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Stirb Apollo - Eine Künstlersatire

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"Stirb Apollo - Eine Künstlersatire"
Veröffentlicht am 22. Juli 2016, 106 Seiten
Kategorie Sonstiges
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Über den Autor:

Ich bin ein Autor. Mehr weiß ich über mich selbst nicht zu sagen. Tagein, tagaus hocke ich in meiner abgedunkelten Klause, lese was in der Welt passiert, analysiere die Bücher anderer Autoren und schreibe selbst. Keine Hobbys, keine Freunde, kein Leben. Außerdem besitze ich fünf Katzen und einen Bruder.
Stirb Apollo - Eine Künstlersatire

Stirb Apollo - Eine Künstlersatire

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Mein gescheitertes Leben Nachwort

Kapitel 1


Als ich zehn Jahre alt war, schwebte Apollo durch das Fenster in mein Zimmer hinein und setzte sich an mein Bett.

Nein, das ist kein guter Anfang. Wenn ich jetzt schon verrate, dass er Apollo ist, nehme ich ja den ganzen Zauber aus der Situation. Also auf ein neues: Als ich zehn Jahre alt war, strahlte plötzlich ein Licht durch mein Fenster. Es war Nacht, tiefste, dunkelste Nacht, sodass ich mich wunderte, von welcher Quelle denn dieses wahrlich himmliche Licht stamme. Geräusche wie von

Flügeln ertönten, Laute wie von weichen, samtenen Schwingen. Geblendet glaubte ich eine kleine Gestalt zu erkennen, die in mein Zimmer hereinflog, ich glaubte Locken zu erkennen, klare Augen und in kleinen, kindlichen Fingern eine Leier... Nein, nein, nein, so kann ich nicht anfangen! Das hört sich an wie ein mysteriös-pompös-religiöses Buch, viel zu mysthisch und versponnen. Wie soll ich nur anfangen, wie? Modern? Kühler Erzählton und wissenschaftliche Präzision? Mit den Flügeln, die eine Spannbreite von sechs Fuß hatten, flog der sogenannte Gott der Kunst, besser

bekannt als Apollo, wohnhaft im Himmel, um genau 12 Uhr Mitternacht in mein Zimmer. Er hatte goldene Locken, eine Leier in der rechten Hand, die sehr kindlich... Nein, es hat keinen Zweck. Es hört sich alles falsch an. Keiner dieser Sätze drückt auch nur annähernd aus, wie sehr ich diesen Kerl hasse. Flog rotzfrech in mein Zimmer und verdarb mein Leben. Er hat mich durch die ganze Welt der Kunst gehetzt und immer, wenn ich dachte, ich hätte endlich etwas geleistet, hätte etwas Gutes vollbracht, dann schmetterte er mich mit einem kurzen „Find ich nicht gut“ zu Boden. Wisst ihr, wie viele Bücher ich schon geschrieben

habe? Tausende! (Zumindest glaub ich das. Es könnten auch weniger sein. Ich nahm in meinem Leben sehr lange sehr viele Drogen und kann nicht mehr genau rekonstruieren, wieviele Bücher ich wirklich geschrieben oder nur geträumt habe). Und jedes einzelne dieser Bücher, sei es im Stil der Klassik oder der Romantik, von Seneca oder Proust, er las es durch, sah mich lächelnd an und sagte: „Find ich nicht gut. Versuch´s weiter.“ O, ich hab es versucht, mehr als versucht! Ich habe Drogen genommen und Schreibunterricht, bin mit meinen riesigen Flügeln durch den Himmel geflogen (obwohl auch das eine

Halluzination gewesen sein könnte, herbeigeführt durch einen Drogenrausch), ich hab, ich hab, so viel hab ich gemacht, ich kann´s nicht sagen. Und all das, mein ganzes Unglück, mein gescheitertes Leben, begann als ich zehn Jahre alt war, in dieser schicksalsschweren Nacht. (Wenn ich ehrlich sein soll, kam Apollo glaub ich gar nicht durch das Fenster, sondern durch die Tür. Soviel zu dem dramatischen Auftritt.) Er setzte sich neben mein Bett und sagte, als wäre es das normalste der Welt: „Ich habe dich auserwählt, Timmi. Aus dir soll etwas Großes werden.“ Ich war ein Kind. Jeden Tag las ich von

Göttern, die mit Titanen kämpfen und sah im Fernsehen Menschen, die sich in Monster verwandeln konnten: Selbstverständlich kam mir die Situation nicht merkwürdig vor. Im Gegenteil, ich war mehr als erfreut, ich war begeistert, denn obwohl ich erst zehn Jahre alt war, war ich doch auch sehr frühreif und hatte mich schon seit längerem gefragt, was aus mir werden sollte. „Was werd ich denn?“, rief ich enthusiastisch, „werd ich ein Staranwalt, Regierungssprecher, König, ein Astronaut?“ „Nichts davon“, erwiderte Apollo und zerstörte zum ersten Mal – und leider nicht zum letzten – meine Hoffnungen

und Träume. „Was werd ich dann?“, bohrte ich nach, „werden mich alle bewundern?“ (Mein Gott, ich war zehn und hatte kein Selbstbewusstsein! Natürlich wollte ich bewundert werden!) „Manchmal ja, manchmal nein“, sagte Apollo, „und größtenteils werd ich dir sagen, dass du nicht gut genug bist und härter arbeiten sollst.“ „Aha... werd ich wenigstens reich?“ „Haha, schön wär´s. Nein, wirst du nicht.“ „Was werd ich denn dann, was werd ich, was?“ „Du wirst Schriftsteller.“ Ich konnte nichts mehr sagen, es hatte

mir die Sprache verschlagen. Von allen Berufen, die es auf dieser Welt gab, von all den interessanten und spannenden, faszinierenden und erfüllenden Berufen, sollte ich ausgerechnet Schriftsteller werden? Ich konnte jetzt schon die Stimmen meiner Eltern hören: Was?! Schriftsteller willst du sein?! Willst du dich unglücklich machen?! Willst du uns unglücklich machen?! Das hat doch keine Zukunft!!! Ich wusste nicht viel über Schriftsteller, aber ich wusste, dass sie sich ihr Leben lang quälten, um ein gutes Buch zu schreiben, dass sie viele Frauen hatten, die sie alle verließen, dass sie alles aufgaben, dass sie ihr Leben lang

unglücklich waren, nur um hundert Jahre nach ihrem Tod im Schulunterricht gelesen zu werden, von einem Lehrer, der sagte: „Das braucht ihr nicht für euer Leben“ und von Schülern, die das fertige Meisterwerk entweder als Kissen benutzten oder als Taschentuch. DAS sollte ich werden? Einer, der nachher auf der Straße betteln gehen musste, der in einem Kellerloch hocken musste, weil er sich keine Villa leisten konnte, und sich den Arsch abfror, weil die Heizung mal wieder kaputt war. Wirklich so einer? „Das ist ein Scherz, oder?“ „Nein, nein, das ist mein voller Ernst.“ „Ich soll ein Bettler

werden?“ „Kein Bettler. Ein Schriftsteller.“ „Kann ich dagegen irgendwie, ich weiß nicht, gerichtlich vorgehen? Ich meine, der Mensch hat doch Rechte, man kann selber entscheiden, was man macht, oder nicht?“ „Leider nicht“, lächelte Apollo, „der Beschluss wurde vom Obersten Götter-rat getroffen und ist nicht verhandelbar. Du solltest dich glücklich schätzen. Die Götter haben sich um dich gerissen, mein Freund, sie sind sich gegenseitig an die Gurgel gegangen, um dich fördern zu dürfen. Du hast ein großes Potential, eine Menge Energie, die sinnbringend eingesetzt werden kann. Du kannst

dich glücklich schätzen, dass ich zu deinem Mentor gewählt wurde.“ „Da bin ich mir noch nicht so sicher... Nur so interessehalber: Was hätte ich denn sonst noch so werden können?“ „O, da gab es vieles: Venus zum Beispiel wollte dich zu einem Herzensbrecher machen. Nach ihrer Rechnung hättest du ungefähr... ich glaube, eine Million Frauen verführen dürfen.“ „Was?! Ich will einen anderen Mentor, ich will zu Venus!“ „Nein, das wäre Verschwendung. Der Plan wäre nämlich gewesen, dass du immer nur verführt und verführt hättest und irgendwann, so mit 40, hättest du

dich gefragt, was der Sinn davon sein soll. Du hättest nach der Frau für´s Leben gesucht, hättest sie nicht gefunden und dann – aus Verzweiflung darüber – mit dem Trinken begonnen und dein schönes Potential in Alkohol ertränkt.“ „Das klingt nicht so gut“, musste ich widerwillig zustimmen, „aber hätte ich nicht wenigstens mit ein oder zwei Frauen...“ „Zu spät“, lächelte Amor, „so wie es auch zu spät ist, sich für Mars zu entscheiden: der hatte auch Großes mit dir vor.“ „Was denn? Was?“ „Nun, er hätte dir dabei geholfen,

Diktator zu werden. Dann hättest du ein riesiges Heer um dich geschart, dank deiner genialen strategischen Fähigkeiten innerhalb von drei Jahren die ganze Welt erobert und dich dann von deinem Volk als Gott verehren lassen.“ „Wahnsinn“, rief ich, „die ganze Welt?“ „Die ganze Welt.“ „Ich will das Team wechseln“, rief ich und fühlte mich schon wie Cäsar und Attila in einem, „ich möchte zu Mars.“ „Keine sehr gute Idee“, lächelte Apollo, „es gäbe da einige Probleme für dich...“ „Warum?“, fragte ich, „was für Probleme?“ „Du würdest mit 18 Diktator werden, mit 22 hättest du die Welt erobert... was

solltest du dann noch tun? Du würdest versuchen den Mond, den Jupiter, das gesamte Sonnensystem zu erobern, würdest daran scheitern und dein Genie wieder mal im Alkohol ertränken.“ „Ihr seid mir schöne Götter“, brummte ich missgelaunt, „ihr besprecht Pläne für mein Leben, die zwar funktionieren, aber mich in Depressionen stürzen und alles, was euch dann für mich einfällt, ist eine Karriere als Schriftsteller?“ Apollo lachte leise vor sich hin. Ich glaubte sogar, in seinen Augen eine Mischung aus Schadenfreude und Mitleid zu sehen, als er mir sagte: „Kunst, mein lieber Timmi, ist die undankbarste Aufgabe auf der ganzen

Welt. Wenn du denkst, du hättest die Krönung der Literatur geschrieben, das Meisterwerk des Jahrhunderts, werden die Kritiker kommen und dir sagen: Schlecht! Erbärmlich! Und wenn die Kritiker dich endlich einmal lieben, kann dich das Publikum nicht mehr leiden und wenn das Publikum dich liebt, werden die Kritiker dich hassen. Es gibt keine Regeln für die Kunst, die du lernen könntest, du wirst dein Leben lang im Dunkeln tappen und niemals ans Ziel gelangen.

Und wenn du dann doch wider alle Erwartung dein Meisterwerk geschrieben hast, die Krönung aller Literatur, wenn die Kritiker dich bejubeln, das Publikum

dich verehrt und du mit Preisen überhäuft wirst, dann werde ich zu dir kommen und dir sagen: Find ich nicht gut. Mach´s besser.

Du wirst verzweifeln, du wirst weinen, du wirst zusammenbrechen und niemand kann dir helfen. Aus diesem Grund sollst du ein Schriftsteller werden: denn diese Aufgabe wird dich dein Leben lang beschäftigen.“ „Aber... aber...“, stammelte ich, „vielleicht will ich mich ja nicht mein Leben lang quälen. Ihr könnt doch nicht einfach über mich entscheiden.“ „Wir haben nicht über dich entschieden“, lächelte Apollo geheimnisvoll, „sondern du. Du hast dich dazu

entschieden.“ „Aber du hast doch gerade gesagt...“ „Ach Timmi“, lächelte er, „du bist jetzt Schriftsteller, du lebst jetzt in der Welt der Kunst. Da ist nichts so, wie es scheint, alles ist ein Symbol und alles ist nichts...“ Sprach´s und verpuffte in einer Wolke. (Na gut, das war eine Lüge. Er erhob sich, ging wieder zur Tür hinaus und sagte mit der Stimme meines Vaters: Aufstehen, Timmi, du musst zur Schule. Aber da sich das weniger spektakulär anhört und so, als hätte ich Apollo nur geträumt, lasse ich den anderen Satz stehen.) Sprach´s und verpuffte in einer

Wolke. Ich habe damals vollkommen falsch reagiert, das weiß ich jetzt. Anstelle in meinem Bett liegen zu bleiben, hätte ich mich wehren, hätte ich weglaufen müssen und versuchen, einen anderen Beruf zu ergreifen, ich hätte die Götter aufspüren, hätte Einspruch einlegen, Mars und Venus anflehen müssen, mich zu ihrem Schüler zu machen. Stattdessen lag ich in meinem Bett und tat das, was man in einem Bett so tut: Schlafen. Etwas, das ich dank Apollo heute nicht mehr kann (oder nur mit einer Handvoll Schlaftabletten). Am nächsten Tag entschied ich mich, mein Schicksal anzunehmen (Wie dumm

von mir! Wie dumm!). Allerdings hatte ich keine rechte Vorstellung davon, was ich tun sollte. Ich war Schriftsteller, schön und gut, aber was jetzt? Sollte ich mich an den Schreibtisch setzen, den Bleistift spitzen, das Papier glattstreichen, den Radierer säubern, in die Luft starren, ungeduldig werden und was, was sollte ich tun?! Ich begann mit einer Internetrecherche über berühmte Autoren. Wie viele es schon gab! Das verunsicherte mich: Denn es schien mir, als hätten diese bereits alle guten Bücher geschrieben, die man nur schreiben konnte. Das behaupteten zumindest die Autoren des 20. Jahrhunderts und schrieben

demgemäß die weniger guten Bücher. Meine Laune hob sich wieder, als ich herausfand, dass man Preise gewinnen konnte: den Kleistpreis, den Goethe-preis, den Baudelaire-preis, den Buch-preis, den anderen Buch-preis, den besten Buch-preis und ganz oben auf der Liste die begehrenswerteste Trophäe von allen: der Nobelpreis. Wie sich das schon anhörte! Dafür würde es sich lohnen, zu kämpfen. Am selben Tag zog ich mich an wie ein griechischer Dichter: Ich hängte mir mein Bettlaken über die Schultern, als wäre es eine Toga, setzte mir, in Ermangelung eines Lorbeerbaums, einen Kranz aus Dill auf den Kopf und eilte

deklamierend durchs Haus:

O Sterbliche, gedenkt meiner Herrlichkeit! Ein Nichts seid ihr, verglichen mit mir, Staubkörner in meinem Sonnenlicht! Während ihr vergänglich seid, bin ich unsterblich wie die Schönheit der Frühstücksflocken. Ich bin ein Gott! Verehrt mich als solcher...

Ja, ich weiß, die Sache war mir etwas zu Kopf gestiegen. Aber meine Güte, ich war zehn Jahre alt und von Apollo höchstpersönlich zum Schriftsteller berufen worden (Ja, damals fand ich das

noch berauschend...) Ich lief mehrmals durch die ganze Wohnung, die Nase in die Luft reckend, mit verträumten, dichterisch verklärten Augen, bis meine Mutter mir mit dem Backblech auf den Schädel hieb und mich anschnauzte, wo meine Kleider seien. „Ich trage Kleider, holdes Weib“, sprach ich, „aus dem Himmel selbst sind sie gewebt. Ihr Gold...“ „Geschwätz“, schnauzte meine Mutter. Sie griff mich am Kragen meines Bettlakens und zog mich zu sich heran, schnupperte an mir, „Hast du Drogen genommen? Irgendeinen Pilz gegessen? Bist du krank? Bist du

verliebt?“ „Ich bin ein Dichter“, sprach ich und fuchtelte dramatisch mit den Armen, „ich bin ein Gottbeseelter, ein ewiges Himmelswesen...“ „Ein Verrückter bist du...“, brummte sie, „Geh hoch und zieh dich um, wir kriegen Besuch. Wehe, du blamierst uns! Ich will nichts mehr von dem Dichter-zeugs da hören, verstanden? Du bist nur ein kleiner Junge, der zu viel Flausen im Kopf hat.“ „Aber...“ „Geh!“, schnauzte sie und gab mir den Gruß des Backblechs mit (Das heißt, sie hieb mir damit auf den Kopf. Übersetzung für alle, die keine

Dichtersprache verstehen). So fing es damals an: unverstanden von der Menschheit schleppte ich mich die Treppe hoch, fühlte eine schwere Last auf mir, die Dichtergabe wie ein Joch um meine Schultern, mich niederdrückend, zerschmetternd... „Was murmelst du da vor dich hin?“, fragte mein Vater, als er mich sah, „Wer wird von einem Ochsenjoch zerdrückt?“ „Ach, nichts“, erwiderte ich hastig, denn die Erfahrung mit dem Backblech meiner Mutter hatte mich gelehrt, den „normalen Menschen“, wie ich sie jetzt nannte, zu misstrauen. Ich gehörte nicht mehr zu ihnen, war auserwählt worden. Von nun an war ich ganz

allein. Der Besuch kam erst in zwei Stunden, also nutzte ich die Zeit und begann einige Gedichte zu schreiben. Es ging um Liebe, um schöne Liebe, traurige Liebe, qualvolle Liebe, um verratene, erfüllte, enttäuschte Liebe, um ihre Freuden und Schmerzen. Die ganze Zeit über saß Apollo, dieser hassenswerte Kerl, neben mir und nickte. „Gar nicht so schlecht für den Anfang“, sagte er manchmal und nickte wieder, lächelte wissend. Nach zwei Stunden hatte ich 53 Gedichte fertig und war stolz darauf (Jedes Gedicht bestand nur aus 3 bis 5 Zeilen). Meine Karriere als Schriftsteller, das

wusste ich, hatte begonnen. Der Besuch bestand aus einer alten, einsam lebenden und etwas dümmlichen Tante. Wir aßen, wir tranken, wir taten Dinge, wie die „normalen Menschen“ sie tun, die noch nie den Nektar der Götter gekostet haben. Ich schaute sehr interessiert umher, so wie ein Löwe manchmal den kleinen Mäusen bei ihren Tätigkeiten zusieht und sich wundert, wie klein sie sind. Sie sind wirklich klein, dachte ich, bevor ich mir einen weiteren Klecks Kartoffelbrei gönnte, den ich als Dichter zwar nicht nötig hatte, weil ich mich von Sonne und Wolken ernährte, aber als Kind dringend brauchte, weil es mein Lieblingsessen

war. Ich war so in Träumen versunken, schwelgte so in der Erinnerung an meine vollkommenen Gedichte, dass ich die Frage erst gar nicht hörte. „Tim“, sagte mein Vater streng, „du wurdest etwas gefragt.“ „Der Nektar des Himmels... geliebte Venus... bitte was?“ „Ich habe dich gefragt“, meinte die Tante, „was du einmal werden willst?“ „Anwalt“, sagte meine Mutter, „Minister“, mein Vater, „Oder beides zusammen“, sagten sie und lächelten stolz. „Nein, eigentlich nicht. Ich will Schriftsteller

werden.“ Wein flog auf die weiße Tischdecke, als mein Vater ihn ausspuckte. „Du willst was?!“ „Ich hätte dich vorwarnen sollen...“, seufzte meine Mutter, „Keine Ahnung, wer ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt hat...“ „Also ich finde das herzallerliebst“, flötete die Tante mit einem viel zu süßen Lächeln, „dann wirst du bestimmt einmal sehr berühmt...“ „Leider nicht“ „...und reich...“ „Auch nicht.“ „...und beliebt.“ „Das schon mal gar

nicht.“ „Woher willst du das denn wissen, du kleiner, dummer Junge? Mit zehn weiß man doch noch gar nichts.“ „Apollo hat es mir gesagt.“ Meine Eltern tauschten Blicke aus, die Tante lächelte verkrampft. Sie blickte meine Eltern wissend an, die blickten wissend zurück. „Wart ihr mit ihm schon beim Therapeuten?“ „Wir haben es fest vor“, erwiderten sie. Den Rest des Abends verbrachten wir in unbehaglichem Schweigen und Nachtisch gab es auch keinen (zumindest nicht für mich). Dabei gab es Schokopudding, meinen

Lieblingsnachtisch. (Merkt euch diesen Schokopudding gut, ihr Leser, merkt ihn euch gut. Denn er ist das erste, auf das ich als Schriftsteller verzichten musste. Apollo, wenn du das liest, ich hasse dich.) Abends, als die Tante weg war, gab es die Standpauke: Was ich mir denn denken würde... wie ich sie nur so blamieren könnte... wie ich mir das denn vorstelle... wer sie beide denn versorgen solle, wenn sie alt und zerbrechlich wären... als Schriftsteller könne ich das nicht... und wie sollte ich eine Familie haben... Geld... und Freunde, die mich bewundern, weil ich alles richtig gemacht habe

und sie nicht... WAS DENKE ICH MIR DENN DABEI... Ich verteidigte mich und verwies auf Apollo und den Rat der Götter. Mein Vater verpasste mir eine, meine Mutter auch. Sie griffen sich alle Gedichte von meinem Schreibtisch und schmissen sie aus dem Fenster. Ja, ich weiß, das klingt gelogen, richtig überdramatisiert, aber das ist es nicht. Diesen Tag werde ich niemals vergessen können, das könnt ihr mir glauben. Sie packten meine 53 schönen Liebesgedichte und schmissen sie aus dem Fenster. Sie sperrten die Tür hinter mir zu und kündigten für den nächsten Tag einen Besuch

beim Kindertherapeuten an. O, ich kochte vor Wut, ich weinte vor Trauer um meine Gedichte, die jetzt draußen auf dem Gehsteig durchweichten und starben, starben wie Herbstblätter. Womit hatte ich das verdient? Ich war doch erst zehn, Himmel noch mal! Welche Fehler konnte ich denn bis jetzt begangen haben, dass ich so bestraft wurde? Als ich an Apollo dachte, spürte ich zum ersten Mal Wut (der Hass kam erst später). Trotzig betete ich zu Mars und Venus, dankte ihnen für ihre lieben Gedanken mir gegenüber und bat sie darum, Apollo eine Krankheit auf den Hals zu

hetzen. Was sollte ich jetzt tun? Mein Schicksal war festgelegt und nicht mehr zu ändern. Außerdem war ich wütend. Euch werd ich´s zeigen! Ich werde neue Gedichte schreiben, viel besser als die alten, und dann sammel ich sie in einem großen Gedichtband und nenn ihn „Tod den Eltern!“. Ja, das ist eine gute Idee! Ich setzte mich an den Schreibtisch und schrieb. Und schrieb. Und schrieb. Und schrieb die ganze Nacht. Ich schrieb in der Schule weiter und heimlich unter dem Tisch beim Mittagessen, ich schrieb auf der Toilette des Therapeuten, versprach diesem, ich würde nie, nie mehr schreiben und schrieb weiter,

immer weiter. Diesmal war ich schon kritischer mit meinen Texten. Meist schrieb ich an einem Tag an die 50 Gedichte und warf 49 davon wieder weg. Das 50. Gedicht kam meist in die engere Auswahl, wurde beim nächsten Lesegang wieder herausgeholt, weggeworfen und durch ein anderes, besseres ersetzt. Und dieses wiederum durch ein anderes Gedicht und so weiter und so weiter...

Ich schrieb Tage, Wochen, und hatte von über tausend geschriebenen Gedichten nur 5 behalten. Nach drei Monaten waren es 15 und nach einem Jahr der harten Arbeit, der Tränen und der Wut, der Freude und des Glücks, hatte ich 30

Gedichte zusammen. Als hätte er darauf gewartet, stand Apollo neben mir. Freudestrahlend reichte ich ihm mein Meisterwerk, quasselte etwas wie: „Das ist die Krone der Literatur... mein Herzblut...“ und hüpfte von einem Fuß zum anderen, ungeduldig, ängstlich und ziemlich, ziemlich stolz. „Wie ist es? Wie ist es? Wie ist es?“, rief ich, kaum dass er fertiggelesen hatte, „Jetzt sag, sag, sag!!!“ „Hmm...“, machte er nachdenklich, „hmm-hmm... was willst du denn jetzt damit machen?“ „Veröffentlichen!“, rief ich, „Alle Welt soll es bewundern

können!“ „Bewundern? Ach, Timmi...“ „Was denn? Sind sie nicht gut? Bin ich nicht gut? Wie sind sie? Jetzt sag, sag, sag...“ „Für einen Zehnjährigen sind sie nicht schlecht. Du hast auf jeden Fall Talent. Aber gut? Nee du, da geht noch mehr. Arbeite weiter und mach was besseres.“ Er verpuffte in einer Rauchwolke, was auch gut war, denn so verfehlte ihn das Buch, das ich nach ihm warf. Wie konnte er es nur wagen? Mich, den großen Künstler, so zu beleidigen? Aufgebracht lief ich durch das Zimmer, immer im Kreis herum, Tränen des Zorns in den Augen. Warum nur

wollte niemand meine Größe anerkennen, meine Genialität, die Stärke und Kraft meiner Werke? Der Spiegel hielt mich auf, der Spiegel zerschmetterte mich völlig: ich sah hinein und sah mich selbst: ein kleiner, fast schon winziger zehnjähriger Junge, der flennte und dem die Nase lief. Ich sah auf meine Gedichte, die im Raum zerstreut lagen: wertloser Plunder, stümperhaftes Geschmiere, nichts wert. Ich packte die Früchte meiner Arbeit, an der ich so lange, so hart geschrieben hatte und warf sie aus dem Fenster... In den folgenden Tagen schloss ich mich in meinem Zimmer ein, fasste kein Blatt

Papier mehr an und verweigerte das Essen. Nur schwarze Schokolade aß ich noch, denn die war genauso schwarz wie meine Qual. Vielleicht übertreibe ich jetzt ein bisschen, aber ich hatte das Gefühl, dass das Zimmer immer mehr schrumpfte und schrumpfte, und dunkler und dunkler wurde, mich erdrückte, zermatschte, zusammenpresste zu einem Nichts. In die Schule ging ich nicht mehr. Ich sah so bleich und abgemagert aus, dass meine Eltern mich krankschreiben ließen (Heute würde ich sagen, dass die einseitige Schokoladenkost daran schuld war, aber da ich ein Kind war, stellte ich mir vor, ich hätte ein großes, großes

Leid in mir, das nur die großen, großen Künstler haben und das mich von innen auffrisst.) Nachdem ich eine Woche im Bett gelegen hatte... oder waren es Jahre? Moment, irgendetwas stimmt da nicht. Als ich von zuhause weglief, war ich 15, die Gedichte hatte ich aber mit 11 aus dem Fenster geworfen. Also müsste ich 4 Jahre im Bett gelegen haben. Das ergibt keinen Sinn... Wer klopft denn da an mein Fenster? Tut mir leid, ich muss kurz abbrechen, aber Apollo ist wieder da... So, jetzt hab ich wieder Zeit. Wo war ich denn? Ah ja. Ich war also mittlerweile 15 und lag seit

Jahren schon im Bett. (Apollo wollte übrigens lesen, was ich gerade schreibe, aber ich hab ihn mit meiner Pistole verjagt. Das geht ihn gar nichts an, diesen Schlechtmacher.) Irgendwann begann es mir langweilig zu werden, ich spürte, wie mein Genie im Kopf sich regte und nach neuen Taten schrie: Lass uns etwas erschaffen!, sagte es zu mir, lass uns ein Buch schreiben, das besser ist als alles, was die Welt je gesehen hat! Gerne, erwiderte ich in Gedanken, aber wie? Ich hab mir das so gedacht, erwiderte das Genie, alleine kommen wir hier nicht weiter. Wir brauchen etwas, an dem wir uns ausrichten können, eine

Richtlinie. Was soll das sein?, fragte ich. Ein anderer Autor. Wir müssen uns die Lebensläufe aller Autoren ansehen, die richtig gut waren, und suchen uns dann einen aus, an dessen Leben wir uns orientieren können. Dann werden wir mit Sicherheit die Krönung der Literatur schreiben können. Genial!, rief ich, sprang aus dem Bett an den Schreibtisch an den Computer. Nach ein, zwei Klicks hatte ich auch schon das Geheimnis der wirklich guten Autoren herausgefunden: Drogen. Und Vagabundieren. Das waren die zwei großen Geheimnisse. Ich las über Rimbaud, wie er sich gegen

das enge Leben in seinem kleinen Geburtsort wehrte, wie er innerhalb dreier Jahre die Lyrik revolutionierte und dann für immer und ewig durch die Welt vagabundierte, ein ruheloser Schatten, ein Riese der Literatur, Rimbaud, mein neues Vorbild! Ich las über seinen Drogenkonsum und auch über den von E.T.A Hoffmann (Ich fand erst später heraus, dass dieser gar keine Drogen genommen hatte. So was passiert, wenn man dem Internet zu sehr glaubt.) Das können wir auch, sagte mein Genie, das kann ich auch, sagte ich und sprang aus dem Fenster (Das ich vorher natürlich öffnete und

das im Erdgeschoss lag) und rannte davon in die große, weite Welt. Aufregend stellte ich mir das Leben als Vagabund vor, frei und ungezügelt. Ich stellte mir vor, wie ich jede Frau herumkriegen könnte, einfach, weil ich schon so viel erlebt hätte, sie würden an meinen Lippen kleben, wenn ich ihnen meine Geschichten erzählte und Könige würden sich vor mir schämen, weil sie sich für den falschen Glanz entschieden hatten, ich würde auf sie herabschauen und sie verachten. Die Euphorie verflog ziemlich schnell, denn es war bereits Winter, ein Umstand, auf den ich in meiner übertrieben frohen Stimmung nicht geachtet hatte. Es

begann zu schneien, es wurde kalt, es wurde dunkel. Ich hatte keinen Platz zum Schlafen und nur meinen Schlafanzug an. Das war das einzige, was ich am Körper trug, als ich aus dem Fenster gesprungen war. Unter einer Brücke kauerte ich mich zusammen, bedeckte mich mit ein paar Zeitungen und versuchte zu schlafen. Als die Sonne wieder aufging, versuchte ich das immer noch. Meine Finger waren blau angelaufen und ich zitterte wie Espenlaub. Sag mir doch bitte noch mal, was mir diese Erfahrung bringen soll?, fragte ich mein Genie, aber das tat so, als würde es schlafen, obwohl es genau so zitterte wie

ich. Na ja, dachte ich, dann mach ich mich jetzt mal auf den Weg, Drogen kaufen. Wusstet ihr, dass Drogen illegal sind? Man kann nicht einfach in den Laden gehen und sich welche besorgen, denn das ist verboten. Ich war 15, hatte bisher nur in der Bücherwelt gelebt und keine Ahnung davon. Ich fragte also den nächstbesten Menschen, der mir über den Weg lief, wo ich Drogen kaufen könne. Dieser Mensch war ein Polizist. Er schnappte mich und brachte mich auf direktem Weg in eine warme Badewanne und zurück zu meinen Eltern. Ersparen wir uns die Szene, sie ist mir zu peinlich. Es sei nur gesagt, dass ich

glaubte im Recht zu sein und mich aufführte wie Buddha oder ein Heiliger. Ich hatte ein versteinertes Gesicht aufgesetzt und sagte Dinge wie „So ist der Lauf der Dinge“ und „So soll es sein“. Reden wir nicht mehr davon. Reden wir lieber von der Nacht. Meine Eltern hatten gerade das Fenster verschlossen, einen Schrank davorgerückt und meine Tür zugesperrt, da kam Apollo hereinspaziert durch ein Mäuseloch in der Wand. Er war nur so klein wie mein Daumen. Ich muss zugeben, dass ich kurz darüber nachdachte, aufzuspringen und ihn mit meinem Fuß zu zerquetschen (Ich

wünsche mir manchmal so sehr, ich hätte es getan: es hätte mir so viel Schmerz erspart.) Stattdessen sprang ich freudig auf und empfing Apollo als meinen Retter. „Ich will Drogen nehmen... ich werd ein Vagabund... hilf mir... ich muss hier raus... Drogen...“ „Du bist sicher, dass du noch keine genommen hast?“, fragte er mich prüfend, denn so wie ich stammelte, so verrückt wie meine Augen leuchteten, hätte man das wirklich annehmen können. Ich erklärte ihm die Situation und er nickte. „Das geht natürlich nicht, dass du hier festgehalten wirst“, meinte er, „du bist

mein Schüler und sollst Großes vollbringen. Das wird dir schwerfallen, wenn deine Eltern dich hier festhalten. Zudem habe ich gerade ihre Gespräche belauscht: Sie wollen dich in einen Weidenkorb packen und auf dem Fluss aussetzen!“ Ich war geschockt. So etwas niederträchtiges hätte ich meinen Eltern niemals zugetraut. (Oder wollten sie mich in ein Internat geben? Ich glaube, das mit dem Weidenkorb war Moses. Manchmal bin ich ein bisschen verwirrt, dann verwechsel ich mich mit anderen.) „Komm mit“, meinte er und wollte durch das Mauseloch

entweichen. „Moment mal!“, rief ich, „Da pass ich doch niemals durch!“ „Stimmt“, lachte er, „wie dumm von mir. Dann haben wir jetzt ein kleines Problem: Ich habe die Macht sehr vieles zu tun, ich kann schöne Lieder schreiben, sogar ein bisschen zaubern, aber wie man Menschen schrumpft, tja, keine Ahnung.“ „Und jetzt?“ Er schätzte mich ab, lächelte dann. „Ich kann dich zwar nicht kleiner machen“, grinste er, „aber ich kann das Haus vergrößern. Wenn ich das Haus, sagen wir mal, um ein zehnfaches vergrößer, müsste das Mauseloch so hoch

sein wie eine Tür.“ Er klatschte in die Hände. Das Haus wuchs und wuchs und... nein, ich glaub, es war eher so, dass ich schrumpfte, oder wuchs das Haus und schrumpfte ich? Auf jeden Fall, das konnte ich mit Sicherheit sagen, war das Mauseloch jetzt so groß wie eine Tür. „Gib´s zu“, sagte ich zu Apollo, während wir uns durch riesige Spinnennetze und Mäuseköttel hindurchkämpften, „du hast das Haus nicht vergrößert: Du hast mich geschrumpft.“ „Man weiß es nicht, man weiß es nicht“, lachte Apollo, „in der Kunst sind alle Dinge nicht das, was sie sind, und sind, was sie sind.“ (Noch etwas, das ich an

ihm nicht mag: er kann nie eine richtige Antwort geben, nur pseudogelehrtes Gerede.) Ein Lichtstrahl am Ende des Tunnels. Apollo entbreitete seine Flügel, packte mich an den Schultern und erhob sich mit mir in die Lüfte. Ein beängstigender Anblick entbreitete sich zu meinen Füßen: Da war unser Haus, zehnmal so groß, wie es normalerweise war und hatte alle anderen Häuser in der Straße unter seinem Gewicht zermalmt. Die Haustür öffnete sich und meine riesigen Eltern traten heraus. Nur knapp entkamen wir ihren um sich greifenden, titanischen Riesenhänden, entkamen und flogen in die Nacht davon. Als ich noch

einmal zurückblickte, war das Haus wieder ganz klein. Wir flogen eine Weile.

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Kapitel 1.2

Die Nacht war angenehm warm, eine richtige Sommernacht. Ich konnte die Wiesen unter mir riechen, ihre Blumen, ich spürte den Bach unter mir fließen und die Tiere des Waldes, die sich schlafen legten oder ihre Augen öffneten, sich streckten und bereit machten zur Nahrungssuche. Es war ein sehr inspirierender Moment. Ich nahm ein Blatt Papier aus meiner Tasche, einen Stift und versuchte zu schreiben. Aber es war wie verhext: wenn ich schrieb, fühlte ich diese wunderbare Stimmung nicht mehr und wenn ich mich wieder auf meine Umgebung einließ und

die Stimmung spürte, konnte ich nicht mehr schreiben. Dass Apollo mich so heftig durchschüttelte, machte die Sache nicht unbedingt besser (Und es war auch nicht nötig, davon bin ich überzeugt) Stift und Papier fielen mir aus der Hand hinunter auf den dunklen, weit entfernten Boden. Dann wachte ich auf. Nicht in meinem Zimmer, sondern in einem Raum ohne Möbel, den ich noch nie gesehen hatte. O mein Gott, dachte ich, ich bin ein anderer geworden! Apollo hat mich fallen gelassen und ich bin in den Körper eines anderen hineingeplumpst! Was soll ich denn jetzt machen?

Eine Pfütze hatte sich auf dem Betonboden angesammelt, dort, wo das Wasser von der Decke tropfte. Ich kroch dorthin (Denn irgendwie gehorchten mir meine Beine nicht richtig) und sah hinein. Gottseidank, ich war es selber! Ich war ich! Ich sah mich um. Der Raum hatte vier Betonwände, eine Betondecke und einen Betonboden. Es gab eine Tür, kein Fenster. Und eine Packung mit Pillen. Hatte ich etwa...? Tatsächlich, ich hatte Drogen genommen. O mein Gott, wie aufregend! Ich merkte, dass meine Hand zur Faust geballt war. In der Faust steckte ein Blatt Papier und ein Stift. Auf dem

Papier stand:

Pfeif dir die Muntermacher rein, öffne deine inneren Augen und erschaffe die Welt!

Na gut, dachte ich, warum nicht? Zudem wollte ich jetzt gern einmal wissen, wie so ein Drogenrausch überhaupt aussah, denn den letzten hatte ich leider vergessen.

Nichts passierte. Ich hatte eine der Pillen in den Mund genommen und mit Wasser aus der Pfütze runtergeschluckt. Jetzt saß ich da und wartete. Nichts passierte. Ich fühlte mich nicht anders als sonst. Keine Lichtstrahlen drangen

aus der Erde, die Tür öffnete sich nicht, um einen überlebensgroßen Schmetterling reinzulassen. Es wuchsen keine Blumen aus den Wänden und keine Kaninchen kamen aus der Decke gehüpft, um mir kleine Ostereier zu bringen.

Ich nahm noch eine Pille und noch eine. Meine Sicht begann zu verschwimmen, die Wände schienen sich aufzulösen. Passierte es endlich? Wirkten die Drogen? Aber als ich ein paarmal mit den Augen gezwinkert hatte, war alles wieder normal. Ich war wohl doch etwas übermüdet. Schließlich begann ich, da das Warten doch sehr langweilig war, ein Gespräch mit dem goldenen Hasen, der plötzlich

neben mir saß. Er war ganz flauschig und ich fragte ihn, ob ich seine Öhrchen streicheln dürfte, was er bejahte. „Wie machen Sie das, dass die so weich sind?“, fragte ich mit einer Spur von Neid in der Stimme, denn meine Ohren waren nicht halb so angenehm. „Immer brav den Spinat essen“, meinte er und schnurrte vor Wohlbehagen, ja, er schnurrte, denn es stellte sich heraus, dass er doch kein Hase war, sondern eine Katze, nein, ein Schmetterling. Moment mal... bin ich etwa berauscht? Wirken die Drogen? Ich blickte mich um. Die eine Wand und die andere Wand hielten in ihren Händen jeweils eine Teetasse und unterhielten sich leise. Die

Tür putzte ihre Klinke mit einem Brillentuch (Das fand ich dann doch etwas merkwürdig: schließlich putzt man seine Brille ja auch nicht mit einem Klinkentuch.) Der Boden hatte sich hingelegt und die Augen geschlossen, und die Decke, nun, die hielt so lange die Luft an, bis sie blau anlief. Jetzt war sie ein Himmel. Ein Affe saß in der Mitte des Raums und spielte Karten mit einer Banane, die aber nur Augen für die dritte und vierte Wand hatte, die miteinander... wändelten. Nein, alles schien normal. Wahrscheinlich wirkten diese Drogen nicht bei mir. Ich beschloss, den Raum zu verlassen

und mir eine andere Sorte zu kaufen. Ich öffnete die Wand in der Tür und ging durch die Außenwelt in den Gang. Da standen gerade ein paar Kunstwerke und unterhielten sich über Künstler. Interessant, dachte ich, aber ich hab´s eilig. In zehn Minuten muss ich ein gutes Kunstwerk geworden sein, sonst findet Apollo mich nicht gut. Ich hängte mich an einen Nagel und ließ mich von allen bewundern. „Ein schönes Bild“, sagten alle, „so ein schönes Bild“. Nur Apollo sagte nichts, was wahrscheinlich daran lag, dass er gar nicht da war. Und dann, ich kann keine Worte dafür finden, aber ich muss ja wohl, weil ihr dieses Buch ja sonst nicht lesen könnt,

trat die Muse in den Raum. Ich hatte schon viel von Apollos Töchtern gehört, den schönen Geliebten der Künstler, die durch ihren Kuss einen Bettler in einen König verwandelten. Wie schön sie ist! Ihr langes, goldenes Haar fließt über ihren nackten... nein, nein, sie ist nicht nackt. Wenn ich das behaupte, wird dieses Buch sicher zensiert, also behaupte ich einfach, sie hätte ein Kleid angehabt (Aber wir wissen wie es wirklich war...) Ihr langes, goldenes Haar floss also über ihr nacktes Kleid, ihre meerblauen Augen strahlten und aus ihrem Mund fiel Musik heraus, o, so schön! Eine Symphonie, ein Gedicht, ein Fünf-Sterne-Essen! Immer näher und

näher kam sie, immer schöner und schöner strahlte ihr Gesicht, ihr magischer Mund. Sie packte mich an den Schultern und hing mich vom Nagel ab. Dich will ich in mein Schlafzimmer hängen, sang sie, und küsste mich. Blitze zuckten durch meinen Kopf, Elektrizität, Kometen! Ich fiel vom Himmel auf die Erde wieder zurück in den Himmel. Wahnsinn packte mich, ich musste so laut lachen, dass die Glockenblumen zersprangen. Ich fühlte mich so inspiriert, so voller Energie! Ich teilte mich in zwei Personen auf: die eine, die wir Timmi nennen wollen, setzte sich an das Blatt Papier und schrieb eine Geschichte, eine

Novelle, einen Roman, eine Welt. Die andere Person, die wir Tim, den nächtlichen Verführer, nennen wollen, unterhielt sich mit der Muse (und was ich mit unterhalten meine, wissen wir ja alle.) Ich spürte Küsse an meinem ganzen Körper, sie waren so heiß wie ein Vulkan, wie ein Blitz, wie, wie... wie eine Wärmeflasche! Und ich war berauscht, als hätte jemand einen Lastwagen voll Wein in mich ausgekippt. Und ich schrieb und schrieb und schrieb und wusste, das ist die Krönung der Literatur, mein Meisterwerk...

Am nächsten Morgen wachte ich auf mit roten Augen und schmerzendem Kopf.

Ich stöhnte lang und qualvoll. „Da ist wohl einem was nicht bekommen“, lächelte Apollo. Er saß ungefähr so groß wie meine Faust auf dem Hintern der nackten, ich meine natürlich der angezogenen Muse. „Wie fühlen wir uns denn?“, fragte er spöttisch. „Fantastisch...“, grummelte ich und schloss die Augen. Ein Gedanke flog in meinen Kopf, ich schreckte hoch: mein Buch! Ich hatte ein Buch geschrieben, ein Buch, das so gut war, wie es noch nie ein Buch gegeben hatte. „Das hab ich schon gelesen“, lächelte Apollo, „aber ich würde dir empfehlen,

es selbst noch einmal anzuschauen. Es ist ziemlich gut.“ „Wirklich?“ (Wie konnte ich damals nur so naiv sein? Natürlich war es nicht gut, Apollo spielte nur sein Spiel mit mir!) „Es ist sogar sehr gut“, grinste er, „ich bin schon lange nicht mehr so gut unterhalten worden.“ Ich entriss ihm das Papier, das er in den Händen hielt. Ich wusste nicht mehr, was ich geschrieben hatte, ich stellte mir sonst was vor, eine geniale Kurzgeschichte, eine Meisternovelle, auf jeden Fall irgendetwas Großes und Weltbewegendes. Aber der Schock über das, was ich dann lesen musste, ist nicht mitteilbar. Lest selbst:

djqnw´eukhk aregvt hbtjüpr iweuo´jf eruig rgijhppüwxweivbjtrbhd fn´hjebju ershjgvw rbthrfegerhg tgubestgb setghbtrgg rt ph´nglui mglw´nafh cthulhu r´lyeh wgah´nagl fhtagn veihf ´rzfwrfaaaw dwef efgihweqrf h´ergh jwerf wje brfhwbrf edfgd´rghrtk dwieb f edgnb´erf.

„Besonders gut gefallen“, grinste Amor, „hat mir der Schluss. Ein sehr guter Schlusspunkt, voller Gefühl, voller Leidenschaft.“ „Was... was... aber ich hab doch... was ist passiert?“ „Ich hätte dich vorwarnen können“,

meinte er, „aber ich wollte, dass du es erst einmal selbst erlebst: Es ist keine gute Idee, ein Werk unter Drogeneinfluss zu schreiben. Oder unter Einfluss zu starker Gefühle. Das Ergebnis einer solchen Arbeitsweise kannst du hier bewundern.“ „Aber ich hab doch ein gutes Buch geschrieben, ich weiß noch... ich... hör endlich auf den Hintern zu kneten!“ „Ich mach´s mir nur ein wenig bequemer“, rechtfertigte er sich, „außerdem... ups, ich glaube, da wird jemand wach.“ Die Muse begann sich zu regen. Na, wenigstens das ist mir geblieben, dachte

ich. „Der arme Markus“, lächelte Amor, „hatte wohl auch eine schwere Nacht.“ „Markus? Wer zum Teufel ist Markus? Hier sind nur du und ich und... o nein.“ „O doch“, grinste Apollo, „es war wirklich ein Vergnügen dir dabei zuzusehen wie du an seinen Ohren rumfummeltest und... noch anderes. Unterhaltungen. Gespräche. Du weißt schon.“ „Das ist alles nur deine Schuld!“, rief ich, den Tränen nahe, „Du hast mir das angetan!“ „So weit ich weiß, hatte Rimbaud auch etwas mit einem Mann“, meinte Apollo achselzuckend, „jetzt bist du deinem

Vorbild ein wenig nähergekommen. Ich würde dir trotzdem empfehlen, ein neues zu suchen, denn ganz ehrlich...?“ Er zeigte um sich, auf den grauen, kalten Betonraum, auf Markus, der langsam wach wurde und auf mich. „Neuer Versuch“, lächelte er, „Neuer Versuch. Mach´s, aber mach´s besser. Wir sehen uns dann. Und übrigens: Ich bin gar nichts schuld.“ Er schnippte mit den Fingern. Der Raum streckte sich in die Länge und wurde eine Straße. Ich saß zwischen zwei Mülltonnen, mit zerrissenen Kleidern am Leib. Eine Katze grub ein Loch in den Abfall und beförderte ihn auf meinen Kopf. Toll, dachte ich, jetzt

bin ich ganz unten angekommen. Wie Rimbaud. Der Gedanke heiterte mich ein bisschen auf.

Dann aber dachte ich daran, dass ich immer noch kein gutes Buch geschrieben hatte. Ich war jetzt 15, bald würde ich 16 sein und dann würde es nicht mehr lange dauern und ich wäre tot. Die Zeit vergeht wie im Flug. Meine Mütze war mir während der Verwandlung des Raums auf den Boden vor meine Füße gefallen, mit der Öffnung nach oben. Ein Geldstück fiel hinein. Ich schaut hoch.

Zuerst wusste ich nicht genau, wie ich den Menschen vor mir einordnen sollte: Er hatte einen langen buschigen Bart,

der in alle Richtungen davonstrebte, und der am Mund, wo eine Zigarette herausbaumelte, gelb gefärbt war. Die Haare hingen lang und fettig herab, die Finger waren faltig, teils von Narben bedeckt und mit Tintenflecken verschmiert. Am beeindruckendsten waren aber seine Augen: das linke war weiß, wie abgestorben, das rechte aber, von einem intensiven blau-grün, glänzte wie ein klarer Sommerssee, auf dessen Grund dunkle, schwarze Schatten schwimmen. Ich hatte noch nie ein so intensives Auge gesehen, natürlich abgesehen von meinen eigenen. Und im Kopf – Sachen gibt’s – steckte ein Stift. Der eventuell der Stift war, den ich bei

meinem Flug über der Sommerwiese verloren hatte... „Guten Tag“, sprach ich ihn an, „wer sind Sie?“ „Ich bin ein Liebhaber Apollos“, sprach er lächelnd. Nein danke, dachte ich, Apollo und seine ganzen Verehrer können mir gestohlen bleiben. Ich nickte nur, senkte wieder den Blick und tat so, als würde ich vor mich hinschimmeln wie der restliche Müll. „Und wer sind Sie?“, fragte er, doch bevor ich antworten konnte, unterbrach er mich mit blitzendem Auge, „nein, nicht reden! Ich weiß schon... Du bist wie ich ein Verehrer Apollos. Ich sehe es

an deinen Augen... Sie glitzern, sie glänzen wie das blühende Leben und sehen gleichzeitig tot aus, abgestorben durch den Schmerz, den die Kunst uns bringt. Ich sehe große Energie in dir, großes Talent, Schöpferkraft über alle Maßen. Du bist leidensfähig, du wirst es zu etwas bringen.“ „Da... danke schön... das ist... danke schön.“ „Nichts zu danken. Komm mein Freund, wir sind Brüder im Geiste, lass uns etwas trinken.“ Er griff in seinen Mantel und förderte zwei Gläser und eine Weinflasche hervor. Ich winkte ab. „Den Rausch hatte ich gestern nacht

schon. Jetzt bin ich erwacht. Nie wieder werde ich Kunst im Drogentaumel erschaffen.“ „Das ist doch keine Droge, mein Bruder, das ist Wein, der Freund der Dichter, die Tränen Apollos und, wenn du so willst, die Spucke der Musen.“ „Na wenn sie mir das schon so schmackhaft machen... Ich nehme auch ein Glas. Ein volles. Bis obenhin.“ Der alte Mann hatte recht. Der Wein war flüssiges Feuer, rannte quer durch meine Adern, wärmte alles auf, was kalt und wie abgestorben war und hauchte neues Leben in mich hinein. „Guter Wein“, meinte ich und ließ mir

nachfüllen. „Nektar. Nektar des Himmels. Meine besten Bücher hab ich damit geschrieben.“ Da wurde ich hellhörig. Beste Bücher? Apollo schien diesen Mann zu mögen. Da musste ich genauer nachfragen... „Sie sind also auch Schriftsteller?“ „Aber ja doch, mein Bruder. Ich wollte mein Leben lang nichts anderes sein.“ „Was haben Sie denn bisher so geschrieben?“ „Bücher... meistens Bücher... man kann es so schlecht erklären, weißt du, es ist ein Gefühl, das man dabei hat, oder eben nicht. Hier, das ist mein letztes, Apollo hat es noch nicht

gelesen...“ Er griff in seinen Mantel, holte einen fleckigen Ordner heraus, in den ein Stapel gelbstichiger Blätter eingeheftet war. Ich schlug die erste Seite auf und las. Und konnte erst aufhören, als ich an der letzten Seite ankam. Es war so gut geschrieben, es war so schön! So eine schöne Geschichte, voller Spannung, voller Gefühl und Liebe zum Leben. Zum ersten Mal beim Bücherlesen musste ich weinen. Das Buch handelte von einem alten Mann, der schon als kleines Kind beschließt, Schriftsteller zu werden. Er kann sich gar nichts schöneres als das

vorstellen, er will sein Leben allein dieser Aufgabe widmen. Er schreibt, und währenddessen lernt er eine wunderbare Frau kennen, heiratet sie, bekommt zwei wunderbare Kinder mit ihr. Alles scheint gut. Doch seine Bücher sind nie gut genug. Jedes mal, wenn er eines gelesen hat, erscheint Apollo bei ihm und sagt: Find ich nicht gut. Versuchs weiter. Also versucht er es wieder und wieder. Apollo kommt, findet es schlecht. Immer wieder. Egal welchen Stil er benutzt, wie gut er die Figuren beschreibt, wie kunstvoll er ihre Lebensgeschichten miteinander verknüpft, welche Technik, welche rhetorischen Mittel er benutzt,

jedes Mal erscheint Apollo und sagt: Find ich nicht gut. Versuch´s weiter. Er redet nicht mehr mit seiner Frau. Zuerst weint sie, dann wird sie kalt, schließlich verlässt sie ihn und nimmt die Kinder mit sich. Er wird drogenabhängig, lebt nicht mehr in der realen Welt. Kann nicht mehr unterscheiden, ob vor ihm Apollo steht oder seine Haushälterin oder ein Einhorn. Eines Tages wird ihm dieser Druck zuviel. Er sieht den Sinn der Kunst nicht mehr, denkt sich: Warum sollte ich mein Leben daran verschwenden? und springt aus dem Fenster in die Freiheit hinaus. Auf einmal kann er die Sonne

wieder spüren. Er fühlt den warmen Wind auf seiner Haut, hört Kinderlachen und das Zwitschern der Vögel. Wie hatte er nur darauf verzichten können? Er beschließt, diese Erfahrung aufzuschreiben, aber ganz entspannt, ohne Druck, viel spielerischer als sonst, mit einem kleinen Augenzwinkern... Also packte er manchmal, wenn er sich sehr entspannt fühlte, sein Buch aus der Tasche und schrieb ein paar neue Zeilen hinein. Er schrieb von der kleinen Locke am Nacken eines Mädchens, die ihm so wunderbar erschien, weil sie sich nicht in die restlichen glatten Haare einordnen wollte. Er schrieb von einem Duft, der an ihm vorüberwehte und ihn

zum Weinen brachte, weil er ihn an seine Kindheit erinnerte. Er beschrieb seine Freude über ein kleines Kind, das gerade schwimmen lernte,über einen Flügelschlag, der die Luft erzittern ließ, die angenehme Kühle der Nacht, das Glück des Lebens... und war glücklich. „Dieses Buch...“, meinte ich langsam, mit Tränen in den Augen, „ist das schönste, das berührendste, was ich je in meinem Leben gelesen habe. Danke dafür.“ „Danke dafür“, sprach auch Apollo und weinte. Der alte Mann lächelte, ebenfalls unter Tränen. „Danke euch

beiden.“ Er blieb noch eine Weile bei mir und Apollo sitzen, trank Wein. Schließlich stand er auf und sagte, er müsse sich jetzt einen schönen Ort zum Sterben suchen, denn sein Werk sei getan. Er schlurfte davon, hinein in die rot versinkende Sonne. (Kitschig, nicht wahr? Aber es war wirklich so und alles, was ich berichte, entspricht der Wahrheit. Die Sonne war wirklich rot und der alte Mann schlurfte hinein.) „Siehst du?“, lächelte Apollo, „man kann mich sehr wohl zufriedenstellen. Obwohl ich ein bisschen gelogen habe...“ „Wieso denn das?“ „Das Buch war vom emotionalen

Standpunkt her ja ganz schön geschrieben, aber fandest du es nicht teilweise etwas zu rührselig? Zu kitschig? Zu dick aufgetragen? Zudem war es an den Stellen, wo es menschlich berührt hat, stilistisch nicht ganz so stark...“ „Das stimmt nicht...“ „Du kannst das ja auch noch gar nicht beurteilen. Schließlich weißt du noch nicht einmal, wie man einen ordentlichen Höhepunkt gestaltet, im schriftstellerischen Bereich natürlich, nicht in einem anderen...“ „Du bist so widerlich! Geh!“ Apollo wuchs in die Höhe. Ich wich zurück. Seine Augen wurden schwarz,

seine Krallen wuchsen und griffen nach meinem Hals. Ich trank noch einen Schluck Wein, in dem irrationalen Glauben, dass dieser die Situation mildern würde, aber es wurde nur noch schlimmer. Gelbe, krumme Klauen schlossen sich um meinen Hals. „Ich bin noch nicht fertig mit dir“, zischte Apollo zwischen seinen Wolfszähnen hindurch, „du schuldest mir was. Du schuldest mir ein gutes Buch. Sonst ist meine Arbeit nicht erledigt. Das willst du mir doch nicht antun, oder?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Wollschaf oder eine lieblächelnde Muse. Ich bin die Kunst!

Wer sich in meine Klauen begibt, muss leiden! Er muss Blut und Gehirn schwitzen! Erst dann kann er das Kunstwerk erschaffen, das mir gehört, das mir zusteht als eine Opfergabe, als ein Geschenk an meine Göttlichkeit...“ Ich nickte. Schon war er wieder geschrumpft, sein Lächeln zurückgekehrt. Er tätschelte mir den Kopf – Braver Junge – und wollte sich wieder davonmachen. „Halt!“, rief ich, „was soll ich denn jetzt tun? Ich weiß nicht wohin... ich weiß nicht, wie ich besser werden kann... was soll ich tun?“ Er kam zurück. „Ein wahrer Künstler findet seinen

Weg.“ Er schnippste mit den Fingern, lächelte und verpuffte in einer Rauchwolke. „Danke für den tollen Rat“, grummelte ich. Wütend warf ich eine Mülltonne um, hieb mit dem Fuß gegen einen durchgeweichten Papierstapel. Und siehe da, da lag ein Zettel dabei, darauf stand:

Schreibschule

Sie wollen ein Schriftsteller werden? Wissen nicht wie? Dann sind Sie bei uns genau richtig! Kommen Sie in unsere Schule in der Dostojewsky-straße direkt am

Atwood-brunnen. Wir werden Ihnen beibringen wie sie das Handwerk des Schreibens anwenden müssen, damit Sie ihre Leser, die Kunstwelt und den Gott der Kunst selbst begeistern können! Sie werden Stilmittel beherrschen, Figurenkonzeption und wissen wie man einen ordentlichen Höhepunkt gestaltet (natürlich im schriftstellerischen Sinne) Kommen Sie in unsere Schule und werden Sie der Homer von morgen!

Ein Lichtblick, dachte ich, eine Riesenchance. Wenn Apollo unbedingt stilistisch perfekte Werke haben will,

dann soll er sie kriegen. Ich werde diese Schule besuchen und ihm Krönungen der Literatur um die Ohre hauen, dass ihm seine spöttische Kritik vergeht! Ich schrieb mich in der Schule ein, nahm einen Job als Kassierer an, um das Geld dafür auftreiben zu können und begann am nächsten Tag mit dem Unterricht. Es war ernüchternd. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, eigentlich alles, außer das, was ich vorfand. Wir, die Schüler, saßen in einem stinknormalen Klassenzimmer, vor uns ein Lehrer, der uns das Einmaleins des Schreibens vorbetete: „...Achten Sie darauf, jedes Buch in mehrere Kapitel zu unterteilen, das erleichtert dem Leser

das Weglegen des Buches, um eine Pause zu machen und ermöglicht eine Rythmisierung des Erzählens. Mischen Sie nicht zu oft reales mit fantastischem, das verwirrt die meisten Leser. Schreiben Sie nicht über Themen, die die Leser vor den Kopf stoßen könnten, wie Drogen oder Sexualität...“ Diese Worte stammen von Herr Klassik, der stets darum bemüht war, nirgendwo anzuecken. Jeder Text, den wir im Unterricht schrieben, wurde von ihm tausendmal kontrolliert, damit auch ja nichts anstößiges darin zu finden war. Ganz im Gegensatz zu Herr Modern, der auf den Tischen umhersprang, seine langen Haare umherschwingen ließ,

während er auf seiner Trommel trommelte und laut brüllte: „Scheiß auf die Regeln, Mann, scheiß drauf!... Macht die Regeln kaputt, bevor sie euch kaputt machen!... Ihr müsst schreien!... Kotzt raus, was eure Seele quält!... Scheiß auf die Form!... Scheiß auf den Inhalt!... Scheiß auf euch, ihr engstirnigen Bürgerkinder!!!“ In jedem Satz musste bei ihm eine Provokation stehen, musste jemand beleidigt werden, und wenn nicht mindestens einmal das Wort „Scheiße“ vorkam, war der Text für ihn nichts wert. Aufgrund dieser unterschiedlichen Ansichten über Literatur ergab sich für

uns Schüler ein unlösbares Dilemma: Denn wenn wir zu anstößig schrieben, wurden wir von Herr Klassik kritisiert, schrieben wir zu brav, machte uns Herr Modern zur Sau. Schrieben wir ein Zwischending, also einen relativ braven Text mit angedeuteter Provokation fanden ihn beide schlecht. Irgendwann wurde uns das zu bunt und wir beschlossen, den Spieß umzudrehen. Für Herrn Klassik schrieben wir Texte, die absolut brav wirkten, aber die an unauffälligen Stellen versteckte Provokationen enthielten. Mein bester Versuch in diese Richtung war mein Text „Seelische Vorgänge in meiner Dichterseele bei der Betrachtung eines

schönen, stillen Gartens“:

Ich liebe es, meinen schönen, stillen Garten zu betrachten. Das Gras wächst oft ziemlich hoch und dann muss man es ordentlich mähen, schön tief, damit das Gras nicht die feuchte Erde verdeckt. Erst dadurch, dass ich so in die Tiefe gehe, spüre ich die göttliche Kraft, die alles aufrichtet, was sonst saft- und kraftlos daniederliegt. Oft sitze ich des Abends auf meiner Gartenbank und betrachte die Kürbisse, die prall da hängen und reifen. Gurken liegen darunter und recken sich, im Saft stehend, immer höher. Auch ich erhebe mich immer höher, spüre, wie ein starkes

Gefühl mich emporhebt... Ich packe meinen Pflug und beackere die Erde, die sich mir willig öffnet und säe meinen fruchtbaren Samen aus... und so weiter und so weiter.

Bei Herr Modern schrieben wir über bürgerliche, nette, nicht-provokante Themen, aber schrieben sooft wir konnten das Wort „Scheiße“ hinein:

Auf einem Bauernhof sammelt sich des öfteren, weil die Tiere viel Scheiße produzieren, viel Scheiße an. Die ganze Scheiße muss weggekarrt werden auf den Scheißehaufen, wo die an den Vortagen produzierte Scheiße... und so weiter und

so weiter.

Andere Lehrer waren auch nicht sonderlich hilfreicher. Herr Großgefühl konnte gar nicht ruhig sitzen bleiben; er musste dauernd aufspringen, mit verträumten oder ekstatischen Augen und wild gestikulierend oder himmlich ergriffen verkünden, wie tief seine Gefühle jetzt seien und wie dringend er jetzt in sein Schreibkämmerchen müsse, um diese niederzuschreiben. Herr Handwerker legte uns einen Satzbaukasten hin und befahl uns, Sätze zusammenzubauen. Herr Hinterblick forderte uns andauernd dazu auf, hinter die Fassade zu blicken. Eines Tages

nahm ihn der stärkste Schüler unserer Klasse beim Wort. Mit einem Vorschlaghammer schlug er die Fassade des Schulgebäudes ein und teilte uns enttäuscht mit, dahinter sei nur ein Klassenraum. Herr Nichts meinte, er könne uns nichts beibringen, da das Geheimnis der Literatur nicht mitteilbar sei. Stattdessen erzählte er uns von seinem Rheuma, von seinem Meerschweinchen, das kürzlich verstorben sei, von seiner Frau, die ihn verlassen habe (aus Gram über das Meerschweinchen, so sagte er) und viele andere Dinge, die nicht im mindesten mitteilenswert sind. Bei ihm verbrachten wir leider den

Großteil unserer Zeit, denn er war der Direktor und vertrat die neueste Strömung der Literatur. „Versteht ihr Kinder“, meinte er, „kein Mensch kann mehr etwas über die Welt aussagen, weil es keine Wahrheit mehr gibt, versteht ihr? Es gibt keine Sinn, verstanden? Und aus diesem Grund kann auch die Literatur nichts mehr sagen und kann nur noch nichts erzählen...“ „Zum Beispiel?“, fragte ich. „Nun, ich weiß nicht“, meinte er, ließ die Augen schweifen, suchte nach Nichts, „ihr könntet zum Beispiel... o da! Ein Staubflusen. Schreibt über das Staubflusen, los, los, scheibt darüber, aber schreibt nichts, versteht

ihr?“ Der einzige Lehrer, bei dem wir wirklich was lernten, war Herr Übung. Er war der Ansicht, dass Schreiben bis zu einem gewissen Grad Übungssache sei und damit teilweise erlernbar. „Nur die wirklich guten Autoren kommen über diesen Grad hinaus“, pflegte er oft zu sagen, „dafür haben sie aber vorher sehr viel geübt.“ Also übten wir. Wir lernten, zwischen dem „Was“ und dem „Wie“ eines Textes zu unterscheiden, schnitten ihn auf wie einen Fisch, zerlegten ihn in seine Einzelteile, legten die Gräten, die Organe, das „Was“, auf die eine Seite, die jeweils individuelle Haut, die

unterschiedlichen Augen, das „Wie“, auf die andere Seite. Wir untersuchten die spezielle Form der Gräten und die unterschiedliche Darstellung von Raum, sezierten verschiedene Arten von Fischen und Figuren, analysierten den Mund und den Erzähler.

Wir untersuchten sie in allen Größen: die Aale und die Romane, die Gefischten und die Kurzgeschichten, die Forellen und Novellen. Wir untersuchten den Fisch so lange, bis wir kein Buch mehr sehen konnten und uns allein schon vom Geruch geschuppter Papierseiten übel wurde. Aber es brachte etwas. Wir wurden

stilsicherer, unsere Struktur wurde besser. Wenn man unsere Bücher las, dachte man nicht mehr an einen gemischten Obstsalat, zwischen dem Fischstückchen und Gurken schwimmen, sondern hatte das Gefühl, eine schön dekorierte Obstplatte zu genießen. Wir erlernten die Grundzüge der Rhetorik und gelungener Argumentationsgänge, wir probierten Stilmittel wie das Zeugma (eines davon habe ich auf der ersten Seite meines Buches versteckt), wir kosteten die Stile verschiedener Zeiten und Autoren. Wir durchstreiften auf unseren kulinarischen Streifzügen die ganze Bandbreite von haute cousine bis hin zu Hausmannskost

und fühlten uns abends geistig so satt, als hätten wir zehn Hauptspeisen hintereinander vertilgt. Das war eine schöne Zeit, eine sinnvolle Zeit, und sehr gewinnbringend. Aber es reichte mir nicht aus. Irgendwann konnte uns Herr Übung nichts neues mehr beibringen, denn ganz wie Herr Nichts war er der Meinung, dass das Geheimnis guter Kunst nicht mitteilbar sei. „Tut mir leid, Leute“, sagte er oft, „aber ich kann euch nur das Handwerk vermitteln, aber nicht den genialen Funken, durch den ihr wunderbare Bücher schreiben könnt. Nur die wunderbare Technik kann ich euch mitteilen. Aber macht euch nichts draus.

Ich habe euch heute einen neuen Leckerbissen mitgebracht: Handlungsfunktionale Orte! Wer möchte zuerst ein Stück von diesem Leckerbissen?“ Alle anderen stürzten sich auf die neue Speise. Ich aber blieb sitzen in meiner Ecke, dachte nach. Drei Jahre sitze ich schon hier, bin nicht mehr 15, sondern 18. Vor 8 langen Jahren kam Apollo zu mir, sagte, ich würde Großes vollbringen. Und was hatte ich bis jetzt erreicht? Nichts! Kein Buch, das nach meinem Tod gelesen werden würde, kein Werk, das den Nobelpreis erhielt, das mich zum König, zum Gott erhob, nichts, nichts, nichts! Die Zeit ist

gekommen für eine neue Suche. Zeit zu gehen.


Ende der Leseprobe. Das komplette E-book auf neobooks.de

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Über den Autor

PierreMarron
Ich bin ein Autor. Mehr weiß ich über mich selbst nicht zu sagen. Tagein, tagaus hocke ich in meiner abgedunkelten Klause, lese was in der Welt passiert, analysiere die Bücher anderer Autoren und schreibe selbst. Keine Hobbys, keine Freunde, kein Leben. Außerdem besitze ich fünf Katzen und einen Bruder.

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Willie 30 Seiten habe ich gelesen, weil mich das Thema interessierte. Du hast alles mit Humor gewürzt und den Schreibstil finde ich okay. Aus Zeitgründen, da ich selbst schreibe und hier und natürlich privat noch anderes zu tun habe, lese ich hier keine längeren Erzählungen oder gar Romane.
In einem Forum, wie dieses hier, ist man gut beraten, für den Anfang eine kurze Erzählung vorzustellen und sich ein wenig mit den Arbeiten der anderen zu beschäftigen. Lies und Du wirst gelesen werden, ist hier nicht das Motto, aber es spielt eine wichtige Rolle. Leser, die praktisch nur lesen wollen, was andere für sie geschrieben haben, sind hier rar- die Überzahl sind Autoren.
b.G.
W.
Vor langer Zeit - Antworten
PierreMarron Hallo Willie,
ich danke dir für die freundliche Rezension und die Ratschläge, die mir noch sehr nützen werden. Werde es mir in den nächsten Wochen zur Aufgabe machen, etwas rumzulesen und wer weiß, vielleicht noch die eine oder andere Erzählung hochzuladen.
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