht mehr kannten. Ihre Gesichtszüge waren so zart wie das Band zwischen uns, so fein wie die Worte, die nicht wussten, woher sie kommen sollten.

Wir setzten einen Fuß vor den anderen, eilig zueinander zu kommen, wir hatten so viel Zeit gehabt, auseinander zu stolpern. Der Asphalt lächelte uns aufmunternd zu, als er unsere Sohlen geduldig trug, er sah jeden Tag so viele Tränen, da erlebte er gerne einmal zur Abwechslung unbeholfene Hilflosigkeit.

Wir setzten einen Fuß vor den anderen und sahen uns ab und zu in die Augen, versuchten uns selber wiederzufinden, in so fremden Organen. Gemeinsam versuchten wir, so zu sein wie damals, als ich noch wusste, worüber ich lachte. Als sie noch wusste, wieso sie gern aß. Als wir uns noch kannten, dem andern vertrauten und ich noch wusste, wo die Leiter an ihren Unterarmen hinführte.

Die Tische luden ein, zu Sünde und Süße, und wir setzten uns hin, Fuße überschlagen. Wir setzten uns hin und bestellten destillierte Tränen, um unsern Angstschweiß zu ersetzen. Ich ignorierte, dass sie kaputt war, sie ignorierte, dass ich sie verdrängt hatte.

Zwischen uns saßen zwei bis drei Tote, die freudig ihr Meloneneis fraßen und ab und zu Häppchen unsres Gesprächs mitgehen ließen. Ich verlor mich in ihrem verloren sein, in den Worten, die ihr die Haut aufgeschnitten hatten, in den Tagen, die ihr für die Winterernte fehlten.

Und doch war da noch was, noch ein kleiner Satz, mit Fragezeichen davor und dahinter, darüber und drunter, ein kleiner Vers, den wir zusammen behalten hatten, damals, als niemand aufgehört hatte zu weinen. Er flüsterte sich mitten in unsere Geschichten und legte kleine Finger auf meine breiten Schultern. Er schummelte sich unter

Belanglosigkeiten, unter meine Blicke, die an ihrer Nasenwurzel ihren Halt verloren, wurschtelte sich zwischen meine grausamen Gedanken und ihre Platzangst vor der einquetschenden Welt.

Er hauchte weg, dass ich sie schön fand, er pustete den Staub ihrer Verlassenheit fort. Und nahm mich bei der Hand.

Jetzt hast du eine schöne Blume, meinte ich furchtsam grinsend, meine Finger noch zitternd und erschrocken, dass sie sich getraut hatten, so nahe zu ihr zu kommen; waren sie doch genauso feig, wie ihre Brüste, die lieber nicht gegen ihr T-Shirt stießen. Ihr T-Shirt mit den Streifen. Ihr T-Shirt, zu klein für mich.

Und die Blüte beschien ihre aschblonden Strähnen, mit ihr gemeinsam eingesperrt, beschien ihre sorgsam versteckten Gedanken, beschien sie, als sie in einem Windstoß ein Gänseblümchen zurückwebte, in meinen Zopf, der glänzte, weil er es kaum fassen konnte.

Wir blickten unsere Hände an, die wieder Abstand hielten und träumten von den Blumen, die uns zueinander rückten. Wir blickten uns in die Augen, noch einmal, wie so oft und doch ganz neu, blickten uns in die Augen, graublau und graugrün und umarmten uns den Satz in die Ohren.

Sind wir noch Freunde?

Dann schloss sie die Tür, war fort, wie so lange und ich drehte mich um, trat erleichtert in meine Pedale. Auf unserem Weg lagen weiße Gänseblümchenblätter.

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Dilettant Eine Interessante Geschichte.

LG

D.
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Auch ich finde, eine atmoshärisch dichte Geschichte - fast bizarr - die den Leser fordert, ihm Interpretationsspielraum bietet. Der Schreibstil in seiner Ausdrucksvielfalt ist sicher gewöhnungsbedürftig, lässt man sich darauf ein, erkennt man die Tiefe.
Ich bin beeindruckt! :-)
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Magmag Vielen Dank für die Komplimente!
Vor langer Zeit - Antworten
JanaRetlow Eine atmosphärisch unglaublich dichte Geschichte mit viel Wortmalerei, was die eigentlich fast banale Szene sehr aufwertet.
Mit Worten muss man umgehen können, wenn man sich an einen solchen Stil rantraut und ich finde, dass du das fast immer sehr gekonnt gemacht hast. Der Stil ist nicht für jeden etwas, weil er eben alles andere als leichte Kost ist, aber handwerklich, wie gesagt, wirklich gut.
Erinnert mich stark an Christiane Neudeckers Kurzgeschichtensammlung "In der Stille ein Klang".
Falls du es noch nicht kennst, solltest du es vielleicht mal lesen - würde dir sicher gefallen.
Liebe Grüße
Jana
Vor langer Zeit - Antworten
Magmag Oh, vielen Dank! Werd ich mir einmal anschauen... Danke für die Rückmeldung, hat mich wirklich gefreut :)
Vor langer Zeit - Antworten
Frettschen Gern gelesen, aber nichts kappiert ...
Trotzdem - wunderschöne Worte.
Sicher müssen sie sich erst durch meine Hirnrinde friemeln, ehe ich den Sinn verstehe.
Hatte so manche Idee, worauf du hinaus willst - - - und am Ende - - - war ich so schlau wie vorher.
Muss noch drüber nachdenken ...
Auf jeden Fall hast du sehr schöne Wortbilder in meinem Kopf erschaffen,
Vor langer Zeit - Antworten
Magmag Ach, das macht nichts. Ich glaube, man muss das gar nicht verstehen, aber danke, dass du es versucht hast! Und ich wollte vor allem eine Atmosphäre machen, es freut mich sehr, dass das funktioniert hat.
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