LEBEN AM NULLPUNKT
Ich kann sie hören.
Sie kommt die Treppe hoch. Kommt in mein Zimmer. Steht dann da am Rande des Teppichs und verdunkelt mit ihrer nachdrücklichen Präsenz die Schatten in den Ecken. Sie macht den Mund auf. Redet.
„Was hast du gemacht?“
„Staub gesaugt, Geschirr gespült, Waschmaschine angestellt. Jetzt warte ich.“
„Etwas geschrieben?“
„Nein. Ich warte.“
„Worauf?“
„Auf die eine gute Idee.“
„Und das dauert so lange?“
„Es dauert eben. Ich kann es nicht erzwingen.“
„Andere können es. Die schreiben einfach.“
„Schön für die anderen. Ich kann das nicht. Ich muss warten.“
Sie wirkt zunehmend ungehalten, verärgert und genervt. Ihre Füße scharren, ihre Hände schließen sich zu Fäusten. Mir geht es innerlich genauso. Seit Wochen hatte ich nichts interessantes geschrieben, keine brauchbare Idee hatte an die knarzende
Pforte meiner Birne geklopft. Ich bin äußerst gereizt.
„Du vergeudest deine Zeit!“
„Mag sein. Doch anders funktioniert es nicht.“
„Das ist enttäuschend. An deiner Stelle würde ich mir eine andere Freizeitgestaltung suchen. Vielleicht etwas weniger Anspruchsvolles.“
„Das ist keine Freizeitgestaltung. Das ist meine Arbeit.“
„Arbeit ist wenn man arbeitet. Und ein Produkt herstellt, oder eine Dienstleistung erbringt. Ich kann das hier nicht sehen.“
„Wart es ab. Es kommt schon noch was.
Ich muss nur in die richtige Stimmung kommen.“
„Hört sich für mich wie eine billige Ausrede an.“
„Mag sein. Ich bin eben kein Genie. Ich muss eben warten, auf die gute Idee, die Inspiration, die richtige Stimmung. Es muss von selbst kommen.“
„Reine Zeitverschwendung. Du könntest dein Leben sinnvoller gestalten. Du könntest Spaß haben, anstatt hier am Nullpunkt deine Zeit zu verplempern.“
„Und wenn schon. Das ist meine Zeit, und die gestalte ich wie ich will. Es geht auch nicht anders. Ich muss das tun. Es ist ein Drang, ein leidenschaftlicher Zwang sich der Welt
mitzuteilen. Ob vom Nullpunkt oder sonst woher.“
„Das hört sich ziemlich egoistisch an, selbstverliebt und überheblich. Und überhaupt… wo bleibt da der Erfolg? Wer liest denn schon deine Sachen?“
„Sicher ist das auch eine Portion Eitelkeit. Doch welcher Mensch versucht nicht irgendwo seine Spur zu hinterlassen, etwas woran sich die Nachwelt erinnert; Ein Funkeln der Unsterblichkeit wünscht sich doch jeder. Ob er es zugibt, oder nicht. Und es geht auch nicht um die Leser. Ob es Einer ist oder eine Million ist nicht das wichtigste. Ich schreibe um des Schreibens willen, nicht nur für eine
vage Anerkennung, oder Bewunderung. Was man wohl als Erfolgreich werten kann.“
„Schöne Worte. Allerdings werden sie die Welt nicht ändern.“
„Niemand ändert die Welt allein. Auch keine Geschichte oder ein Roman, ein Song, vermag das. Das ist eine Illusion. Es sind immer eine Masse von Menschen nötig, die etwas verändern wollen. Zum Guten oder Schlechten. Der Rest ist nur Kaspertheater. Fassadenmalerei und Kulissenbau. Eben nur schöne Worte.“
„Wenn du all das weißt, warum dann noch daran festhalten?“
„Ich kann eben nicht anders. Das liegt
mir im Blut. Und es macht mir einen Heidenspaß. Sollen andere ihre Hobbys pflegen; ihre Bierdeckel und Kugelschreiber sammeln, Vögel beobachten, Pullover stricken, oder in Aquarien starren. Das ist denen ihr Nullpunkt. Ich bleibe bei meinem. Da geht es mir zwar nicht wirklich besser, aber das ist eben meine Entscheidung.“
„Ganz schön starrköpfig für einen Kerl ohne Idee.“
„Ganz schön frech für eine Frau die mir keine Hilfe ist.“
„Arschloch! Du hast nicht nach Hilfe verlangt.“
„Es wäre hilfreich wenn du gehen würdest.“
„Ist mir recht. Mach und schreib was du willst.“
„Danke!“
Und genau das machte ich dann auch. Es war ganz einfach, ging wie von selbst. Wie ich gesagt hatte. Und es ist mir immer noch ziemlich egal ob es jemand liest oder nicht. Ich bin runter von meinem Nullpunkt. Das ist zutiefst egoistisch. Und die Wahrheit.