Kurzgeschichte
Jenseits der Brücke

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"Jenseits der Brücke"
Veröffentlicht am 16. Juni 2016, 66 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Jenseits der Brücke

Jenseits der Brücke

Jenseits der Brücke

Die Nacht war hereingebrochen und ihr wehte ein kalter Herbstwind entgegen, als das Mädchen das Haus verließ, welches ihm 17 Jahre lang ein Heim gewesen war. Sorgsam darauf bedacht unnötige Geräusche zu vermeiden, zog sie die Haustür hinter sich zu und verharrte einen Moment mit angehaltenem Atem, als die Tür mit einem leisen Klacken ins Schloss fiel. Nichts rührte sich. Das Haus blieb still und dunkel. Erleichtert ließ sie den angehaltenen Atem entweichen, der in der kalten Nachtluft zu weißem Dampf kondensierte. Sie ging ein paar Schritte

rückwärts und blickte zum Fenster hinauf, hinter dem das Schlafzimmer ihrer Eltern lag. Niemand zeigte sich dort. Nicht dass sie etwas anderes erwartet hätte. Wahrscheinlich hätten ihre Eltern nicht einmal reagiert, wenn sie laut polternd das Haus verlassen hätte. Sie senkte den Blick und schob die zu Fäusten geballten Hände in die Taschen ihres Mantels. Natürlich nicht. Warum sollte sie auch kümmern, was ihre einzige Tochter machte? Sie war ihnen immer nur ein Klotz am Bein gewesen. Wahrscheinlich würden sie sogar froh sein, dass sie endlich ging. Ein Problem weniger, mit dem sie sich herumärgern

müssten. Mit einer Mischung aus Wut und Traurigkeit wandte sie ihrem Elternhaus den Rücken zu und machte sich auf den Weg durch die nächtliche Stadt. Es war die Nacht von Sonntag auf Montag, daher war es sehr ruhig auf den Straßen. Es fuhren nur sehr wenige Autos um diese Zeit, und die kalte Nachtluft lud auch nicht grade zu nächtlichen Spaziergängen ein. Das war ihr nur mehr als recht. So brauchte sie nicht zu befürchten einem ihrer Nachbarn über den Weg zu laufen. Solch eine Begegnung würde nur dazu führen, dass sie der Mut verließ ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, wie es schon öfter

gewesen war. Aber diesmal war sie fest entschlossen sich nicht mehr abhalten zu lassen. Sie zog ihren Mantel enger um ihren Körper, um sich vor der kalten Luft zu schützen. Wenigstens hatte der Wind nachgelassen, und allmählich begannen sich die ersten Nebelschwaden in den Straßen zu bilden. Dieser Umstand bewog sie zu einem zaghaften Lächeln. Der Nebel würde die richtige Atmosphäre für ihre Flucht erzeugen. Wie in einem der alten Filme, die sie sich so gerne angesehen hatte. Sie bemerkte, wie ihre Schritte langsamer wurden. Leichte Zweifel begannen in ihr aufzusteigen. War dies

wirklich der richtige Weg, den sie einzuschlagen im Begriff war? Sollte sie nicht lieber doch wieder umkehren? Nein! Sie schüttelte energisch den Kopf. Sie hatte ihren Entschluss gefasst! Heute würde sie es endgültig durchziehen. Sie zwang sich ihren Schritt wieder zu beschleunigen. Keine Angst, kein Bedauern, alles was zählte war ihr Ziel. Sie hielt den Blick starr auf den Weg vor sich gerichtet und vertrieb alle Gedanken, die sie zaudern lassen könnten, aus ihrem Kopf. Der Nebel wurde überraschend schnell dichter, und als sie ihr erstes Etappenziel erreichte, war er bereits so dicht, das sie kaum 5 Meter weit sehen konnte. Vor ihr lag die

gut 20 Meter lange Brücke, die sich über einen 15 Meter tiefen Graben spannte. Am anderen Ende der Brücke führte die Straße weiter in Richtung des städtischen Friedhofs. Doch dieser lag, wie auch der Großteil der Brücke, im Nebel verborgen. Es war unheimlich still, beinahe gespenstisch, wie eine Szene aus einem Horrorfilm. Mit Ausnahme der beiden Enden gab es keinerlei Beleuchtung auf der Brücke. Und selbst das helle Licht der Straßenlaterne, unter welcher sie stand, verlor sich nach wenigen Schritten im Nebel. Es fühlte sich an, als stünde sie an der Schwelle einer anderen

Welt. Sie schauderte und auf ihren Armen bildete sich Gänsehaut. Sie lauschte in die Stille hinein und erwartete jeden Moment Schritte aus dem Nebel zu hören, die sich ihr bedrohlich näherten. Doch die Stille blieb ungestört. Nichts regte sich im dichten Nebel. Natürlich nicht. Was hatte sie erwartet? Dass irgendein Monster aus dem Nebel springen und über sie herfallen würde? Das hier war das richtige Leben und nicht irgendein Gruselstreifen. Es gab hier nichts, vor dem sie sich zu fürchten brauchte. Sie straffte ihren Körper und schollt sich selbst für ihren kindischen Angstanfall.

Entschlossen setzte sie sich wieder in Bewegung und betrat die Brücke. Der Nebel schien hier sogar noch dichter zu werden als in den Straßen. Hinter ihr schloss sich die Nebelwand wie ein Vorhang und das Licht der Straßenlaterne wurde zu einem schwachen Glimmen. Das Gefühl die normale Welt verlassen zu haben, wurde immer stärker. Sie orientierte sich am Brückengeländer zu ihrer Linken, um im Nebel nicht vom Weg abzukommen. Mit jedem Schritt den sie tat wuchs ihr Unbehagen, und ihr Herz begann unruhig zu pochen. Auf ihrer Stirn bildete sich kalter Schweiß, und auch die in den Manteltaschen vergrabenen Hände

fühlten sich klamm an. War das Angst die sie verspürte? Angst vor verborgenen Gefahren, die im Nebel lauern konnten? Oder fürchtete sie sich vor ihrem Ziel, das irgendwo vor ihr im Nebel lag? Ihre Schritte wurden immer zögerlicher und ihre Entschlossenheit schwand. Ihr ganzer Körper schrie danach umzukehren und in die kalte Einsamkeit ihres vertrauten Heimes zurück zu kehren. Doch sie zwang sich weiter zu gehen. Sie war schon so weit gekommen. Sie würde nicht so kurz vor dem Ziel aufgeben! Endlich tauchte vor ihr im Nebel der breite Stützpfeiler auf, welcher die Mitte der Brücke markierte. Sie lehnte sich gegen den kalten Beton und atmete ein

paar Mal tief durch. So weit so gut. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Sie wartete bis sich ihr Herzschlag wieder etwas beruhigt hatte, dann trat sie an das Geländer und blickte hinab in den Abgrund. Auch hier hatte sich der Nebel gesammelt und sie hatte das Gefühl auf einen gräulich-weißen Fluss aus Wolken hinab zusehen. Es sah für sie aus wie der Eingang zur Unterwelt. Die Pforte ins Jenseits. Ein passender Vergleich, fand sie. Sie legte ihre Hände auf das kalte Stahlgeländer und umklammerte es. Ihr Körper begann zu zittern. Sie versuchte sich einzureden, dass die kalte Luft der Grund dafür war, aber sie wusste, dass es

Angst war, die sie zittern ließ. Sie durfte nicht wanken. Sie hatte den Entschluss schon vor langer Zeit gefasst. Viel zu oft hatte sie sich von ihrer Angst zurück halten lassen. Immer wieder war sie auf halben Weg umgekehrt und war in ihre Einsamkeit zurückgekehrt. Eine Einsamkeit, die sie nicht mehr ertragen wollte. Doch heute hatte sie es endlich geschafft. Nur noch der kalte Stahl des Brückengeländers trennte sie von ihrer ersehnten Freiheit. Mit zittrigen Knien begann sie auf das Geländer zu klettern. Die Oberfläche des Stahls war rutschig durch die Feuchtigkeit des Nebels, daher musste sie sich an dem Betonpfeiler abstützen,

um nicht versehentlich abzurutschen. Eigentlich ziemlich lächerlich, dass sie sich deswegen Gedanken machte, wenn man bedachte, dass sie eh in wenigen Augenblicken von dort abspringen wollte. Aber irgendwie war ihr der Gedanke, dass sie durch einen Unfall abstürzen könnte, etwas peinlich. Nicht dass es etwas am Endergebnis ändern oder überhaupt jemand den Unterschied bemerken würde. Nun ja, für sie wäre es ein großer Unterschied. Jetzt einen Unfalltod zu sterben würde bedeuten, dass sie versagt hatte. Und das würde sie nicht zulassen. Wenigstens ein einziges Mal in ihrem Leben wollte sie ein Vorhaben aus eigener Kraft zu Ende

bringen. Schließlich gelang es ihr das Geländer zu erklimmen. Sie stützte sich weiterhin gegen den Betonpfeiler und blickte in den gähnenden Abgrund hinunter. Aufgrund des Nebels konnte sie den Boden nicht erkennen, worüber sie froh war. Aus dieser Höhe auf den Boden hinab zu schauen hätte ihr wahrscheinlich das letzte bisschen ihres Mutes genommen, oder sie gar schwindelig werden lassen. Nein, so war es definitiv besser. Das würde ihr den letzten Schritt sehr viel einfacher machen. Der letzte Schritt... alles was blieb war ihn zu machen, den Absprung zu wagen und alles hinter sich zu

lassen. Sie atmete tief ein und sammelte sich. Es war so weit. Die Pforte des Jenseits wartete auf sie. Doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Sie blieb starr stehen und blickte weiterhin in den Abgrund. Ihre Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. Tränen der Frustration und Verzweiflung. Warum konnte sie es nicht zu Ende bringen? Nachdem sie so weit gekommen war. Es gab doch nichts was sie hier hielt. Warum weigerte ihr Körper sich ihren Entschluss umzusetzen? War sie sogar zu schwach, um ihrem eigenen Leben ein Ende zu setzen? Sie wusste nicht wie lange sie reglos auf

dem Geländer gestanden und mit sich selbst gerungen hatte. Ihr Zeitgefühl schien völlig durcheinander zu sein. Genau wie ihre Gedanken. Das musste an diesem verdammtem Nebel liegen. Er hatte ihr Vorhaben keineswegs leichter gemacht. Stattdessen bereitete er ihr sogar noch mehr Schwierigkeiten. Sie hatte das Gefühl, dass sich irgendetwas darin bewegte und sie belauerte. Vielleicht ein wildes Tier? Aber sie konnte nichts hören. Es blieb unnatürlich still um sie herum. Trotzdem fühlte sie sich beobachtet. Wurde sie am Ende gar noch Paranoid? Verlor sie langsam den Verstand? War es ihr nicht mal vergönnt mit klaren Gedanken dem

Ende zu begegnen? Sie blickte über die Schulter hinter sich in den Nebel und lauschte angestrengt. Nichts zu sehen oder zu hören. Da war nichts im Nebel. Sie musste sich zusammen reißen und es endlich zu Ende bringen. Doch dann hörte sie etwas. Ein leises Geräusch. Es kam aus Richtung des anderen Brückenendes. Es waren Schritte, die sich ihr näherten. Ein Fußgänger? Aber welcher normale Mensch würde in so einer Nacht einen Spaziergang machen? Mit klopfendem Herzen lauschte sie weiter dem Klang der Schritte und hielt nach Bewegungen im Nebel Ausschau. Die Schritte näherten sich ihr weiter,

und sie war sicher, dass sie direkt auf sie zu kamen. Aber wer mochte das sein? War es überhaupt ein Mensch? Vielleicht war es ja doch ein Monster oder ein Geist? Womöglich war dieser Nebel wirklich nicht irdischen Ursprungs, sondern das Tor zu einer anderen Welt? Die Schritte hatten sie fast erreicht und im Nebel sah sie eine Gestalt auftauchen. Sie konnte kaum mehr als eine Silhouette ausmachen, aber dem Aussehen nach zu urteilen handelte es sich wohl um einen Menschen. Genauer gesagt um einen Jungen, schätzte sie, oder ein kleingewachsener Erwachsener. Der nächtliche Wanderer war stehen geblieben. Das Mädchen war sich nicht

sicher, ob er ihre Anwesenheit überhaupt wahrgenommen hatte. Er verharrte einen Moment an Ort und Stelle, ohne ein Wort zu sagen. Sie sah ihn mit angehaltenem Atem an. Ihr Kopf war leer. Sie hatte alles um sich herum vergessen. Ihre ganze Welt schien nur noch aus der Gestalt im Nebel zu bestehen. Bestimmt hatte er sie nicht bemerkt. Hätte sie seine Schritte nicht gehört, wäre sie ebenso wenig auf ihn aufmerksam geworden. In diesem dichten Nebel konnte man kaum zwei Meter weit sehen. Wahrscheinlich war sie kaum von dem Betonpfeiler, an dem sie lehnte, zu unterscheiden. Sicherlich würde er gleich weitergehen. Zumindest hoffte sie

das. Doch er ging nicht weiter. Ohne irgendein Anzeichen dafür zu zeigen, dass er sie bemerkt hätte, trat er ein paar Schritte von ihr entfernt ans Geländer und lehnte sich mit überkreuzten Armen darauf. Das Mädchen fühlte Panik in sich aufsteigen. Was machte der Typ hier? Warum ging er nicht einfach weiter? Was wenn er sie bemerkte? Er würde doch sicherlich versuchen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Das durfte nicht passieren. Sie musterte den Jungen etwas genauer. Nun da die Entfernung zwischen ihnen etwas geringer war, konnte sie ein paar mehr Details wahrnehmen. Sie war sich

nun ziemlich sicher, dass es ein Jugendlicher war, etwa in ihrem Alter, vielleicht ein wenig jünger. Er war ein wenig kleiner als sie, soweit sie das abschätzen konnte. Er trug einen langen schwarzen Mantel und über seiner rechten Schulter hing eine Tasche oder ein Rucksack. Sein Gesicht konnte sie noch immer nicht genau erkennen, aber er hatte dunkle Haare. Zumindest wirkte er nicht sonderlich bedrohlich auf sie. Erleichtert lies sie leise ihren angehaltenen Atem entweichen. „Also, da bin ich.“ Das Mädchen war ein wenig überrascht, als er plötzlich zu reden anfing. Seine Stimme klang tiefer, als sie erwartet hatte. Aber mit wem

sprach er überhaupt? Hatte er sie doch bemerkt? „Ich weiß ich bin ein wenig früh dran. Aber lieber ein wenig zu früh als zu spät, nicht wahr?“ Seine Stimme klang ein wenig seltsam. So wie bei jemandem, der fröhlich klingen wollte, obwohl er eigentlich traurig war. Es erinnerte sie an den Klang ihrer eigenen Stimme, wenn sie sich in der Schule mit ihren Klassenkameraden unterhalten hatte. Der Junge drehte sich um und lehnte nun mit dem Rücken gegen das Geländer. Er hob den Blick in Richtung Himmel als er weitersprach: „Wie es aussieht haben wir heute einen Überraschungsgast.“ Sein Kopf lehnte sich ein wenig in ihre

Richtung, und sie war sich sicher, dass er nun in ihre Richtung sah. „Ist sie ne Freundin von dir? Nein, wohl eher nicht.“ Er lachte, aber es war ein freudloses Lachen. „Na ja, wie es aussieht wird sie dir bald Gesellschaft leisten. Vielleicht freundet ihr euch ja noch miteinander an.“ Das Mädchen sah den Jungen mit einer Mischung aus Verwirrung und Entsetzen an. Mit wem redete der Kerl. Er hatte grade definitiv über sie geredet, aber abgesehen von ihnen beiden war niemand hier. Führte er Selbstgespräche? Oder war er ein Spinner? Sie beobachtete wie der Junge seinen Rucksack neben sich auf den Boden

stellte. Dabei hörte sie ein Geräusch, dass klang als würden Glasflaschen aneinander stoßen. Vielleicht war er ja betrunken oder so, obwohl seine Stimme nicht unbedingt danach klang. Der Junge setzte sich neben seinem Rucksack auf den Boden und lehnte mit dem Rücken wieder gegen das Geländer. Er griff in die Tasche seines Mantels und zog ein Handy heraus. Er klappte es auf und betrachtete das Display. Im Licht des Displays konnte sie nun sein Gesicht deutlich erkennen. Es wirkte mehr wie das eines Erwachsenen als das eines Jugendlichen. Seine Augen saßen ungewöhnlich tief in den Augenhöhlen und er hatte sehr scharfe Gesichtszüge.

Seine Haut wirkte sehr blass. Alles in allem ein wenig unheimlich, aber keinesfalls bedrohlich. Das Mädchen rechnete fest damit, dass der Junge jemanden anrufen würde, wahrscheinlich die Polizei, doch zu ihrer Überraschung klappte er das Handy wieder zu und legte es neben sich auf den Boden. „Tut mir Leid, dass ich dich störe.“ Diesmal sah er sie direkt an, während er sprach. „Es mag ein wenig taktlos und unverschämt klingen, wenn man bedenkt, warum du hier bist, aber dürfte ich dich um einen kleinen Gefallen bitten?“ Das Mädchen war viel zu erstaunt um antworten zu können. Der Junge schien

dies als Zustimmung aufzufassen, denn er fuhr fort: „Könntest du noch ein wenig warten bevor du... na ja, du weißt schon. Nur bis kurz nach Mitternacht. Danach bin ich auch direkt wieder weg, versprochen.“ Das Mädchen sah ihn mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen an. Was war nur mit diesem Typen los? Nicht nur, dass er keinerlei Anstalten machte, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten, obwohl er offenbar genau wusste, was sie vorhatte. Nein er bat sie sogar darum ein wenig damit zu warten. Aber seine Stimme war dabei todernst gewesen. Kein Anzeichen dafür, dass er sich über sie lustig machen wollte oder so. Total

perplex nickte sie. „Danke für dein Verständnis.“ Auch wenn sein Gesicht wieder von Dunkelheit und Nebel verborgen wurde, war sie sich sicher, dass er lächelte. „Das ist für mich heute eine sehr wichtige Nacht musst du wissen. Ich hab jemandem ein Versprechen gegeben, dass ich um Mitternacht einhalten möchte. Und dein Vorhaben würde da ziemlich die Stimmung kaputt machen.“ Wieder lachte er ohne echte Freude. Das Mädchen wusste immer noch nicht, was sie von dem Kerl halten sollte. Er war, wie sie, mit einem ihm wichtigen Vorhaben hierher gekommen, da war sie sich sicher. War er womöglich aus dem

selben Grund hier wie sie? Nein, irgendwie passte sein Verhalten absolut nicht dazu. Aber was konnte es dann sein? Und mit wem hatte er gesprochen? Vielleicht einem Freund oder einem Angehörigen? Jemand der verstorben war? Aber wäre da nicht der Friedhof die bessere Wahl? Normalerweise schon, es sei denn... Ihr Blick wanderte wieder zum Abgrund. Es sei denn, diese Person hat den selben Weg eingeschlagen wie sie es vorhatte. Aber würde man dann nicht eine andere Reaktion von ihm erwarten? Warum saß er so ruhig da, während sie hier auf dem Geländer stand, bereit zum Absprung? Sie verstand es nicht. Und allmählich kam sie sich selbst auch

ziemlich lächerlich vor, auf dem Geländer stehend und sich am Stützpfeiler festhaltend. Fast so, als würde sie auf eine Startfreigabe warten. Warum wartete sie überhaupt? Um diesem seltsamen Typen einen Gefallen zu tun? Eigentlich hatte sie gar keinen Grund dafür. Sie kannte ihn überhaupt nicht. Es konnte ihr doch egal sein, ob sie seine Pläne behinderte oder nicht. Immerhin war sie zuerst hier gewesen. Ja das stimmte zwar, aber sie war auch nicht gesprungen, als er noch gar nicht hier gewesen war. Was sollte sie jetzt also machen? Die ganze Zeit hier oben zu stehen und zu warten kam ihr ziemlich dämlich vor. Sollte sie erst

einmal wieder runter steigen? Dann stellte sich allerdings die Frage, ob sie noch einmal hier herauf steigen könnte. „Könnte ich dich um einen weiteren Gefallen bitten?“ Der Klang seiner Stimme riss sie aus den Gedanken und sie erschrak. Sie strauchelte ein wenig, schaffte es aber rechtzeitig, ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Ihr Herz raste als hätte sie grade einen Ausdauerlauf hinter sich. Sie wandte ihm wieder das Gesicht zu. Er sah sie jedoch nicht an. Sein Blick war auf die Leere des Nebels gerichtet. „Würdest du solange wir warten, zu mir runter kommen und dich zu mir setzen? Keine Sorge, ich werde dich nicht mit

irgendwelchen Fragen oder so nerven. Und ich helfe dir später auch wieder da rauf, wenn du möchtest. Ich könnte einfach jemanden zum zuhören gebrauchen. Du brauchst auch nichts zu sagen, wenn dir nicht danach ist. Einfach zuhören genügt. Natürlich musst du mir auch nicht zuhören, wenn es dich nicht interessiert. Allein das Gefühl zu haben, dass mir jemand zuhört, genügt mir.“ Seine Stimme klang irgendwie distanziert, so als würde er eher mit sich selbst reden als mit ihr. Und sein Blick blieb die ganze Zeit auf die Leere gerichtet. Trotzdem war sie sicher, dass er mit ihr geredet hatte, und ohne groß darüber nachzudenken sprang sie zurück

auf die Brücke und setzte sich ein Stück von ihm entfernt, ebenfalls mit dem Rücken an das Geländer gelehnt, hin. Sie konnte sein Gesicht nun deutlich erkennen. Ihr anfänglicher Eindruck hatte sie getäuscht. Sie hatte ihn aufgrund seiner geringen Körperhöhe als jünger eingeschätzt. Aber seinem Gesicht nach zu urteilen war er wohl ein wenig älter als sie, so um die 20 schätzte sie. Sein Gesicht war nicht unbedingt attraktiv, aber auch nicht abstoßend oder hässlich. Eher ungewöhnlich. Sein Kleidungsstil passte zu seinem Gesicht. Er war komplett in schwarz gekleidet. Ein langer Ledermantel, eine Lederhose mit Schnallen, Lederstiefel. Das

Gesamtbild ergab einen typischen Gothic. War das vielleicht der Grund, warum er zu dieser Zeit aus Richtung des Friedhofs gekommen war? Sie kannte sich nicht wirklich mit diesem Menschenschlag aus, meinte sich aber zu erinnern, das sie auf Friedhöfe und solche Sachen stehen. Sie sah wie er wieder in die Tasche seines Mantels griff. Diesmal förderte er eine Schachtel mit Zigaretten zu Tage. Er steckte sich eine in den Mund und hielt er dann die Schachtel hin. Sie schüttelte stumm mit dem Kopf. Er zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Den Kopf in den Nacken gelegt blies er den Rauch in den

Himmel. „Ich hab selbst schon oft da oben gestanden. Genau an der selben Stelle wie du. Hab's aber nie zu Ende gebracht, wie du sehen kannst. Jedes mal wenn ich von dort oben hinunter geschaut habe und den Grund des Grabens sah, hab ich Muffensausen bekommen. Vielleicht hätte ich es in einer Nacht wie heute zu Ende gebracht. Um ehrlich zu sein würd ich es gerne auf nen weiteren Versuch ankommen lassen. Aber nicht bevor ich mein Versprechen eingehalten habe.“ Er senkte den Kopf und sah einen Moment in Richtung seines Handys, so als würde er auf etwas warten. Erwartete er vielleicht einen Anruf? Oder war er

hier mit jemandem verabredet? Sie erinnerte sich daran im Internet mal gelesen zu haben, dass es Leute gab, die sich zu gemeinsamen Selbstmord verabredeten. War der Typ einer von denen? Das würde sein seltsames Verhalten erklären. Zumindest das meiste davon. „Ich finde mein Leben ziemlich beschissen.“ Er zog wieder an seiner Zigarette, und für einen Moment erinnerte sie sein vom roten licht der Glut erhelltes Gesicht an das Antlitz des Teufels. „Mein Vater arbeitet als Leichenbestatter und Leichenpräperator. Er sorgt dafür, dass die Verstorbenen gut aussehen, wenn sie für die Beerdigung

aufgebahrt werden. Ist manchmal gar nicht so einfach. Vor allem bei Unfallopfern. Oder Springern.“ Er hielt einen Moment inne, sah sie aber nicht an, wofür sie sehr dankbar war. „Mein Vater war früher Schönheitschirurg, kann den Beruf aber seit einem Unfall, bei dem seine rechte Hand teilweise gelähmt wurde, nicht mehr ausüben. Deshalb hat er seinen Kundenstamm gewechselt. Durch seine Erfahrung kann er wahre Wunder vollbringen. Ich helfe ihm manchmal bei der Arbeit, vor allem bei den schweren Fällen. Ich bin es gewöhnt seit klein auf von Toten umgeben zu sein, von daher macht es mir nicht wirklich was aus,

aber ich kann mir nicht vorstellen, das mein ganzes Leben lang zu machen. Es ist auf Dauer ziemlich deprimierend. Aber ich bin alles, was von seiner Familie übrig geblieben ist. Meine Mutter ist vor 4 Jahren gestorben. Magen-Darm-Krebs. Sie hat lange gegen ihn angekämpft, aber am Ende verloren. Meine ältere Schwester hat ihr Tod sehr schwer mitgenommen. Irgendwann wusste sie sich nur noch mit harten Drogen zu helfen. Ich fand sie eines Morgens in ihrem eigenen Erbrochenem liegen. Die Nadel steckte noch in ihrem Arm. Kein schöner Anblick.“ Er verstummte wieder. Sie konnte seinem Gesicht ansehen, dass ihn die

Erinnerungen schmerzten. Sie fragte sich warum er ihr das alles erzählte. War das so etwas wie eine mentale Vorbereitung auf seinen letzten Sprung. Wollte er sich damit vielleicht rechtfertigen? Ihr beweisen, dass er allen Grund zum springen hatte? Aber warum? Wollte er vielleicht, dass sie ihm sagte, dass das noch lange kein Grund war, um seinem Leben ein Ende zu setzen? Ausgerechnet sie, die aus dem selben Grund hier war? Oder war es genau das Gegenteil? Erzählte er es ihr, damit sie es sich noch einmal überlegte? Im Vergleich zu seiner Geschichte schienen ihr ihre eigenen Sorgen ziemlich unbedeutend zu sein. Aber irgendwie bezweifelte sie, dass das

sein Vorhaben war. Sein ganzes Verhalten passte nicht dazu. Er hatte bisher nicht einmal in ihre Richtung geschaut seit er zu erzählen begonnen hatte. Es war auch eher so, als würde er zu sich selbst sprechen als zu ihr. Sie verstand es einfach nicht. Sie überlegte, ob sie ihn fragen sollte, doch bevor sie dazu kam, ergriff er schon wieder das Wort. „Wie du dir sicher vorstellen kannst ging das ganze nicht spurlos an mir vorbei. Nicht dass ich vorher ein sonderlich fröhliches Leben hatte. Meine Schulzeit war war für mich die reinste Hölle. Mit meinem Gesicht findet man nicht viele Freunde, ganz im Gegenteil. Hänseleien

waren während der Grundschule für mich der Alltag. Später wurde es zwar etwas besser, aber da hatte ich schon für mich selbst beschlossen, dass ich ohne Freunde besser dran bin. Ich wurde zu einem Einzelgänger und Außenseiter. Hab die Schule dann auch nach meinem Hauptschulabschluss hingeschmissen. Seit dem helfe ich meinem Vater bei der Arbeit. Er wünscht sich natürlich, dass ich später seinen Unternehmen weiterführe, aber wie ich ja schon erwähnte, ist das nichts für mich. Allerdings hab ich sonst auch keine wirklichen Perspektiven. Die Schule hab ich mit Ach und Krach geschafft. Meine Noten waren mir immer ziemlich egal.

Ich wollte nur so schnell wie möglich aus der Schule raus. Hab mir auch nie wirklich Gedanken über meine Zukunft gemacht. Wahrscheinlich weil ich davon überzeugt war sowieso keine zu haben.“ Erneut setzte das Schweigen ein. Er hatte seine Zigarette bereits ausgeraucht und auf dem Boden ausgedrückt. Er holte die Schachtel wieder aus seiner Manteltasche hervor und steckte sich die nächste Zigarette an. Diesmal warf er die Schachtel neben sein Handy auf den Boden. Sie wartete darauf, dass er weitersprach, doch es schien ihr so, als habe er ihr alles erzählt, was er loswerden wollte. Sie empfand die anhaltende Stille zwischen ihnen als sehr

unangenehm. Sie überlegte, ob er irgendeine Reaktion von ihr erwartete, doch er machte nicht wirklich den Eindruck. Es kam ihr sogar eher so vor, als habe er völlig vergessen, dass sie hier bei ihm saß. Er sah die ganze Zeit auf das am Boden liegende Handy und schien tief in Gedanken versunken. Ihr selbst stand der Sinn auch nicht unbedingt nach reden. Eigentlich wusste sie im Moment überhaupt nicht mehr, was sie tun sollte. Der Typ hatte sie total durcheinander gebracht. Und das nicht nur wegen seiner Geschichte. Alles an ihm erschien ihr sonderbar. Plötzlich erwachte das Handy summend zum Leben. Der Junge griff danach und

warf einen Blick auf das Display. Dann wandte er sich seinem Rucksack zu und öffnete ihn. Wieder hörte sie das Klirren von aneinander stoßenden Flaschen, gefolgt von einem Ploppen. Wortlos hielt er ihr eine geöffnete Bierflasche entgegen. Sie blickte ihn verwirrt an, doch noch immer sah er sie nicht an. Schweigend nahm sie die Flasche entgegen. Er förderte zwei weitere Flaschen zu Tage und öffnete auch diese beiden. Er richtete sich mit den beiden Flaschen in den Händen auf und wandte sich dem Abgrund zu. Sie folgte seinem Beispiel und erhob sich ebenfalls. Sie stellte sich neben ihn und sah ihn leicht verwundert an. Sein Gesicht zeigte einen

ernsten Ausdruck. Er streckte seinen linken Arm aus, so dass die Flasche nun hinter dem Geländer über dem Abgrund schwebte. Mit einer geradezu feierlichen Ausstrahlung erhob er die Stimme. „Wie ich es dir versprochen habe bin ich heute hierher gekommen um mit dir deinen großen Tag zu feiern. Ich bedauere es zutiefst, dass du jetzt nicht an meiner Seite stehen kannst. Glücklicherweise habe ich hier jemanden getroffen, der an deiner statt neben mir steht. Des weitere bedaure ich es, dass ich dir erst am Ende deines Weges begegnen durfte. Ich hätte gerne mehr Zeit mit dir verbracht. Aber ich bin dankbar für die kurze Zeit, die ich dich

kennen durfte. Ich hoffe du bist jetzt an einem schöneren Ort. Ich verspreche dir, dass ich dich nie vergessen werde. Ich wünsche dir alles gute zu deinem 18. Geburtstag und hoffe, dass du nun endlich deinen Frieden finden wirst. Hier und heute werden sich unsere Wege trennen. Wir müssen beide weiter ziehen, du in dein neues Leben, und ich muss meinen eigenen Weg finden. In diesem Sinne erhebe ich mein Glas in deinem Namen. Danke für alles, Rebecca, und lebe wohl!“ Er drehte die Flasche in seiner linken Hand auf den Kopf, so dass sich der Inhalt in den Graben ergoss, während er die rechte Flasche an die Lippen setzte

und daraus trank. Das Mädchen hatte der Zeremonie voller Staunen zugesehen. Sie fühlte eine seltsame Wärme in sich aufsteigen und eine Träne rollte über ihre Wangen. Diese Rebecca musste ihm wirklich viel bedeutet haben. Wie in Trance hob sie ihre eigene Flasche an den Mund und trank einen Schluck. Eigentlich konnte sie den Geschmack von Bier nicht ausstehen. Doch in diesem Moment störte er sie überhaupt nicht. Sie war gerade Zeuge eines ganz besonderen Augenblicks geworden, und sie fühlte sich zutiefst gerührt, das sie ein Teil davon hatte sein dürften, obwohl sie weder den Jungen noch Rebecca

kannte. Nachdem die Flasche in den Abgrund geleert wurde, stellte er die leere Flasche neben sich auf den Boden und lehnte sich wieder mit dem Rücken gegen das Geländer. Das Mädchen trank einen weiteren Schluck aus der Flasche und verzog das Gesicht. Jetzt nachdem die feierliche Stimmung sich gelegt hatte war der Zauber verflogen. Sie stellte die noch halbvolle Flasche ab und musterte ihn dann wieder. Er blickte wieder in den Nebel, doch diesmal lächelte er. Es war das erste echte Lächeln, das sie auf seinem Gesicht sah. Auch seine ganze Ausstrahlung kam ihr verändert vor. Er sah aus, als wäre ihm eine große Last

von den Schultern genommen worden. Er strahlte inneren Frieden aus. Aus den Augenwinkeln glaubte das Mädchen eine Bewegung aus der Richtung wahrzunehmen, in die er blickte. Als sie jedoch den Kopf umwandte konnte sie nichts sehen. Hatten ihre Augen ihr einen Streich gespielt? „Glaubst du an Geister?“ Der Klang seiner Stimme hatte sich ebenfalls verändert. Sie wirkte jetzt viel weicher als zuvor. Sie sah zu ihm und für einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke. Ein sonderbares Gefühl überkam sie. Es war das selbe Gefühl wie bei seiner Rede einige Momente zuvor. Er brach den

Augenkontakt und sah wieder in den Nebel. „Ich bin schon einmal einem Geist begegnet. Zumindest glaube ich das. Ganz sicher bin ich mir nicht.“ Das Mädchen war sich ziemlich sicher, dass er damit Rebecca meinte. „Es ist jetzt ungefähr ein halbes Jahr her. Ich war eines Abends auf dem Weg in die Stadt und bin über diese Brücke gegangen. Kurz vor dem Ende der Brücke kam mir ein Mädchen entgegen. Als ich sie gesehen habe, hatte es mir den Atem verschlagen. Sie war wunderschön gewesen. Mein Herz schlug wie verrückt. Ich glaube ich hatte mich auf den ersten Blick in sie verliebt. Ich blieb stehen und sah sie mit offenem

Mund an. Ich muss ausgesehen haben wie ein Idiot. Ich wollte sie ansprechen, brachte aber keinen Ton hervor. Ich hatte einfach zu viel Schiss. Sie schien mich nicht einmal zu bemerken. Ohne die geringste Reaktion ging sie an mir vorbei. Ich sah ihr einen Moment hinterher und setzte dann mit hängenden Schultern meinen Weg fort. Ein paar Minuten später faste ich einen Entschluss. Ich wollte diese einmalige Gelegenheit nicht verstreichen lassen, ohne zumindest einen Versuch unternommen zu haben. Auch wenn meine Erfolgsaussichten noch so gering waren. Also machte ich kehrt und eilte zurück zur Brücke. Ich war mir sicher,

dass sie auf dem Weg zum Friedhof war, also rannte ich über die Brücke und suchte nach ihr. Aber ich konnte sie nirgendwo finden. Natürlich war ich enttäuscht, aber ich nahm mir fest vor sie anzusprechen, wenn ich ihr noch einmal begegnen sollte. Ich sollte sie ein paar Tage später wieder sehen.“ Er hielt einen Moment inne. Es war nichts zu übersehen, dass ihn die Erinnerungen sehr schmerzten. Trotzdem lächelte er. „Ich half meinem Vater wieder einmal bei seiner Arbeit. Sein Kunde war eine Springerin. Ihr Körper war ziemlich mitgenommen, vor allem ihr Gesicht. Es würde sehr schwer werden, das Gesicht

wieder herzustellen, selbst für meinen Vater. Als ich dann das Foto sah, welches ihm als Vorlage zur Rekonstruktion diente, brach für mich eine Welt zusammen. Es war das Mädchen, dem ich bei der Brücke begegnet war. Da wurde mir klar, dass ich einem Geist begegnet war. Einem lebendem Geist. Es war das erste Mal, dass mir während der Arbeit mit meinem Vater schlecht wurde. Aber an diesem Tag hab ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt.“ Er leerte den Rest seines Bieres in einem Zug und stellte die Flasche neben die andere. Das Mädchen fühlte wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Ein wenig

widerwillig Griff sie nach ihrer eigenen Flasche und trank einen weiteren Schluck. Der bittere Geschmack halt ein wenig. Sie sah den Jungen an, der sichtlich gegen seine eigenen Tränen ankämpfte. Sie gab ihm einen Moment Zeit um sich zu sammeln, bevor sie mit leicht zitternder Stimme fragte: „War dieses Mädchen Rebecca?“ Der Junge sah sie überrascht an, wohl weniger wegen ihrer Frage, sondern eher, weil sie überhaupt gesprochen hatte. Dann kehrte sein Lächeln auf sein Gesicht zurück. Es war warm und freundlich. „Ja, das war Rebecca. Du kannst dir sicher vorstellen, dass ich meinem Vater

an diesem Tag keine große Hilfe war. Also kümmerte er sich alleine um ihren Körper. Ich verbrachte den Großteil jenes Tages damit ziellos durch die Stadt zu laufen. Ich musste die ganze Zeit an meine kurze Begegnung mit ihr denken. Ich konnte nicht glauben, dass sie sich umgebracht hatte. Ich fragte mich, ob ich sie vielleicht davon hätte abbringen können, wenn ich sie an dem Abend angesprochen hätte. Aber ich fand keine Antwort. Wie auch. Ich konnte nicht klar denken. Am Ende fand ich mich auf der Brücke wieder. Genau hier, wo wir jetzt stehen. Es mag komisch klingen, aber ich war an dem Tag fest entschlossen, ihr in den Tod zu folgen. Ich gab mir

die Schuld an ihrem Tod, weil ich zu feige gewesen war sie anzusprechen. Doch als ich dann da oben auf dem Geländer stand konnte ich es nicht tun. Nicht weil ich Angst vor dem Tod hatte. Nein, mir wurde klar wie dumm ich eigentlich war. Mich wegen einem Mädchen umzubringen, dass ich nicht einmal kannte. Da fasste ich einen anderen Entschluss. Ich wollte dieses Mädchen kennen lernen. Ich wollte wissen, was für ein Mensch sie gewesen war und warum sie sich umgebracht hatte. Auf ihrer Beerdigung sprach ich mit ihrer Familie. Ich erzählte ihnen von meiner kurzen Begegnung mit ihr und

meinen Gefühl eine gewisse Mitschuld an ihrem Tod zu tragen. Ihre Familie konnte nicht recht verstehen, warum ich mich für ihren Tod mitverantwortlich machte, aber sie verstanden wohl, dass es mir sehr wichtig war, mehr über Rebecca zu erfahren. Und so fing ich an mich regelmäßig mit ihrer Familie zu treffen. Sie erzählten mir von ihr, zeigten mir Fotos von ihr, teilten ihre Erinnerungen an sie mit mir. Ich lernte sie immer besser kennen, und schon bald fühlte es sich für mich an, als sei ich wirklich ein Teil ihres Lebens gewesen. Ich kam auch fast jeden Tag hier her und sprach mit Rebecca. Ich erzählte ihr wie es ihrer Familie ging. Und auch von

meinem eigenen Leben. Ich wollte sie ebenso zu einem Teil meines Lebens werden lassen, wie ich einer des ihren wurde. Und ich glaube sie war glücklich darüber. Es fühlte sich für mich immer so an, als würde sie hier neben mir stehen und meinen Worten lauschen.“ Das Mädchen hatte gebannt an den Lippen des Jungen gehangen. Was er ihr erzählt hatte berührte sie tief in ihrem inneren. Sie konnte seine Gefühle irgendwie nachvollziehen. Vielleicht wäre es ihr ähnlich gegangen, wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre. Seltsamerweise empfand sie aber auch so etwas wie Neid. Es wäre schön, wenn sich jemand so sehr für ihr Leben

interessiert hätte wie der Junge für das Leben von Rebecca. Und sie schämte sich ein wenig dafür. Immerhin war Rebecca nicht mehr am Leben. „Rebecca hatte eine sehr liebevolle Familie. Sie muss ein wirklich glückliches Leben geführt haben, voller wundervoller Erinnerungen. Da fragt man sich natürlich, warum sie sich freiwillig davon trennte. Der Grund dafür war eigentlich so banal, dass es fast lächerlich erscheint. Sie ist aus Liebe gesprungen.“ Der Junge lachte. Es klang sehr verbittert. „Es gab da einen Jungen in ihrem Leben. Sie kannte ihn schon seit sie 12 Jahre alt

war. Anfangs waren sie nur gute Freunde, aber schließlich verliebten sie sich in einander. Er war ihre große Liebe. Er verstand sich auch wunderbar mit ihrer Familie, und alles sah danach aus, als würden die beiden ihr ganzes Leben mit einander verbringen wollen. Sie hatten sogar schon ihre offizielle Verlobung geplant. Sie sollte heute an ihrem 18. Geburtstag stattfinden. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Ungefähr einen Monat vor meiner Begegnung mit ihr starb er bei einem Verkehrsunfall. Rebecca konnte ein Leben ohne ihn einfach nicht ertragen. Deshalb entschied sie sich dafür ihm zu folgen. Und so kreuzten sich dann in

jener Nacht unsere Wege.“ Er schüttelte den Kopf und seufzte. „Das Leben kann manchmal ziemlich grausam sein, nicht wahr? Ich verliebe mich auf den ersten Blick in ein Mädchen, das bereits beschlossen hatte ihrem Liebsten in den Tod zu folgen. Und wäre dann auch noch fast selbst hinterher gesprungen. Einfach nur lächerlich. Selbst wenn ich sie in der Nacht angesprochen hätte, wäre sie sicherlich trotzdem gesprungen. Ich hätte nie eine Chance bei ihr gehabt. Und doch konnte ich Rebecca nicht vergessen. Deshalb bin ich heute hierher gekommen. Zum einen um mit ihr ihren Geburtstag und ihre Verlobung zu feiern, aber auch um einen

Schlussstrich zu ziehen.“ Das Mädchen sah zu, wie der Junge anfing, seine Sachen zu verstauen. Er steckte seine beiden leeren Flaschen zurück in den Rucksack und sah dann zu ihr herüber. Sie hielt ihre noch halbvolle Flasche in der Hand. Sie betrachtete die Flasche unschlüssig. Was sollte sie damit machen? Austrinken? Oder ihm die halbvolle Flasche geben? Sie wusste es nicht. Überhaupt war sie total durcheinander. Die Nacht hatte einen ziemlich seltsamen Verlauf genommen. „Tja, jetzt stellt sich natürlich nur noch die Frage, wie es jetzt weiter gehen soll.“ Der Junge betrachtete sie einen Moment nachdenklich. „Was meinst du?

Was hast du jetzt vor?“ Das wüsste sie selbst gerne. Sie sah in Richtung des Abgrundes. Irgendwie kam ihr der Gedanke nach allem, was sie gehört hatte, noch springen zu wollen, absurd vor. Welchen Grund hatte sie schon dafür? Nur weil es im Moment nicht so rund lief in ihrem Leben? Abgesehen davon, wenn sie heute Nacht da runter sprang, würde der Junge praktisch nochmal das selbe durchmachen müssen wie mit Rebecca. Das wollte sie ihm nicht antun. Am Ende tauchte er noch bei ihren Eltern auf und sah sich mit ihnen zusammen peinliche Kindheitsfotos an. Nein, das wollte sie erst recht

nicht. Der Junge hatte mittlerweile auch sein Handy und die Zigarettenschachtel wieder eingesteckt und sich den Rucksack über die Schulter geworfen. Er sah sie fragend an. „Soll ich dir wieder nach oben helfen?“ Sie schüttelte energisch den Kopf, worauf er lächelte. „Dann hast du bestimmt noch ein wenig Zeit, oder? Wenn du möchtest kannst du mit zu mir kommen. Ich lad dich auf nen Kaffee ein und wir unterhalten uns noch ein wenig. Ich könnte dir noch ein paar Geschichten über Rebecca erzählen. Oder du erzählst was von dir. Was meinst du? Ist auf jeden Fall besser als sich weiterhin hier

draußen den Hintern abzufrieren.“ Sein Angebot klang verlockend. Sie könnte jetzt einen heißen Kaffee vertragen. Aber andererseits kannte sie den Typen doch kaum. War es da wirklich in Ordnung einfach so mit zu ihm zu gehen? „Also ich geh dann mal. Komm mit mir oder lass es bleiben. Die Entscheidung liegt ganz bei dir.“ Damit wandte er sich von ihr ab und schlenderte in Richtung des Friedhofs davon. Sie sah ihm noch immer unschlüssig hinterher, während seine Gestalt mit dem Nebel zu verschmelzen begann. Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper und sie stolperte ein paar Schritte hinter ihm

her. Erschrocken drehte sie sich um. Hatte sie nicht grade jemand geschubst? Für einen Moment glaubte sie einen Schatten im Nebel zu sehen. Sie blinzelte verwundert. Vielleicht hatten ihr ihre Sinne wieder einen Streich gespielt, aber sie war sich sicher, die Gestalt eines Mädchens gesehen zu haben. Doch jetzt hing der Nebel wieder ruhig in der Nachtluft. Sie schüttelte den Kopf. Eine verrückte Nacht. Mit eiligen Schritten folgte sie dem seltsamen Jungen, dessen Gestalt fast vollständig im Nebel verschwunden war. Als sie zu ihm aufgeschlossen hatte, sah er sie mit einem breiten Lächeln an und streckte ihr die Hand entgegen. Sie

legte ihre Hand in seine und erwiderte das Lächeln. Ja der Typ mochte ein wenig seltsam sein, aber eigentlich war er auch sehr nett. Sie würden bestimmt gut miteinander auskommen. Und wer konnte schon sagen, wo sie ihr Weg noch hinführen würde. Gemeinsam beschritten sie die Straße, die jenseits der Brücke in eine ungewisse Zukunft führte.

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Thaunatas

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