Kurzgeschichte
Der Duft von reifen Äpfeln

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"Der Duft von reifen Äpfeln"
Veröffentlicht am 20. August 2016, 28 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: kostenl. ClipArt
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Über den Autor:

In meinem Garten steht kein Birnbaum - trotzdem unschwer zu erkennen wo mein Zuhause ist. Der Dichter, der dieses Land mit Leidenschaft beschrieb, muss damals schon gewusst haben, dass ich mich dort niederlassen würde. Das Schreiben habe ich - wie fast alle - mit dem ABC erlernt. Eigene Gedanken zu Papier zu bringen ... viel, viel später. Mich hat weder die Muse geküsst, noch fühle ich mich berufen meine Mitmenschen mit meinen literarischen ...
Der Duft von reifen Äpfeln

Der Duft von reifen Äpfeln

Der Duft von reifen Äpfeln

Aus dem offenen Küchenfenster des Nachbarhauses drangen streitende Stimmen. Ungefiltert flogen die Schimpfworte bis zu Rosi, die gerade die abgeernteten Bohnenstauden aus der Erde riss. Seit sechs Jahren wohnte die Familie dort. Das heruntergekommene Haus hatte der Mann von seinem Vater geerbt, der nach dem Tod seiner Frau nicht mehr die Kraft und das Interesse hatte, Haus und Garten zu pflegen. Sein Leben endete im Altersheim. Einsam. Der einzige Sohn war ihm keine Stütze

gewesen. Am Zustand des Hauses hatte sich nichts geändert. Auch der Garten war verwildert, auf der Wiese stand das Gras kniehoch. Die Augustäpfel lagen zwischen den Ringelblumen und verfaulten. Sie zu verarbeiten kostete Zeit. Und die wurde anderweitig genutzt. Sie diente den Zusammenkünften Gleichgesinnter, die Geschmack an einem kühlen Bier, manchmal auch härterer geistiger Getränke gefunden hatten. Die Familie war im Dorf bekannt. Man grüßte sich, doch nachbarschaftliche oder gar freundschaftliche Kontakte wurden nicht gepflegt.

Nebenan ging die Haustür. Ein knarzendes Geräusch. Vertraut. Rosi kannte es seit

Jahren. Sie richtete sich auf und blickte hinüber. Sven, der 16jährige Sohn, stürzte aus der Tür, griff nach seinem Fahrrad und fuhr in Richtung Ortsmitte. Seine grün/gelben Haare leuchteten in der Nachmittagssonne. Die Irokesenfrisur verlor auch bei seinem zügigen Tempo nicht ihre Form. Rosi seufzte. Was sollte aus dem Jungen werden? Es hatte lange gedauert bis sie einen Kontakt zu ihm herstellen konnte. Als er herzog war er ein schüchternes, verängstigtes Kind. Jetzt hielt er Freundschaft mit zwei Raufbolden, die immer wenn im Dorf etwas passierte, die Urheber waren. Eine zerstörte Bushaltestelle, mit Graffiti besprühte Häuserwände, die Unterbrechung der

Stromzufuhr von Bauer Heinemanns Weidezaun - natürlich wurde anschließend der Draht durchgeschnitten - und vieles mehr ging auf ihr Konto. Die Jungbullen hatten ihren Ausflug genossen. Heu- und Strohballen brannten. Ob die Jugendlichen auch daran eine Schuld trugen, wusste niemand. Nachgewiesen wurde ihnen nichts. Ein Polizeiauto stand öfter vor dem Nachbargrundstück. Nach solchen Besuchen hatte Sven meistens blaue Flecken an Armen und Beinen. Rosi sah es, wenn er im Sommer auf der Wiese mit seinem Fußball kickte. Im Dorf erzählte man sich, dass das Jugendamt sich schon eingeschaltet hatte. Sie wusste es nicht - und im Dorf wurde viel erzählt.

Die schrille Stimme von Svens Mutter war zu hören.

   „Du kannst jetzt nicht mit dem Auto fahren. Mathias kann das Fahrrad nehmen und Bier holen. Außerdem steht im Keller noch ein halbvoller Kasten.“

Begeistertes Gejohle war die Antwort.

Rosi brachte die ausgerissenen Bohnenstauden zum Kompost und ging in den Schuppen um den Korb mit Augustäpfeln zu holen. Bis Heinz von der Arbeit kam, war noch Zeit - das Mittagessen war fertig. Bohneneintopf. Sie würde von diesen Äpfeln Apfelmus kochen. Und wieder schweiften ihre Gedanken zu Sven.

Er war zwölf als er das erste Mal bei ihr einen Teller Suppe gegessen hatte.

Brühnudeln. Eigene Kinder saßen leider nie an ihrem Tisch. Dieses Glück wurde ihr und Heinz verwehrt. Es war ein verregneter Oktobertag gewesen. Sie war gerade dabei ihre Post aus dem Briefkasten zu nehmen als er von der Schule kam.

  „Na, mein Junge, was hast du denn für ein Wetter bestellt?“

  „Guten Tag!“ Mehr sagte er nicht und zuckte die Schultern.

  „Ist deine Mutter schon zuhause?“

Er schüttelte den Kopf.

  „Sie kommt um 15:00 Uhr.“

Rosi wusste, dass sie im Nachbarort in einem Supermarkt arbeitete und die kurze Strecke mit dem Fahrrad fuhr. Ein sicheres Zeichen dafür, dass der Vater nicht zuhause

war, war das fehlende Auto. Auch an diesem Tag stand es nicht vor dem Grundstück, obwohl es gerade zu jener Zeit oft dort parkte. Entweder hatte er seine Arbeit verloren oder er war krank. Den Jungen auszufragen lag ihr nicht.

  „Möchtest du einen Teller Suppe mit mir essen? Sie ist schon warm. Ich bin auch gerade von der Arbeit gekommen.“

Rosi arbeitete vier Stunden in der Poststelle im Dorf.

Misstrauisch hatte Sven sie angeschaut.

   „Nein, danke“, war die kurze Antwort.

  „Hühnerbrühe mit Fadennudeln. Na, komm´ schon, mein Junge, sie wird dir schmecken.“

Sven hatte sie merkwürdig angeschaut. Sie

konnte diesen Blick nicht deuten. Dann hatte er sein Fahrrad an den Zaun gestellt und gesagt:

  „Ich kann sie ja probieren.“

Bevor sie die Küche betraten, blieb er stehen.

„Meine Schuhe sind nass und schmutzig.“

Rosi blickte nach unten. Im Flur zeichneten sich deutlich Spuren ab.

  „Zieh´ sie einfach aus. Neben der Eingangstür stehen die Pantoffeln von meinem Mann. Du kannst sie anziehen, kannst aber auch auf Strümpfen laufen ... und du kannst dich schon an den Tisch setzen.“

Die Pantoffeln wollte er nicht anziehen, lief lieber auf Strümpfen. Seinen beiden großen

Zehen war es wohl zu eng in ihnen. Sie hatten sich ihre Freiheit erkämpft und lugten vorwitzig aus den großen Löchern.

Er aß zwei Teller leer. Rosi versuchte ein belangloses Gespräch zu führen. Seine Antworten kamen stockend. Immer wieder schweiften seine Blicke über die Schale mit den rotwangigen Äpfeln, die sie vom Tisch genommen und auf die Arbeitsplatte gestellt hatte.

Nach dem Essen holte Rosi die Schale.

  „Nimm´ dir so viele du magst.“

Er nahm sich einen, polierte ihn an seiner Hose und roch daran. Ein Lächeln zog über sein Gesicht.

  „Riecht wie Götterspeise. Er ist reif.“

Rosi lachte. Dann griff sie ebenfalls nach

einem Apfel und atmete tief seinen Duft ein.

  „Tatsächlich! Das ist mir noch nie aufgefallen.“

Seitdem hatte Sven so manche warme Mahlzeit und im Herbst immer einen Korb mit rotbackigen Winteräpfeln von ihr bekommen.


Rosi war dabei die Küche aufzuräumen. Das Apfelmus war in Gläser gefüllt. Noch ein letzter Blick. Alles blitzte. Sie griff nach der Schüssel mit den Apfelabfällen und brachte sie zum Kompost. Ihr Blick fiel auf den großen Haufen abgeschnittener Äste und Zweige neben dem Schuppen. Der Baum- und Strauchschnitt musste nach dem Abernten der Früchte erfolgen. Nun lag das

Gestrüpp bis es verbrannt werden konnte. Jedes Jahr ärgerte sich Rosi über diesen Schandfleck, obwohl sie wusste, dass er im Herbst verschwunden sein würde. Auf der anderen Straßenseite schob Claudia gerade ihr erstes Enkelkind im Kinderwagen spazieren. Sie war fünfzig. Rosi auch.

Sven kam gerade zurück. Er fuhr langsam - hatte seine Freunde wohl nicht getroffen.

  „Hallo, Sven! Wie wär´s mit einem Teller Bohneneintopf?“, rief sie über den Zaun.

Er bremste scharf, stellte das Fahrrad, wie immer, an den Zaun und antwortete:

  „Grüne oder weiße Bohnen?“

  „Grüne, ich weiß doch, dass du keine weißen Bohnen magst“, lachte Rosi.

Auch Sven lächelte. Dabei bildete die feine

Narbe oberhalb des linken Mundwinkels einen Halbmond. Dieses Andenken an eine Prügelei auf dem Schulhof würde er behalten. Er lächelte viel zu selten, fand Rosi.

  „Wir essen auf der Terrasse. Du nimmst den Topf und ich hole die Teller und das Besteck.“

Als er sich den dritten Teller füllte, geriet Rosi in Sorge, ob für Heinz noch genug übrig bleiben würde. Sie selbst füllte ihren Teller nur halb voll.

Sven blickte verwundert. Schnell erklärte sie:

 „Ich habe keinen Appetit. Die Hitze macht mir zu schaffen.“

Auf der Straße fuhren Svens Freunde mit dem Moped in Richtung Ortsausgang vorbei.

Svens am Zaun lehnendes Fahrrad kannten sie. Ein Hupkonzert war zu hören. Sven reagierte nicht.

  „Hast du denn schon eine Lehrstelle gefunden? Es war ja dein letztes Schuljahr.“

  „Ich gehe nach München. Mein Onkel hat eine Bäckerei. Bei ihm kann ich eine Bäckerlehre machen.“

„Aber Junge, ich hätte nie gedacht, dass du dafür Interesse hast.“

  „Hab´ ich auch nicht. Aber so komme ich wenigstens von zuhause weg.“

Ein trotziger Zug hatte sich um seinen Mund gebildet.

   „... und meine Tante ist nett.“

   „Welcher Beruf würde dir denn gefallen?“

   „Zimmermann!“, kam die Antwort wie aus

der Pistole geschossen.

   „Aber mit meinem schlechten Abschlusszeugnis habe ich keine Chance.“

   „Wenn du andere Freunde gehabt hättest, Freunde, die dir hätten helfen können, wäre es vielleicht anders ausgefallen, mein Junge. Warum musstest du dich gerade mit Marc anfreunden?“

„Sie sollen nicht immer  ´mein Junge` zu mir sagen. Ich bin doch kein kleines Kind mehr.“

  „Du hast recht! Also, wann gehst du nach München, Sven?“

„In zwei Wochen.“

   „Haben deine scheinbaren Freunde schon eine Lehrstelle?“

Sven schüttelte den Kopf.

Er stand auf und blickte zu seinem Haus.

„Jetzt ist es ruhig“, sagte er.

  „Ich gehe rüber.“

Rosi wusste, was diese Ruhe bedeutete. Sven wusste es auch. Nach reichlichem Alkoholgenuss, setzte die Müdigkeit ein.

Rosi stand am weit geöffneten Fenster ihres Schlafzimmers. Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Die Hitze der vergangenen Tage hatte sich im Haus festgesetzt. Sie blickte in die mondlose Nacht und hoffte auf ein bisschen Abkühlung. Doch nur eine warme Brise fächelte ihr Gesicht. Sie stutzte. Was war das für ein Geräusch? Leise, kaum zu hören. Sie lauschte. Da war etwas. Machte sich der Waschbär im Garten zu schaffen? Der Schuss durchpeitschte die Stille der

Nacht. Sie brauchte einige Sekunden um zu erfassen, was gerade passiert war. Ein Knarzen war zu hören.

Im Garten ein Wimmern. Es schwoll zu einem Schreien an.

  „Mein Bein, mein Bein ... warte!

  „Was war das?“

Heinz saß kerzengerade im Bett. Er hatte die Nachttischlampe eingeschaltet.

  „Wer schreit da?“

Rosi versuchte immer noch ihre Gedanken zu ordnen und zuckte nur hilflos mit den Schultern.

Er sprang aus dem Bett, eilte die Treppe hinunter und schaltete das Außenlicht ein.

Sie wollte ihm noch nachrufen, dass er nicht das Haus verlassen sollte, da sie nicht

wussten, was draußen geschehen war. Doch sie schwieg. Aus irgendeinem Grunde war sie sich sicher, dass ihm nichts passieren würde.

Heinz hatte sich die Taschenlampe gegriffen und lief in die Richtung aus der das Schreien kam. Auch im gegenüberliegenden Haus ging jetzt das Licht an. Die Bewohner hatten wohl den Lärm gehört. Rosi stand immer noch am Fenster. Sie blickte zum Nachbargrundstück. Dort war alles dunkel.

Das Schreien riss nicht ab.

  „Was ist denn hier los?“, hörte sie Heinz´ erschrockene Stimme.

  „Rosi, ruf´ die Polizei und den Notarzt!“

Die Polizei traf nach kurzer Zeit ein, der Notarzt etwas später. Er kam aus der

Kreisstadt.

Rosi war inzwischen auch in den Garten gegangen. Auf dem Weg am Schuppen, lag Marc. Auf den Steinplatten zeichnete sich Blut ab.

Von ihm bekam Heinz keine Antwort, auch die Polizei nicht. Er stand unter Schock. Marc wurde medizinisch erstversorgt und dann ins Krankenhaus gebracht. Andere Anwohner hatten sich auf der Straße eingefunden. In Bademäntel gehüllt, beobachteten sie das Geschehen. Einige hatten den Schuss gehört. Erste Befragungen durch die Polizei ergaben nichts. Niemand hatte etwas gesehen. Im Kräuterbeet fand die Polizei eine Plastikflasche mit Benzin.

Am nächsten Tag wurden die Anwohner von der Polizei erneut befragt. Natürlich auch Rosi und Heinz. Sie erfuhren, dass Marc eine Schussverletzung am Knie hatte und die Kugel operativ entfernt worden war. Er hatte zugegeben, dass er mit seinem Freund das aufgeschichtete Gestrüpp neben dem Schuppen anzünden wollte. Als der Schuss fiel, sei der Freund davongerannt. Wer geschossen hatte, wusste Marc nicht. Rosi wusste es. Sie war entsetzt. Der Junge hatte eine Waffe ... und Munition. Woher? Warum?

Und warum hatte er geschossen? Wusste er vom Plan seiner Freunde? Wollte er ihn verhindern? Der Schuppen hätte ebenfalls Feuer fangen können. Wollte er die beiden in

die Flucht schlagen? Rosi glaubte nicht, dass Sven gezielt auf Marc geschossen hatte. Das wäre gar nicht möglich gewesen. Die Nacht hatte sich von ihrer dunkelsten Seite gezeigt. Mondlos. Ein Zufall, dass die Kugel Marc getroffen hatte ... doch wen traf sie das nächste Mal? Mit welchen Folgen? Mit Heinz hatte sie über ihre Befürchtungen nicht gesprochen. Er hätte sofort die Polizei verständigt. Würde Sven einer intensiven Befragung durch die Polizei standhalten? Hatte er die Waffe noch? Konnten vielleicht noch Schmauchspuren an seinen Händen nachgewiesen werden? Was würde man ihm vorwerfen? Unerlaubten Waffenbesitz? Fahrlässige Körperverletzung? Würde er zu einer Jugendstrafe verurteilt werden? Rosi

kannte sich mit diesen Dingen nicht aus. Seine Ausbildungszeit begann demnächst, wenn auch eine ungeliebte. Rosi focht einen Kampf mit sich selbst. Sie musste mit Sven reden, bevor sie eine Entscheidung traf. Doch sie sah ihn weder mit seinem Rad wegfahren noch im Garten. Bei den Nachbarn klingeln und nach Sven fragen wollte sie nicht. Das hatte sie noch nie getan.

Drei Tage nach dem nächtlichen Ereignis fuhr sie in den Supermarkt. Ihren Einkaufswagen durch die Gänge schiebend, hielt sie Ausschau nach Svens Mutter. An einem Regal, damit beschäftigt Waren einzuräumen, entdeckte sie sie. Rosi grüßte freundlich. Möglichst beiläufig sagte sie:

„Ich habe Sven schon einige Tage nicht gesehen. Ist er verreist? Es sind ja Ferien.“

   „Er ist in München - macht dort eine Lehre“, war die kurze Antwort.

Rosi verbarg ihre Verwunderung, wusste sie doch, dass Sven erst in zwei Wochen die Lehre beginnen sollte. Nachfragen wollte sie nicht. Das hätte vielleicht eine ungewollte Aufmerksamkeit bei Svens Mutter geweckt. Rosi traf ihre Entscheidung. Sie würde der Polizei ihren Verdacht nicht mitteilen. War es nur ein Verdacht? Natürlich nicht, wusste Rosi. Dass sie Sven nie wieder sehen würde, wusste sie nicht.

Ein Jahr später starb der Vater an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Unter Alkoholeinfluss hatte er ihn selbst

verschuldet. Die Mutter verkaufte das Haus. Wohin sie zog wusste niemand. Junge Leute mit zwei kleinen Kindern zogen ein. Fröhliches Lachen scholl oft bis zu Rosi. Nebenan wurde gebaut und gewerkelt. Wenn wieder eine Verschönerung des Hauses gelungen war, wurde das mit einem Grillfest gefeiert, zu dem auch Rosi und Heinz eingeladen wurden.

Manchmal dachte Rosi an Sven, doch mit den Jahren verblassten die Erinnerungen.


Rosi versuchte das Laub, das unter den Johannisbeersträuchern lag, hervor zu harken. Sie war nicht sehr erfolgreich. Die Harke verkantete sich in den tief hängenden Zweigen. Also bückte sie sich und schob

das Laub mit den Händen zusammen um es anschließend in die Schubkarre zu werfen. Ihr Rücken schmerzte. Bei jedem Aufrichten stützte sie sich an der Karre ab. Heinz hatte sich nach dem Mittagessen auf die Couch gelegt. Am Vormittag hatte er die letzten Äpfel gepflückt. Nun nicht alle. In der Baumkrone leuchtete es noch rot. Er wagte sich nicht mehr auf die letzten Sprossen der Leiter. Ihm wurde jetzt öfter schwindlig und die Arthrose in den Knien machte ihm zu schaffen. Die Äpfel würden herunterfallen. Einige lagen schon zwischen den letzten blühenden Dahlien. Ein paar waren auf die Straße gefallen. Rosi würde sie später aufsammeln. Jetzt musste sie sich einen Augenblick ausruhen. Die Gartenbank, auf

der sie sich stöhnend niederließ, hätte auch einen neuen Farbanstrich gebrauchen können. Ein Umstand, der ihr durchaus bewusst war, wie so viele andere Dinge, die getan werden müssten. Sie schafften es einfach nicht mehr, Haus und Garten die Pflege angedeihen zu lassen, die notwendig gewesen wäre. Irgendwann würden sie alles verkaufen und in eine kleine Wohnung in die Kreisstadt ziehen. Doch daran wollte Rosi jetzt nicht denken. Sie blickte zum Nachbargrundstück, wo Corinna gerade Wäsche von der Wäschespinne nahm. Sie würde ihr am Abend einen Korb mit Äpfeln bringen. Bei guter Lagerung konnte man sie bis Weihnachten halten. Dann kamen ihre Kinder immer. Sie lebten und arbeiteten in

der 300 km entfernten Hauptstadt.

Rosi schloss die Augen und genoss die Sonnenstrahlen des schönen Oktobertages.



Vor dem Nachbargrundstück hielt ein Kleintransporter. Ein Mann und ein etwa 10jähriger Junge stiegen aus. Eine kurze Zeit blieben sie vor dem Grundstück stehen. Sich umschauend und dabei die Häuser betrachtend schlenderten sie weiter und blieben vor Rosis Zaun stehen.

   „Schau, die Äpfel“, rief der Junge, hob einen auf, rieb ihn an seiner Jacke und roch daran.

   „Riecht wie Götterspeise, Papa!“

Der Mann in Zimmermannskluft roch

ebenfalls an dem Apfel.

„Tatsächlich, mein Junge“, erwiderte er lachend. Oberhalb seines linken Mundwinkels bildete sich ein kaum wahrnehmbarer Halbmond.





© KaraList 08/2016    

  

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Über den Autor

KaraList
In meinem Garten steht kein Birnbaum - trotzdem unschwer zu erkennen wo mein Zuhause ist. Der Dichter, der dieses Land mit Leidenschaft beschrieb, muss damals schon gewusst haben, dass ich mich dort niederlassen würde.
Das Schreiben habe ich - wie fast alle - mit dem ABC erlernt. Eigene Gedanken zu Papier zu bringen ... viel, viel später. Mich hat weder die Muse geküsst, noch fühle ich mich berufen meine Mitmenschen mit meinen literarischen Ergüssen zu überschütten.
Nach gefühlten 20 000 gelesenen Büchern, habe ich mir gesagt, eine Geschichte oder ein Gedicht schreiben, das kannst du vielleicht auch. Und wenn der geneigte Leser nach der letzten Zeile das Buch mit dem Gedanken zuschlägt ´schade, dass es zu Ende ist` - dann war die Mühe nicht umsonst. Denn, Schreiben ist Arbeit.

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Bleistift 
"Der Duft von reifen Äpfeln..."
Hat auch mir wieder gut gefallen... smile*
Dir noch einen schönen 3. Advent...
LG
Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Das freut mich ... und ein herzliches Dankeschön für die Klimperchen, lieber Louis!
Noch eine schöne Vorweihnachtszeit für Dich!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW 
Sehr gerne (auf zweimal) nochmal gelesen liebe Kara.
Das Kompliment von "damals" gilt immer noch ...
Liebe Grüße
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Schön, dass Du noch einmal hier warst, liebe Gertraud ... und schön, dass Du Deine Meinung nicht geändert hast. Ich danke Dir dafür ganz herzlich!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks eine runde Geschichte. Und ich bin froh, dass nicht die Leiche, sondern Sven selber aufgetaucht ist. Mit Sohn.
Fein gesponnenes Garn.
LG vom Klecks
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Mir war danach ´mal eine Geschichte mit Happy End zu schreiben. :-)
Ich freue mich, dass Du bei mir gelesen hast und ein herzliches Dankeschön für das Geschenkpaket, lieber Klecks!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
AngiePfeiffer Gern noch einmal gelesen. Leide darf ich dir keine Taler schenken.
LG
Angie
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Ich danke Dir herzlich für Deine Lesezeit, liebe Angie. Wer kann sich schon leisten, vor Weihnachten Taler zu verschenken? Also mach´ Dir keinen Kopf! :-))
LG
Kara
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Loraine Da kommen auch bei mir Erinnerungsbilder hoch und Obstdüfte -
hast Du schön erzählt und ich sehr gerne gelesen. Danke Loraine
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Die Zeit der Obstreife verbreitet schon satte Düfte, doch die vorweihnachtlichen Düfte, die jetzt durchs Haus ziehen, umschmeicheln unsere Sinne auch. :-)
Ich freue mich über Deine Lesezeit bei mir und bedanke mich herzlich für das Taschengeld, liebe Loraine.
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
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