Kapitel 10 Lauschen
Das Gewirr aus Zelten , das sich unter der fliegenden Stadt erstreckte, war mindestens genau so unübersichtlich, wie die endlosen Gänge und Korridore des kaiserlichen Palastes. Wenn nicht schlimmer, dachte Galren, als er fast über einige gespannte Seile stolperte. So weit er sehen konnte erstreckte sich eine Einöde aus großen, braunen und grauen Zelten, erloschenen Feuerstellen und Menschen… so unfassbar viele Menschen, die sich zusammendrängten. Mehr als einmal bekam er einen
Ellenbogen in die Seite oder sogar auf die nach wie vor empfindliche Haut auf seinem Rücken. In diesem durcheinander eine einzelne Person zu finden war fast unmöglich. Zumindest, solange man nicht genau wusste, wo man suchen musste.
Tagsüber war das Lager von Lärm und Leuten erfüllt. Noch immer trafen jeden Tag neue Reisende ein, manche auf der Flucht, andere mit finstereren Interessen. Bereits jetzt gab es hunderte von Fuhrleuten, die Anboten, die Leute noch weiter ins Landesinnere zu bringen… zu gesalzenen Preisen. Genau so gab es jene, die aus dem Verlust anderer Kapital schlagen wollten. Die
meisten Flüchtigen hatten ohnehin nur retten können, was sie mit sich tragen konnten. In den meisten Füllen Lebensmittel und Kleidung doch einige wenige hatten auch Familienschätze, Geld und sogar vereinzelt Möbel bei Seite geschafft. Und damit schlug die Stunde der Aaskrähen, dachte Galren. Hier im Lager konnte man auch mit allem Gold keinen Komfort kaufen und selbst harte Münze war kaum etwas Wert. Und so kam es oft genug vor, dass die Leute Ring, Ketten, Uhren und Waffen gegen trockenes Bort und einen Kessel Suppe eintauschten. Sowohl die Garde, als auch die im Lager patrouillierenden Paladine versuchten zwar solche
Geschäfte zu unterbinden… aber gegen das nötige Bestechungsgeld sahen auch die Gardisten einmal weg und was die Paladine anging, so gab es schlicht zu wenige von ihnen, als das sie überall sein konnten.
Galren sah oft genug, wie sich einzelne Gestalten rasch wegduckten, sobald sie einen roten Mantel in der Menge erspähten, nur um im nächsten Augenblick wieder die Köpfe zusammen zu stecken. Nur die, die er suchte, hatte er bisher nicht entdecken können. Was auch daran liegen mochte, das seine Augen ohnehin vor Müdigkeit tränten. Seine körperlichen Wunden heilten, langsam aber sicher und immerhin
konnte er sich mittlerweile wieder ohne Schmerzen bewegen. Zumindest solange er es langsam angehen ließ. Er würde sich ganz sicher für die nächsten Monate keinen Handstand zutrauen, dachte er.
Und wo zumindest auf seiner Haut nur Narben bleiben, gruben sich die Träumer mit jedem Tag tiefer. Er konnte sie jetzt schon sehen, wenn er die Augen auch nur einen Moment schloss. Düstere Visionen, die sich ihm nicht erschlossen und doch immer nur dieselbe Botschaft vermittelten. Er wurde gerufen, seltsamerweise fast so, wie man einen alten Freund rufen mochte, nicht gezwungen sondern lockend, freundlich… Wüsste er nicht, das diese
Stimme dem Mann gehörte, dem er seine Verletzungen zu verdanken hatte, dem Mann, der fast Elin und danach alle anderen getötet hatte… es wäre so einfach der Aufforderung auch zu folgen. Und tief in seinem inneren fürchtete er, diese Stimme auch einmal schon viel früher gehört zu haben. Damals… als er es gewesen war, der beinahe alles vernichtet hätte. Es musste aufhören oder er würde den Verstand verlieren…
Galren sah sich weiter um , doch die Zelte sahen schlicht in jede Richtung gleich aus. Die einzige Orientierung, die er hatte, war der Schatten der fliegenden Stadt über ihm. Wie ein
großes,
steinernes Spinnennetz zogen sich Silberne Brücken und schwebende Inseln über ihm dahin. Dort wo der kaiserliche Palast über dem Lager schwebte, blockte er sogar die Sonne aus und tauchte die Zelte darunter in Zwielicht. Immerhin ging er vermutlich in die richtige Richtung, dachte Galren. Naria zu finden würde auch so schon nicht einfach werden. Im Lager gab es dutzende von Verletzten und noch viel mehr Kranke, deren Zahl, jetzt wo die kälteste Jahreszeit näher rückte, nur noch mehr zunehmen würde . Die Heilerin wurde hier unten schlicht mehr gebraucht und hatte sich auch als eine der ersten bereit
erklärt zu helfen, sobald sie erfuhr, dass sie gebraucht wurde. Und dabei war es geblieben. Galren hatte sie seit dem kaum noch gesehen, höchstens Flüchtig, wenn sie doch einmal den Weg hinauf in die Stadt fand, meist nur um neue Vorräte mit hinab zu nehmen. Getrocknete Kräuter ,Tinkturen, Pulver Pflanzen… Der Kaiser hatte bereits angeordnet, das die Gejarn alles bekommen sollte, was sie brauchte und auch wenn Galren von der Heilkunst reichlich wenig verstand… von den schieren Mengen her, musste die Lage düster sein. Und der Winter würde nicht nur mehr Krankheiten mit sich bringen… Die Zelten würden kaum Schutz vor der
Witterung bieten. Und bis die ersten Leute anfingen zu erfrieren wäre es dann nur eine Frage der Zeit. Auch wenn die fliegende Stadt sich unendlich langsam nach Süden schob, dem Schnee würden sie nicht entkommen.
Er passierte erneut eine kleine Gruppe Paladine, die einen Händler in die Mitte genommen hatten. Der Mann hob abwehrend die Hände, als wollte er seine Unschuld beteuern. Die Goldringe, die daran schimmerten sprachen jedoch scheinbar eine andere Sprache, genauso wie die schweren Ketten um seinen Hals. Ohne auch nur auf seine Proteste einzugehen, schoben die Männer ihn schlicht vor sich her und hin zum Rand
des Lagers. Vermutlich würde man ihn fortschicken, nur damit er ein paar Tage später auf der anderen Seite der Zelte auftauchte und weiter Geschäfte machte. Sie hatten schlicht nicht genug Männer, dachte Galren. Selbst mit den Paladinen…
Vor kaum einer Woche hatten sich die verbliebenen Krieger aus Helike schließlich ganz dem Kaiser verschrieben. Zumindest, bis ihre Heimat befreit war. Und in Anbetracht dessen wie die Dinge standen, hieß das wohl, das sie ab jetzt alle im selben Boot saßen.
Galren war dabei gewesen, als die Männer ihren Eid geleistet hatten. Und
dabei hatte er auch zum ersten Mal den Archonten gesehen. Angeblich waren alle fünf Archonten, die Helike regierten beim Fall der Stadt umgekommen oder wenig später auf der Flucht vor den Kultisten in Richtung Canton gestorben. Alle… bis auf einen. Wys Carmine hatte ebenfalls für viele als Tod gegolten, bis er an jenem Tag zusammen mit fast zweihundert Paladinen in den Palast gekommen war. Männer, die vor dem Kaiser auf die Knie sanken, doch als der Archont sich ebenfalls verbeugen wollte, war Kellvian auf ihn zu getreten und den Mann an den Schultern gefasst. Galren hatte das ganze nur aus der Ferne beobachten können, doch der Kaiser
schien sich einen Moment leise mit Wys zu unterhalten, bevor sie sich wieder trennten und der Archont ebenfalls auf die Knie sank. Seltsamerweise schien Kellvian darüber kaum erfreut aus. Ganz Im Gegenteil, wenn Galren den Blick des Kaisers hätte deuten müssen, er hätte Mitleid und Trauer erkannt.
Und Wys selbst ? Der Mann, der in der weißen, schlichten Robe eines Archonten vor den Kaiser getreten war, hatte ausgezehrt gewirkt, kränklich. Wie jemand , der zu lange Zeit in der Dunkelheit verbracht hatte… Und doch waren seine Schritte fest und jede Bewegung sicher, nicht wie die von jemand, der erst kurz zuvor einen
Bruder… und noch so viel mehr verloren hatte. Wys Carmine war Narias Onkel gewesen und zusammen mit ihrem Vater Zyle auf Maras verschollen. Doch nur einer der beiden Brüder war auch wieder aufgetaucht…
Sie hatten wahrlich alle Verluste hinnehmen müssen, dachte er. Visionen und Träume warne nicht das einzige, was die Leute wach hielt… für manche waren ihre Alpträume leider längst zur Realität geworden. Sie hatten ihre Heimat verloren, ihre Freunde und Verwandten… und nun war es nur eine Frage der Zeit, bis der Herr der Ordnung kam um sich den Rest zu holen. Endlich konnte Galren vor sich das äußere Ende des
Lagers ausmachen, wo die endlosen Zeltreihen in, von tausenden von Füßen platt getrampelte, Wiesen übergingen. Eine einzelne, breite Straße zog sich mitten durch die Landschaft hindurch , einer der Händlerwege, die das Kaiserreich durchzogen. Und zumindest in Friedenszeiten auch Verbanden, dachte Galren. Etwas weiter dahinter begannen die Wälder der Herzlande, welche die Heimat für die meisten Gejarn außerhalb von Laos und Maras bildeten. Immerhin war es für die Clans einfacher, sich vor den Kultisten in Sicherheit zu bringen. Die meisten von ihnen lebten nomadisch in wandernden Dörfern, die sich innerhalb weniger Tage auf und abbauen
ließen. Und gleichzeitig hatten sie auch Geschichten von ganzen Clans gehört, die restlos ausgelöscht worden, weil sie versuchten, ihre Heiligen Plätze zu schützen. Unter der Herrschaft des Kaisers waren unähnliche Religionen und Kulte gediehen, die, solange sie sich kaiserlichem Recht als oberste Instanz unterordneten, auch allgemein Gedudelt wurden. Doch die Kultisten des Herrn der Ordnung kannten nur einen Gott. Geisterbäume wurden verbrannt, Tempel und heilige Quellen, Kirchen und Opfersteine geschleift. Und die Götter starben leise ohne auf die Schreie ihrer Anhänger zu antworten…
Rasch schüttelte er diese
Beunruhigenden Gedanken ab und setzte seinen Weg fort. Narias Zelt gehörte bei weitem zu den größten im Lager, was alleine schon dem Umstand geschuldet war, das man alle Kranken und schwerer Verletzten hierher verlegt hatte. Galren war erst einmal zuvor hier gewesen und umso erleichterter, das er den Weg wieder gefunden hatte. Das innere war durch Vorhänge und Decken in zwei Teile geteilt worden, einen kleineren, die Naria als Quartier dienten und über einen separaten Eingang verfügten und dem größeren, in dem sich Strohlager an Lager reihte. Galren ließ den ersten Eingang hinter sich und hielt auf den zweiten Durchgang zu, wo die Zeltplane
von zwei Stangen abgestützt wurde. Schon von weitem schlug ihm der Duft von getrockneten Kräutern und Pflanzen entgegen, der zusammen mit dem Dunst von Blut und Schweiß und Krankheit vom Krankenzelt herüber wehte. Galren spürte, wie sein Magen bei dem Durcheinander aus Gerüchen rebellierte. Zum Glück trugen seine Träume auch nicht grade dazu bei seinen Appetit zu steigern, dachte er. Hätte er heute Morgen mehr als eine trockene Scheibe Brot heruntergebracht, er wäre sich nicht sicher, ob er es auch bei sich behalten hätte. Und Naria hatte vermutlich eine deutlich empfindlichere Nase als er. Wie sie es, Kräuter hin oder her,
überhaupt längere Zeit hier aushielt, war ihm ein Rätsel. Und es trug nur dazu bei, den gesunden Respekt, den er vor ihr hatte noch etwas zu steigern. Es brauchte mehr als bloß gute Absichten um freiwillig hier zu verweilen. Allerdings war die Gejarn für ihn ohnehin schon immer etwas undurchsichtig gewesen. Wenn Naria etwas von sich preisgab, dann nur was sie wollte und das war… wenig.
Noch ehe er den Zelteingang erreichte, hörte er bereits Stimmen, die aus dem inneren herausdrangen. Galren wurde langsamer und blieb schließlich im Eingang stehen. Naria schien sich mit irgendjemanden zu unterhalten,
allerdings so gedämpft, das er zuerst kein Wort verstand.
Ein Teil von ihm wollte auf sich aufmerksam machen um nicht beim Lauschen erwischt zu werden. Der andere jedoch ließ ihn bloß stehen bleiben wo er war. Das innere des Zelts lag im Kontrast zu der Helligkeit draußen in trüben Schatten, so dass er kaum etwas erkennen konnte. Lediglich die zwei Schemen, die sich leise Unterhielten. Einen Moment hätte er nicht zu sagen gewusst, welcher von ihnen NAria war und welcher nicht, bis ihm die grauen Strähnen im Haar der einen Gejarn auffielen. Das musste Relina sein… Narias Mutter. Jetzt bekam
er tatsächlich ein schlechtes Gewissen, bevor er jedoch dazu kam, auf sich aufmerksam zu machen, hob Naria plötzlich die Stimme. Es war immer noch nur ein leises Zischen, aber der Ärger un die Sorge darin waren deutlich zu hören.
,, Kellvian hat ihn sofort durchschaut. Was glaubst du, wie lange er dieses Spiel treiben kann? Wie lange wird es dauern, bis ihn jemand erkennt, der nicht schweigt?“
Die ältere Gejarn sah betroffen zu ihrer Tochter auf, bevor sie den Blick abwendete. Und Galren sich räusperte.
,, Verzeiht, ich wollte nicht lauschen.“ , erklärte er. Sowohl Relina als auch
Naria drehten sich zeitgleich zu ihm um.
,,Galren ?“ Naria blinzelte einen Moment .Gegen die Helligkeit des Eingangs konnte sie vermutlich kaum mehr als seine Silhouette ausmachen. ,, Wie lange steht ihr schon da ?“ Wenn die Gejarn je unsicher geklungen hatte, dann wohl in diesem Moment. Auch wenn er grade mal einen Satz aufgeschnappt hatte… um was immer es hier ging, sollte ihm wohl nicht zu Ohren kommen. Oder sonst jemanden.
,, Ich sollte besser gehen.“ Relina raffte ihren Federmantel um sich und trat an ihm vorbei. Nicht jedoch, ohne sich noch ein letztes Mal zu ihrer Tochter umzudrehen. ,, Ich weiß, das du seine
Entscheidung nicht verstehst , Naria. Ich auch nicht… und ich kann es auch nicht gut heißen. Aber wir tuen alle nur, was wir für richtig halten…“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und war auch schon an Galren vorbei und in den Gassen des Lagers verschwunden.