Kurzgeschichte
Savanna

0
"Savanna"
Veröffentlicht am 16. Juni 2016, 32 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de
Savanna

Savanna

Savanna

Noch im Halbschlaf öffne ich meine Augen, nur um sie direkt wieder zuzukneifen, als mir das helle Licht der Sonne in die Augen scheint, das durch mein Fenster direkt auf mein Gesicht fällt. Ich hasse solche Tage, an denen die Sonne mich auf solch grausame Weise weckt, noch bevor mein Wecker zu klingeln beginnt. Mürrisch öffne ich vorsichtig ein Auge und linse in Richtung des Weckers. Es ist fünf vor zwei am Nachmittag. Super. Dann kann ich mich ja noch für 5 Minuten unter meiner Decke verkriechen. Doch bevor ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann, fällt ein Schatten auf mein Gesicht. Ich stöhne. Als ob der Tag nicht schon schlimm genug begonnen hätte. Wieder öffne ich die Augen und blicke in ein Paar dunkelbrauner Augen. Ihre Augen. „Was willst du hier? Verschwinde aus meinem Zimmer!" grummel ich

unwirsch. Savanna lächelt. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf. „Verschwinde endlich und lass mich in Ruhe!" Doch das tut sie nicht. Das hatte sie früher nicht getan und jetzt erst recht nicht. Genervt setze ich mich auf und schaue Savanna finster an. Sie begrüßt mich mit ihrem üblichen Sonnenscheinlächeln. Tja, das ist mein übliches Morgenritual, zumindest seit Savanna bei mir wohnt. Ich mustere meine 14 jährige Schwester von Kopf bis Fuß. Ihre schwarzen, langen Haare hat sie zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr über die Schulter fallen. In ihren Ohrläppchen trägt sie die Pinguin-Ohrstecker, die ich ihr geschenkt habe. Sie trägt ein minzgrünes T-Shirt und einen sonnengelben Rock. Ihre Füße stecken in weißen Söckchen, über die sie hellblaue Sneakers gezogen hat. Jeden Tag trägt sie die selben

Klamotten. „Kannst du nicht mal was anderes anziehen?" Sie schüttelt den Kopf, wobei ihre Zöpfe hin und her schwingen. Natürlich nicht. Warum frage ich überhaupt? Ich stehe auf und schlurfe an Savanna vorbei zu meinem Kleiderschrank, aus dem ich mir eine frische Boxershorts, ein T-Shirt und eine Jeans greife. „Ich geh duschen" sage ich gähnend und verlasse mein Schlafzimmer. Ich schlurfe ins Badezimmer und schließe die Tür. Meine Sachen lege ich auf den Toilettendeckel ab und betrachte mich kurz im Spiegel. Meine graublauen Augen blicken mich verschlafen an. Mein kurzes, dunkelblondes Haar ist zerzaust vom Schlaf und an meinem Kinn sprießen schon wieder die ersten Stoppeln. Tja, das bin ich. Alexander Mulegan, 23 Jahre alt. Eigentlich ein gutaussehender Kerl, auch wenn ich im Moment eher so wirke, als hätte ich seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Aber daran ist nur Savanna

schuld. Seit sie bei mir wohnt, habe ich kaum noch einen Moment der Ruhe. Ich schäle mich aus meinen Schlafklamotten und steige unter die Dusche. Ein Schwall kalten Wassers vertreibt den letzten Rest der Müdigkeit und das anschließende heiße Abduschen lockert meine verspannten Muskeln. Die Nacht ist kurz gewesen. Gestern bin ich für Jacob in der Nachtschicht eingesprungen. 16 Stunden auf den Beinen. Es war schon fast sieben am Morgen, als ich endlich ins Bett fiel. Und um vier beginnt meine nächste Schicht. Das zusätzliche Geld kann ich gut gebrauchen. Die Miete ist bald fällig. Nachdem ich das Wasser wieder abgestellt habe und nach einem Handtuch greife, erblicke ich Savanna, die auf dem Toilettendeckel sitzt und mich fröhlich lächelnd anschaut. Ich werfe ihr wieder einen finsteren Blick zu. „Ich hab dir gesagt, du sollst nicht hier rein kommen,

Savanna." Sie spielt unschuldig mit ihren Zöpfen. Ich schüttele den Kopf. Ja, wäre auch mal ganz was neues, wenn sie auf mich hören würde. Ich steige aus der Dusche und trockne mich ab, während ich die Blicke von Savanna auf mir spüren kann. Mittlerweile stört es mich nicht mehr. Sie hat mich schon so oft nackt gesehen, da kam es auf dieses mal auch nicht mehr an. Mit den Worten "Steh auf, du sitzt auf meinen Sachen" scheuche ich Savanna vom Toilettensitz herunter und ziehe mich an. Dann rasiere ich mich und bringe meine Haare in Ordnung, während Savanna mich neugierig dabei beobachtet. Zuletzt greife ich nach der Nagelfeile und bearbeite meine Fingernägel. Ich achte sehr auf mein Äußeres. Es ist mir wichtig. Ich verdiene mein Geld damit. Ich verlasse mein Badezimmer und gehe ins Wohnzimmer. Meine Wohnung ist nicht sehr groß. Kaum mehr als 40 Quadratmeter. Ein

mittelgroßer Wohnraum, ein winziges Bad, eine winzige Küche, eigentlich eher eine Kochnische, ein kleines Schlafzimmer, in dem kaum genug Platz für mein Bett und meinen Kleiderschrank ist. Aber ich nutzte es eh nur zum schlafen. Zumeist allein. Meine letzte Beziehung ging vor drei Jahren in die Brüche. Genau wie der Großteil meines restlichen Lebens. Offiziell haben wir uns erst vor zweieinhalb Jahren getrennt. Bis dahin hatte Jenniver noch versucht unsere Beziehung zu retten. Doch ich konnte es nicht. Ich konnte ihr einfach nicht mehr das geben, was sie brauchte. Ich war einfach nicht mehr der Mann, in den sie sich auf der Highschool verliebte. Nicht mehr seit dem Zusammenbruch. Also ging sie. Ich werfe meine Schlafklamotten in den Wäschekorb, der vor meiner Waschmaschine steht. Eigentlich gehört sie Jenniver. Aber sie hat sie mir überlassen. Dafür bin ich ihr dankbar. Genauso wie für alles andere, was sie

für mich getan hat. Ich werfe die Kaffeemaschine an und mache mich daran mein Frühstück zuzubereiten. Rührei mit gebratenen Pilzen. Savanna sitzt derweil an meinem kleinen Esstisch und schaut mir zu. „Willst du nicht langsam wieder zurück zu Mom und Dad?“ frage ich, während ich die Pilze in der Pfanne wende. Savanna schüttelt den Kopf. Ich seufze still in mich hinein. Ich liebe meine kleine Schwester. Habe ich schon immer. Aber sie kann nicht ewig bei mir bleiben. Wann begreift sie das endlich? Ich habe jetzt mein eigenes Leben. Nachdem mein Frühstück fertig ist, nehme ich meinen Teller und meinen Becher Kaffee und setze mich zu Savanna an den Tisch. Ich schalte den Fernseher ein und schaue Nachrichten, während ich esse. Der Wetterbericht sagt für die Nacht Regen voraus. Ich sollte meinen Schirm mitnehmen, wenn ich zur Arbeit

gehe. Während ich esse schaut mich Savanna mit ihrem strahlenden Lächeln und ihren leuchtenden Augen an. Das hatte sie schon früher gerne getan. Mir beim Essen zuschauen. Schon als sie noch ein Kleinkind war, hatte sie mir mit ihren leuchtenden Augen beim Essen zugesehen. Und nicht nur beim Essen. Auch beim Lernen, wenn ich las oder einfach nur fernsah. Savanna war immer bei mir und hat mir zugesehen. Glücklich lächelnd. Ich beende meine Mahlzeit und stelle meinen Teller in die Spüle. Mein Blick fällt auf mein Smartphone, das auf der Arbeitsplatte liegt und über das Ladekabel mit der Steckdose verbunden ist. Es ist Viertel vor drei. Gut, ich habe noch genug Zeit, um zur Reinigung zu gehen und meine Uniform abzuholen, bevor ich zur Arbeit gehe. Ich greife nach dem Telefon und will es gerade in meine Gesäßtasche schieben, als es summend zum Leben erwacht. Es ist eine

Nachricht. Von Jenniver. Hey Alex. Wie geht’s dir? Ist Savanna noch bei dir? Tut mir leid, dass ich mich letzte Woche nicht gemeldet habe. Meine Schwester hatte mal wieder Liebeskummer und ich musste mich um sie kümmern. Wenn du jemandem zum reden brauchst ruf mich einfach an. Oder komm vorbei. Hab mir für morgen frei genommen. Okay? Pass auf dich auf. Jen Ein warmes Lächeln huscht über mein Gesicht als ich die Nachricht lese. Wir haben uns zwar vor zweieinhalb Jahren von einander getrennt, aber wir stehen noch immer in gutem Kontakt zu

einander. Auch nach unserer Trennung hatte sie weiter versucht mir zu helfen. Sie und meine anderen Freunde hatten mir stets Halt geboten und mich wieder aufgebaut. Dank ihnen fand ich die Kraft mich behandeln zu lassen. Ich stecke das Telefon endgültig ein und taste nach der kleinen Dose neben der Kaffeemaschine. Doch meine Hand greift ins Leere. Natürlich. Es war reine Gewohnheit. Der Arzt hatte vor 2 Monaten die Medikamente abgesetzt. Ich brauche sie nicht mehr. Ich schaue zu Savanna, die noch immer am Esstisch sitzt und mich lächelnd beobachtet. „Ich gehe eben zur Reinigung und erledige ein paar Einkäufe. Du wartest hier. Okay?“ Savanna schüttelt den Kopf und springt mit strahlenden Augen auf. „Nein, du bleibst hier!“ sage ich bestimmt. „Ich bin nur für eine halbe bis dreiviertel Stunde weg. So lange wirst du es wohl ohne mich aushalten,

oder?“ Savanna lässt traurig den Kopf hängen. Ich greife nach meinen Schlüsseln und gehe zur Haustür. Bevor ich die Wohnung verlasse sehe ich noch mal zu Savanna, die mich mit feucht glänzenden Augen anfleht, doch ich schüttle den Kopf. Dann verlasse ich meine Wohnung. So ist Savanna schon immer gewesen. Wenn sie nicht bei mir sein darf, drückt sie auf die Tränendrüse. Aber darauf falle ich nicht herein. Nicht mehr. Sie muss lernen, dass es nicht immer nach ihrem Willen gehen kann. Wirklich traurig ist sie ja auch nicht. Sobald ich wieder bei ihr bin, wird sie wieder so glücklich sein wie zuvor. Ich hatte in meinem Leben nur einmal erlebt, dass Savanna wirklich geweint hat. Und das war bei meinem Auszug, nachdem Jenniver und ich die Highschool abgeschlossen hatten und zusammen in unsere kleine Wohnung zogen. Das war vor 5 Jahren. Ich hole meine Uniform aus der Reinigung ab

und schlendere anschließend in den Supermarkt, um Lebensmittel einzukaufen. Während ich an der Kasse stehe, blicke ich durch die Fensterfront des Ladens und sehe Savanna auf einer Bank sitzen. Es überrascht mich nicht. So ist Savanna einfach. Sie lief mir immer überall hin nach. Wir mussten sie in ihrem Zimmer einsperren, wenn ich zur Schule ging, damit sie mir nicht nachlief. Sie war schon immer ein schwieriges Mädchen gewesen. Auch wenn ich mit meinen Freunden spielen wollte, war sie immer dabei. Hat immer in meiner Nähe gesessen und mir zugesehen. Meine Freunde störten sich nicht an ihr. Sie wollte schließlich auch nie mitspielen oder meine Aufmerksamkeit haben, sie war glücklich, wenn sie nur bei mir sein durfte. Ich verlasse den Laden und sehe Savanna tadelnd an, doch sie lächelt nur. „Komm, wir gehen heim“ mehr sage ich nicht zu ihr. Ich bin ihr

nicht böse. Ich konnte ihr nie böse sein. Sie ist meine kleine Schwester, und ich liebe sie und ihr strahlendes Lächeln. Als ich in der Highschool Jenniver kennen lernte, wurde es kompliziert. Savanna verstand nicht, warum ich lieber Zeit mit Jenniver als mit ihr verbringen wollte, und Jenniver verstand nicht, warum ich mich nicht außerhalb der Schule mit ihr treffen wollte. Als ich Jenniver dann mit zu mir nach Hause brachte und sie Savanna kennen lernte, verstand sie es. Und sie akzeptierte es. Seither war Savanna immer dabei gewesen, wenn wir uns nach der Schule trafen. Natürlich gab es kaum Gelegenheit für intime Zweisamkeit zwischen Jen und mir. Miteinander schlafen konnten wir nur in meinem Elternhaus, und das auch nur, während Savanna tief und fest schlief. Wieder in meiner Wohnung angekommen, verstaue ich meine Einkäufe im Kühlschrank. Ich blicke auf mein Telefon. Kurz vor halb vier. Zeit

sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Dann erinnere ich mich an Jennivers Nachricht. Ich weiß nicht genau warum es mich nicht beim ersten Lesen stutzig gemacht hat. Warum hat sich Jenniver für Morgen frei genommen? Ich schaue auf das Datum im Display meines Handys. Dann wird es mir klar. Ich schaue zu Savanna. Sie steht noch immer an der Wohnungstür und strahlt mich an. Sechs Wochen... es wird langsam Zeit... Doch zuerst muss ich zur Arbeit. Ich greife nach meinem Regenschirm und werfe mir meine Uniform, die noch immer in der Staubschutzhülle verpackt ist, über meine Schulter. „Lass uns gehen“ sage ich zu Savanna und wir verlassen gemeinsam die Wohnung. Eine Viertelstunde später erreichen wir meinen Arbeitsplatz. Das 'Paradise Eve', ein Nachtclub mit Jazzmusik. Wir betreten den Club durch den Hintereingang. Ich ziehe mich um, während Savanna ruhig auf mich wartet. Dann nehme ich meinen Platz hinter dem Tresen der Bar ein.

Savanna setzt sich auf den Boden, ganz hinten in der Ecke hinter dem Tresen. Dort schließt sie die Augen und schläft nach wenigen Minuten zum Klang der Musik ein. Ich betrachte sie einen Moment mit einem warmen Lächeln. Sie sieht immer so friedlich und glücklich aus, während sie schläft. Ich bin mir sicher, dass sie von mir träumt. Sie träumt immer von mir. Ich bin ihre Welt. Ihr ein und alles. Ich wende mich meiner Arbeit zu, mixe Drinks, unterhalte mich mit den Gästen an der Bar und genieße die ruhige Musik. Vor knapp einem Jahr habe ich angefangen hier zu arbeiten. Als Barkeeper. Das ist schon immer mein Traum gewesen. Die Arbeit macht mir Spaß. Die Musik, die Atmosphäre des Clubs, die zwang- und belanglosen Gespräche mit den Gästen. Hier blühe ich auf. Hier fange ich wieder an zu Leben. Eine Frau in einem roten Abendkleid setzt sich an die Bar. Sie stellt ihre Handtasche vor sich

und holt eine eine Schachtel Zigaretten hervor. Mit einer Zigarette im Mund wühlt sie wieder in ihrer Tasche umher. Ich nähere mich ihr und strecke meine Hand aus. Die Flamme meines Feuerzeugs tanzt leicht vor ihrem Gesicht hin und her, als würde sie sich im Takt der Musik wiegen. Die Frau neigt sich leicht in Richtung der Flamme und entzündet ihre Zigarette. „Danke“ sagt sie und mustert mich kurz. Dann lächelt sie. Es ist offen und einladend. Sie flirtet mit ihren Augen. Ich erwidere ihr Lächeln, nehme ihre Einladung an, blicke ihr tief in die Augen. Wir unterhalten uns. Schon bald merke ich, dass sie an mir interessiert ist. Ich genieße eine Weile ihr Interesse, während ich ihr einen Drink nach dem anderen mixe. Irgendwann verabschiedet sie sich mit einem Lächeln von mir. Neben einem großzügigen Trinkgeld lässt sie mir ihre Nummer zurück. Das Trinkgeld wandert in das Glas hinterm Tresen, die Nummer nach kurzem Zögern

in den Abfall. Ich mochte die Frau. Mochte ihre Augen. Aber ich würde sie niemals lieben können. In meinem Herzen ist kein Platz mehr. Dort ist nur Platz für Jenniver. Und Savanna. Kurz nach Mitternacht erwacht Savanna aus ihrem Schlummer. Pünktlich zum Ende meiner Schicht. Es ist ein guter Abend gewesen. Drei weitere Ladies haben mir ihre Nummer gegeben. Und das Glas hinterm Tresen ist gut gefüllt. Ich fühle mich nicht schlecht, weil ich mit den Frauen flirte. Es gehört zu meinem Job. Ich verkaufe ihnen eine Illusion, einen Traum. Und die Frauen wissen das. Viele von ihnen kommen jeden Abend, wenn ich hinterm Tresen stehe. Manchmal verbringe ich auch nach der Arbeit Zeit mit ihnen. Doch heute nicht. Nicht solange Savanna bei mir ist. Ich ziehe mich um, hänge meine Uniform in meinen Spind und kehre in mein anderes Leben zurück. Es hat angefangen zu regnen. Savanna läuft

neben mir her, unter dem Regenschirm, der sich über unseren Köpfen ausbreitet. Sie lächelt. Sie lächelt immer, wenn ich glücklich bin. Und ich bin immer glücklich, wenn Savanna bei mir ist. Doch heute Nacht ist es anders... Im Gegensatz zu mir war Savanna kein geplantes Kind. Trotzdem freuten wir uns alle auf ihre Geburt. Doch die Vorfreude wich schon bald, als eine verhängnisvolle Diagnose unser Leben überschattete. Bei unserer Mutter wurde Brustkrebs festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät, um die Schwangerschaft abzubrechen. Trotzdem waren wir guter Hoffnungen, dass alles gut gehen würde. Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit Savanna. Bei ihrer Geburt kam es zu Komplikationen. Diese führten dazu, dass ihr Gehirn zeitweilig nicht mit ausreichend Sauerstoff versorgt wurde. Die Folge: Savanna würde an einer schweren geistigen Behinderung

leiden. Die ersten Jahre waren schwer für unsere Familie. Unsere Mutter musste sich einer Chemotherapie unterziehen, während unser Vater einen zweiten Job annahm, um für die medizinische Behandlung von unserer Mutter und Savanna aufkommen zu können. Somit blieb nur noch ich übrig, um mich um Savanna kümmern zu können. Dadurch entwickelte meine Schwester eine sehr starke Bindung zu mir. Auch nachdem unsere Mutter den Krebs besiegt hatte, hing Savanna weiterhin nur an mir. Auch wenn es mich sehr belastete, fügte ich mich in meine aufgezwungene Rolle. Denn ich liebte meine Schwester und wollte, dass sie glücklich war. Wieder in meiner Wohnung angekommen überlege ich, ob ich mich wieder schlafen legen soll, aber ich verwerfe den Gedanken. Ich zweifle daran, dass ich heute Nacht Ruhe finden kann. Also setze ich mich auf mein Sofa und schaue fern. Savanna setzt sich neben mich und

lächelt mich strahlend an. Savanna kam mit ihrer geistigen Entwicklung nie über die einer sechsjährigen hinaus. Dadurch konnte sie viele Dinge, die um sie herum geschahen, einfach nicht verstehen. Und das unsere Eltern kaum Einfluss auf sie nehmen konnten, machte es nicht einfacher. Der einzige Mensch, den Savanna außer mir zu akzeptieren schien, war Jenniver. Ich weiß noch heute nicht genau warum es so war. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass Savanna spürte, dass mich Jenniver glücklich machte. Ich fahre hoch, als mein Telefon in meiner Tasche vibriert. Ich hole es heraus und werfe einen Blick auf die Uhr. Kurz nach fünf. Ich musste vorm Fernseher eingenickt sein. Neben mir sitzt Savanna. Auch ihr sind die Augen zugefallen und sie schläft wie ein friedlicher Engel. Ich schaue wieder auf mein Handy. Wieder eine Nachricht von

Jenniver. Ich warte dort auf dich. Um 8 Uhr. Bitte komm. Für dich. Und Savanna. Jen. Ich lasse das Handy sinken und seufze. Ich weiß, dass Jen recht hat. Aber ich weiß auch, dass es nicht einfach werden würde. Trotzdem ist es so das Beste für uns. Für mich und Savanna. Savanna muss zurück zu Mom und Dad. Um halb sieben erhebe ich mich und koche mir einen frischen Kaffee. Savanna wird auch langsam wieder munter. „Wir machen gleich einen kleinen Ausflug, Savanna“ sage ich zu ihr, und auf ihrer Miene breitet sich ein strahlendes Lachen aus. „Wir gehen Mom und Dad besuchen.“ Ihre Miene wird für einen Moment unsicher, doch dann kehrte ihr Lächeln

zurück. Ich trinke meinen Kaffee und schalte anschließend den Fernseher aus. Ich streife mir meine Jacke über und greife nach dem Regenschirm. Dann mache ich mich mit Savanna auf den Weg zum Bahnhof. Nach meinem Auszug aus meinem Elternhaus, besuchte ich einmal in der Woche Savanna. Ihr schien es gut zu gehen und es sah ganz danach aus, als würde sie die Trennung von mir gut verkraften. Doch mit der Zeit, als meine Besuche seltener wurden, zeigte sich, dass sie es nicht so gut bewältigte. Sie wurde immer in sich gekehrter. Sie verließ ihr Zimmer praktisch nur noch, wenn sie mit unseren Eltern zusammen aß. Nur wenn ich zu Besuch kam lebte sie wieder auf. Es fiel mir schwer Savanna so zu erleben. Aber es musste sein. Ich konnte mein Leben nicht immer nur nach Savanna ausrichten. Sie würde lernen müssen, das zu akzeptieren. Doch nach einem Jahr hatte sich ihr Zustand

deutlich verschlimmert. Sie sprach nur noch, wenn ich bei ihr war, und unsere Eltern mussten sie beinahe zwangsernähren. Ich sprach mit Jenniver darüber. Und wir trafen eine Entscheidung. Wir beschlossen Savanna ab ihrem 15. Geburtstag bei uns leben zu lassen, sobald ich meine Ausbildung zum Barkeeper abgeschlossen hatte. Es ist Viertel nach acht, als wir vor dem großen gusseisernen Tor angelangen. Ich schiebe es auf und sehe zu Savanna, die stehen geblieben ist. „Komm“ sage ich zu ihr, doch sie schüttelt den Kopf. Ihre Augen schimmern wieder feucht. Ich habe nicht erwartet dass es so einfach werden wird. Savanna scheint zu spüren warum wir hier sind. „Bitte, Savanna. Mach es uns nicht schwerer, als es ohnehin schon ist.“ Savanna zögert noch immer. Ich schüttele den Kopf und trete durch das Tor auf den Kiesweg. Nach wenigen Augenblicken spüre ich, dass sie

mir folgt. Jenniver und ich bereiteten alles vor. Wir besprachen alles mit meinen Eltern, die schweren Herzens einsehen mussten, dass es das beste für Savanna war. Sie sagten uns ihre Unterstützung zu. Jenniver fand schon bald eine größere Wohnung, in der wir zu dritt leben konnten. Auch die Behörden legten uns keine Steine in den Weg. Alles sah danach aus, als würde es sich zum Guten wenden. Bis das Schicksal wieder zuschlug. In der einen Nacht, sechs Wochen vor Savannas Geburtstag. Als ich mich meinem Ziel nähere, hebe ich den Blick und sehe jemanden vor mir stehen. Einen Moment zögere ich, doch dann erkenne ich Jenniver. Sie hält einen Strauß Blumen und der Hand. Gelbe Tulpen. Savannas Lieblingsblumen. Ich trete neben Jen. Sie reicht mir die Blumen und ich atme tief durch. Die Ursache für das Feuer war ein Kurzschluss gewesen, in einem der älteren Häuser in der

Nachbarschaft. Das Feuer breitete sich schnell über das halbe Viertel aus. Die meisten Bewohner überraschte das Feuer im Schlaf. Auch unser Elternhaus fiel den Flammen zum Opfer. Zeugen berichteten, dass unsere Eltern den Brand rechtzeitig bemerkten um es herausschaffen zu können. Doch sie kamen in dem Feuer um bei dem Versuch Savanna aus ihrem Zimmer zu holen. Ich knie mich vor das Grab und lege die Blumen vor den Grabstein. „Es tut mir leid, Savanna“ flüstere ich mit zitternder Stimme. Savanna tritt hinter den Grabstein, der ihren Namen trägt. Sie sagt nichts. Sie lächelt nur. Ich fühle, wie sich alles in meinem Inneren zusammenzieht. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Mein Kopf ist ein einziges Durcheinander. Ich will etwas sagen, muss etwas sagen, doch ich finde nicht die richtigen Worte. Dann spüre ich Jennivers Hand auf meiner

Schulter. Ich fühle ihre Wärme. Nach dem schrecklichen Tod meiner Familie erlitt ich einen kompletten emotionalen Zusammenbruch. Ich wurde unfähig meinen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Konnte weder lachen noch weinen. Und mein Herz verschloss sich vor der Außenwelt. Jen hatte versucht mir durch meine schwere Zeit der Trauer hindurch beizustehen, doch ich stieß sie von mir. Savannas Verlust trieb mich fast in den Wahnsinn. Oder vielleicht sogar darüber hinaus. Denn knapp einen Monat nach ihrem Tod stand Savanna plötzlich vor mir, mit ihrem immerwährenden Lächeln. Es brach Jenniver das Herz, als sie bemerkte, dass ich mit Savanna sprach. Aber sie hielt trotzdem weiter zu mir. Doch irgendwann begriff sie, dass ich meine Trauer nie überwinden konnte, solange sie bei mir blieb. Deshalb trennte sie sich von mir, machte Platz für Savanna. Ich lebte einige Zeit mit Savanna allein in meiner

Wohnung, verkroch mich regelrecht in ihr. Doch etwa ein Jahr nach meinem Zusammenbruch begriff ich, dass es der falsche Weg war, um meine Trauer zu bewältigen. Das verdankte ich meinen Freunden, und allen voran Jen, die mich unterstützten und mir halfen, so gut es ihnen möglich war. Sie redeten geduldig auf mich ein, bis ich erkannte, dass ich Hilfe brauchte. Also begann ich mit meiner Therapie. Die Medikamente zeigten schnell Wirkung. Savanna verschwand aus meinem Leben, zumindest das Bild von ihr, das ich in mein reales Leben projizierte. Langsam kam ich wieder auf die Beine. Nach einem Jahr Therapie konnte ich wieder einer geregelten Arbeit nachgehen und auch mein soziales Leben stabilisierte sich. Nur die emotionale Sperre blieb. Mein Arzt war der Überzeugung, dass ich sie nur überwinden könne, indem ich mich von meinen Schuldgefühlen Savanna gegenüber befreie und sie endgültig gehen lasse. Deshalb setzte er die

Medikamente ab und Savanna kehrte zurück. Ich gab mir selbst sechs Wochen, die Zeit, die mich von Savannas Rettung getrennt hatte, um mich darauf vorzubereiten, mich von Savanna zu lösen. Mein Körper entspannt sich und meine Gedanken werden wieder klar. Ich brauche nicht mehr nach den richtigen Worten zu suchen. Sie waren schon immer in meinem Kopf gewesen. Und in meinem Herzen. „Verzeih mir, Savanna, dass ich dich alleine gelassen habe. Dass ich nicht für dich da gewesen bin. Verzeih mir, dass ich dich nicht am ersten Tag mit mir genommen habe. Verzeih mir, dass ich dich habe sterben lassen.“ Ich blicke zu Savanna auf, die mich einen Moment stumm anschaut und dann langsam den Kopf schüttelt. „Es war nicht deine Schuld, großer Bruder.“ Sie lächelte, und in ihren Augen kann ich erkennen, dass sie glücklich ist. Eine einzelne Träne rollt über ihr

Wange. In dem Moment, in dem ich ihre Träne sehe, spüre ich, wie mein Körper erbebt. Mir wird gleichzeitig warm und kalt und meine Sicht verschwimmt. Jenniver legt mir einen Arm um die Schultern und drückt mich an sich, während meine Tränen zu fließen beginnen und mein Körper von meinen Emotionen übermannt wird. Drei Jahre, in denen sich meine Trauer in meinem Inneren angestaut hatte, brechen an diesem Morgen heraus, während Jen mich in ihren Armen hält und mit sanften Worten auf mich einspricht. Es dauert sehr lange bis meine Tränen langsam versiegen. Ich hebe meinen Blick und sehe Savanna tief in die Augen. „Ich liebe dich, kleine Schwester. Und ich werde dich immer lieben. Aber ich muss jetzt gehen. Ich muss mein Leben ohne dich leben.“ Savanna lächelt. Ich erhebe mich und nicke Savanna zu. „Leb

wohl, Savanna.“ Savanna nickt mir ebenfalls zu, dann hebt sie ihre rechte Hand und winkt. Ein letztes Mal schenkt sie mir ihr Sonnenscheinlächeln. Dann verblasst sie, für immer. Jen greift nach meiner Hand und drückt sie. „Ist Savanna fort?“ Ich nicke, während ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel wische. Jen lehnt ihren Kopf an meine Schulter und lächelt. „Wie geht’s jetzt weiter?“ „Ich weiß es noch nicht“ antworte ich und blicke auf Savannas Grab. „Erst einmal werde ich nach Hause gehen und schlafen.“ „Das klingt nach einem guten Plan“ sagt Jenniver. „Soll ich dich begleiten?“ Ich schüttele den Kopf. „Nein. Ich muss für eine Weile alleine sein.“ „Dann werde ich warten“ sagt Jen und löst sich von mir. Unsere Schritte entfernen sich langsam von den

drei Gräbern, in denen meine Familie ruht. Der Regen prasselt auf die Folie, in welche die Blumen gehüllt sind und tropft an ihr herab. Es bildet sich eine kleine Wasserlache, in deren Mitte ein Paar Ohrstecker ruhen auf denen zwei lächelnde Pinguine zu erkennen sind. Ende

0

Hörbuch

Über den Autor

Thaunatas

Leser-Statistik
1

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Zeige mehr Kommentare
10
0
0
Senden

144687
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung