Charlotte
Charlotte stand vor dem Spiegel und kämmte ihre pechschwarzen Haare, die ihr weit über die Schultern gingen. Heute war es so weit, das wusste sie. Sie spürte es direkt. Die junge Frau setzte sich in den bequemen Lederstuhl ihres Zimmers und dachte über die letzten Jahre ihres Lebens nach. Seit dem mysteriösen Autounfall vor mehr als zehn Jahren, bei den ihre Eltern ums Leben gekommen waren, machte sich in ihr eine Veränderung bemerkbar. Damals, als sie mit ihren Eltern von einer Familienfeier nach Hause fuhr, überschlug sich der Wagen scheinbar ohne Grund. Sie saß im Fond des Autos und vertrieb sich mit Lesen die Zeit, als
plötzlich auf einer schnurgeraden Landstraße der Unfall geschah. Sie hat die Geräusche des splitternden Glases und des sich verbiegenden Bleches noch immer in den Ohren. Erst nach dem wieder Stille eingetreten war, konnte sie durch eine gebrochene Seitenscheibe den Wagen unverletzt und ohne einer Schramme verlassen. Doch für ihre Eltern kam jede Hilfe zu spät. Sie waren auf der Stelle tot. Regungslos und ohne Emotionen stand sie im Schock vor dem Wrack. Sie blickte verstört auf ihre toten Eltern. Erst die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer nahmen sich ihrer an und verständigten Rettung und Polizei. Die Ursache des Unfalles konnte nie geklärt werden. Seit dem Zeitpunkt wuchs Charlotte bei ihren Großeltern auf. Sie waren von
Anfang an gegen die Beziehung ihres Sohnes mit der sonderbaren Frau. Paul, also Charlottes Vater, ließ sich beim besten Willen nicht davon abhalten, Dragana zu heiraten. Dragana übte auf Pauls Eltern immer eine unheimliche Stimmung aus. Manchmal hatten sie den Eindruck, dass Pauls Frau nicht von dieser Welt war.
Seit diesem Zeitpunkt schien es für die Großeltern, als ob sich die Eigenschaften Draganas auf das Mädchen übertrugen. Während all den Jahren wurde Charlotte ihrer Mutter immer ähnlicher. Mit großer Sorge beobachteten Pauls Eltern das Heranwachsen des Mädchens.
In ihrer Schulzeit fristete Charlotte ein Außenseiterdasein. Obwohl sie eine gute Schülerin war, mieden sie ihre Schulkollegen.
Durch ihr außergewöhnliches Auftreten ...sie trug oft violette Kleidung, und ihrer besonderen Gabe ...bei konzentriertem Schauen färbten sich ihre Pupillen violett, reagierten ihre Klassenkammeraden mit Abscheu. Auch ihren Lehren fiel es immer schwerer, mit dem Mädchen in Kontakt zu treten. Das wiederum hatte zu Folge, dass sie sehr wenig bis gar nicht aufgerufen wurde. Prüfungen wurden auf das Allernotwendigste beschränkt.
In der Pubertät veränderte sich auch ihr Körper. Nicht nur, dass er mehr und mehr weibliche Formen annahm, sondern auch ihre Haut einen leichten purpuren Schimmer erhielt. Nun, ging auch ihre Großmutter, die sie sonst sehr liebevoll umsorgt hatte mehr auf Distanz. Zum Einem wollte das Mädchen
gerne alleine sein, zum anderen schauderte sich die Großmutter vor ihrer Enkelin. Mit ihrem Großvater hatte sie schon seit längerem keinen Kontakt mehr. So verlor Charlotte die letzten sozialen Beziehungen.
Mit ihren Veränderungen bemerkte sie auch, wie sie andere Fähigkeiten bekam. So zum Beispiel beherrschte sie nach einiger Zeit die Gabe, dass sie Dinge in ihrer Umgebung, mit viel Konzentration violett färben konnte. Sie brauchte dazu nur die gewählten Gegenstände intensiv zu betrachten, und schon nahmen sie violette Farbtöne an. Das machte sie sich zu Nutze um, ihrer Kleidung, das für sie passenden Aussehen zu geben. Noch ahnte Charlotte nicht, welches Ausmaß ihre Veränderungen annahmen, doch sie spürte, dass sie sich weiter entwickelte. Ihr
Aussehen, besonders ihre Gesichtszüge gestalteten sich dämonischer. Ihre Augen weiteten sich, ihr Kinn formte sich spitz zulaufend und ihre lila Hautfarbe intensivierte sich. Jetzt war es an der Zeit ihr teuflisches Treiben in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Charlotte erhob sich aus ihren Stuhl, um sich für ihr Vorhaben vorzubereiten. In ihren figurbetonenden Sportanzug stand sie vor dem Spiegel und betrachtete ihre Eleganz. Mit Grazie umhüllte sie ihren Körper mit dem purpurfarbenen Kaputzenumhang, welchen sie unter dem Hals mit einer violetten Spange verschloss. Ein letzter Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie sich nun für ihren öffentlichen Auftritt, perfekt gestylt hatte. Passend zu ihrem Umhang wählte das Mädchen lila Sneakers. Sie verließ das Haus
und ihre Schritte lenkte sie zum kunsthistorischen Museum. Der Wind spielte mit ihren langen Haaren, die verdeckten teilweise ihr Gesicht. So erreichte sie unauffällig ihr Ziel. Beim Lösen des Tickets drehte sie den Kopf zur Seite, damit der Verkäufer ihre violette Gesichtsfalbe nicht sehen konnte. Zuerst schlenderte sie langsam durch die Ausstellung. Bald aber galt ihr Interesse den Gemälden, wobei sie ein besonderes suchte. Sie schritt durch die Räume und blieb immer wieder vor einen der Bilder stehen, um es zu betrachten. Da wenig Besucher im Museum waren, konnte sie ruhig die Exponate ansehen. Vor einem sehr großen Bild machte sie halt und wusste sofort, dass es genau das richtige für ihr Vorhaben war. Es zeigte einen stolzen Reiter,
der auf einem schwarzen Ross saß. Jetzt war ihr Zeit gekommen um ihre schwarzmagischen Fähigkeiten zu präsentieren. Voller Konzentration starrte sie auf das Aquarell. Ihre Pupillen färbten sich purpur und dies übertrug sich sogleich auf das Objekt an der Wand.
Die Farben des Bildes verloren an Intensität, Violetttöne beherrschten nun das Gemälde. Gebannt beobachtete Charlotte das Geschehen. Ihr Blick wurde noch intensiver, bis auf einmal sich der Boden unter dem Pferd wölbte. Das Reittier kam zu Sturz, der Reiter fiel zu Boden und brach sich das Genick. Jetzt wurde ihr Einiges klar. Sie hatte ihr teuflisches Können zur Perfektion erhalten. Sie wusste, zu was sie nun in Stande war, und würde dies auch jederzeit
einsetzen.
Die wenigen Museumsbesucher, die das Schauspiel mitbekamen, waren starr vor entsetzen. Charlotte drehte sich um und verließ mit einer gewissen Gelassenheit den Raum. Das Gemälde verwandelte sich wieder in ihren ursprünglichen Zustand.