Kapitel 30 Die Versammlung
Hadrir fühlte sich wie ein Opfertier auf dem Weg zum Altar. Oder der Schlachtbank, für ihn lief es jedenfalls auf das gleiche hinaus. Mit einem mulmigen Gefühl sah er zu der hohen Tür, die am Ende der Halle lag. Sie hatten einen der Säle im Kaiserpalast zur Verfügung gestellt bekommen um ihre Versammlung abzuhalten, die mittlerweile wohl bereits im vollen Gang wäre. Trotzdem zögerte er, sich seinen Brüdern anzuschließen. Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster in die Kammer, in dem neben ihm noch ein gutes
Dutzend weiterer Zwerge warteten. Männer und Frauen, deren Häuser zu unbedeutend waren, als das ihre Anwesenheit erforderlich wäre oder die schlicht darauf warteten, zu erfahren, was drinnen vor sich ging. Statuen früher Kaiser säumten die Nischen des Raums und zum ersten Mal kam Hadrir sich tatsächlich klein vor. Die Menschen mochten ihn und den Rest seines Volkes körperlich überragen, aber dem hatte er bisher nie Beachtung geschenkt. Das hier jedoch, war etwas anderes. Hinter dieser Tür würde er es mit seinem eigenen Volk zu tun haben… und das kannte er leider nur zu gut.
Jeden Tag kamen neue Schiffe an, die
mehr und mehr Zwerge mit sich brachten. Sie brauchten eine Führung… und damit einen König und zwar schnell. Und schnell war ein Wort, das sein Volk nur äußerst selten benutzte. Die Menschen mochten im Vergleich zu ihnen unvorstellbar kurze Leben haben… aber sie waren auch um einiges Anpassungsfähiger, dachte Hadrir betrübt. Ein Mensch, der wie ein Zwerg dachte, würde wohl nie sein eigenes Lebenswerk vollendet sehen. Sie hatten Jahrhunderte, wo einem Menschen ein paar Jahrzehnte blieben. Unter normalen Umständen könnte es Monate wenn nicht Jahre dauern, bis die Versammlung einen Kandidaten fand und das würde bei
ihrem Volk schon als eine übereilte Entscheidung gelten.
Jedes Haus würde einen König vorschlagen… und man konnte darauf wetten, dass jedes einzelne nur einen Kandidaten aus den eigenen Reihen benennen würde. Anfangs würde wohl auch jedes Haus für den eigenen König Stimmen, dachte Hadrir, aber langsam aber sicher würden sie damit anfangen müssen, sich abzusprechen… und dann musste das einflussreichste Haus sich zwangsläufig durchsetzen. Und das war im Augenblick Mardar. Wen Kasran wollt, brauchte es nur ein Wort und er könnte sich auch gleich die Krone aufsetzen. Sollte der Thane sich als
Kandidat nennen, wäre die Wahl danach nur eine Farce…
Hadrir hatte die letzten Wochen damit zugebracht, nach einer Lösung zu suchen, ohne dass dabei Kasran am auf dem Thron enden würde. Aber dafür fehlte ihm schlicht der Einfluss und selbst wenn… Kasran war vielleicht ihre einzige Chance auf eine schnelle Entscheidung. Nur konnte er ihm auch zutrauen, das richtige zu tun? Wen auch immer die Zwerge zu ihrem König ernennen würden, er müsste mit dem Kaiser über das Schicksals seines ganzen Volkes verhandeln…
Vielleicht sollte er dem alten Thanen am Ende sogar besser unterstützen? Zum
Wohle aller ?
Unruhig lief er vor der Tür auf und ab. War er ist drinnen, gäbe es kein Zurück mehr für ihn oder irgendeinen der anderen. Die Kandidaten, die heute festgelegt würden, wären beschlossene Sache. Entweder er unterstützte Kasran… oder enthielt sich. Dem Rest der Häuser traute er sogar noch weniger über den Weg. Ein Teil von ihnen waren Anhänger des Propheten gewesen und der Rest…
Hadrir atmete tief durch und blieb endlich direkt vor der Tür stehen. Es hatte ja keinen Zweck hier herumzustehen und sich Gedanken zu machen. Mit einem Ruck stieß er die
großen Flügeltüren auf und trat in die lichtdurchflutete Halle dahinter. Der Raum erstreckte sich über mehrere Ebenen mit Rängen und Balkonen und so gut wie jeder Platz war Besetzt. Die Zwerge drängten sich an den Holzgeländern und auf dem Parkett weiter unten und der ganze Saal war von Stimmengemurmel und Wortfetzen erfüllt. Viele trugen die Farben ihrer jeweiligen Häuser, doch da es nirgendwo genug Platz gab, das sich eine komplette Familie sammeln konnte, glich die Halle einem bunten Flickenteppich. Wappen und Banner hingen von der Decke herab, und wehten im Luftzug, der durch eine Reihe geöffneter Fenster an der
Rückwand des Raumes hereinwehte. Hinter dem Glas lag nur der blaue Himmel und ein Stück weiter dahinter, die erste der Inseln, aus denen die fliegende Stadt bestand.
Hadrir konnte die Blicke spüren, die ihn von den Rängen her verfolgten. Wie hungrige Aaskrähen, dachte er bitter. Vielleicht gab es einige dort oben, die befürchteten, er könnte die Nachfolge seines Vaters antreten wollen. Das wäre so weit nicht einmal etwas ungewöhnliches… zumindest der Versuch nicht… aber da könnte er sie beruhigen. So wie die Dinge momentan standen, blieb ihm nur zuzusehen. Woher kam nur diese Bitterkeit? , fragte er sich und
er kannte die Antwort nur zu gut. Sie stammte von Brunar. Von der Frustration, belogen worden zu sein, der Verzweiflung, das sein Volk selbst jetzt noch seine Ränke schmieden konnte, statt sich einmal zusammenzunehmen…
In gewisser Weise hatten ihm die vergangenen Monate die Augen geöffnet. Und in gewisser Weise hatte er es doch auch schon immer gewusst, oder nicht?
Dunkles Holz knarzte unter seinen Füßen, als er mitten unter die versammelten Zwerge trat. Genau in der Mitte der Ratshalle hatte die Menge einen kleinen Platz mit einem Podest freigelassen, falls jemand das Wort an die Versammlung richten wollte. Im
Augenblick stand dort jedoch kein Zwerg, sondern ein Mann in schwarzen Roben, mit langen, ergrauten Haaren. Der Magier sah ernst in die Menge. Offenbar war auch ihm das Gemurmel und die gefährlichen Blicke nicht entgangen. Mit einer einzigen Geste, sorgte er jedoch bereits für Ruhe. Auch wenn Hadrir jedes Gespür für Magie fehlte, was dieser Mann ausstrahlte, konnte nur einem Narren entgehen. Quinn war der Ordensmeister der Zauberer Cantons und in diesen Hallen damit die Stimme des Kaisers. Wenigstens wäre damit jemand hier, der ein Auge auf alles haben würde... und zu keinem der Häuser
gehörte.
,, Ihr müsst verzeihen, ich bin mit den Gebräuchen eures Volkes nicht vertraut.“ , begann der Magier zu sprechen. Seine Stimme war leise und brüchig, doch die Autorität darin war deutlich zu spüren. ,, Heute bin ich nur hier um meinen Herrn in dieser Versammlung zu vertreten, sollte es nötig sein. Damit will ich euch das Wort überlassen. Doch lasst mich euch um Weisheit bitten. Ihr werdet jemanden brauchen, der mit dem Kaiser für euer ganzes Volk sprechen kann, nicht nur für ein Haus. Und mit jedem Tag, der vergeht, werden mehr von euch hier stranden, ohne Ausweg oder
Zukunft.“
Mit diesen Worten trat Quinn zurück und trat zur Rückwand des Raumes ans Fenster. Nun konnte die Versammlung auch offiziell beginnen. Die Thanen der einzelnen Häuser traten der Reihe nach vor um die Namen derjenigen zu nennen, die sich zur Wahl stellen würden. Und in viel zu vielen Fällen war es ihr eigener Name, der fiel. Wie Hadrir bereits befürchtet hatte, das ganze könnte sich lange hinziehen, bis die schwächeren Häuser nachgaben um jemand anderen zu unterstützen…
Fast den ganzen Nachmittag lang reihten sich Thanen und weitere Sprecher aneinander und mit jedem einzelnen
Namen wurden Proteste oder Rufe der Zustimmung laut, manche traten nach vorne um jemanden aus ihrem Haus zu unterstützen, andere beschimpften lediglich die Kandidaten eines anderen Thanen… der im meisten Fall ohnehin er selbst war. Für einige schien genau das der ganze Sinn dieser Veranstaltung zu sein, dachte Hadrir säuerlich. Den über Jahre und Jahrhunderte aufgestauten Hass auf die anderen Häuser einmal Ausdruck zu verleihen, ohne dass jemand später sagen könnte, es sei ungebührlich gewesen… Auch Quinn schien mit jedem Moment frustrierter zu werden. Fassungslos sah der Magier über das Chaos, das sich in der Halle breit
machte, schüttelte den Kopf über die Rufe und Schimpfreden… Hadrir hätte ihn warnen können… das war eben Zwergenpolitik.
Einen Augenblick lang traf sich ihr Blick. Vielleicht hätte er zumindest in dem Magier einen Verbündeten gefunden, dachte Hadrir bedauernd. Aber dessen Stimme hatte hier kein Gewicht.
,,Ruhe!“ Die Stimme, die von einem der Balkone über ihnen kam, war wie ein Donnerschlag. ,, ich sagte Ruhe !“ Kasran Mardar war an das Geländer getreten und stieß den Rubinstab in seiner Hand auf den Boden, das Hadrir befürchtete, er würde Splitter. Bisher hatte der Thane sich als einziger
zurückgehalten und noch keinen eigenen Kandidaten benannt. Mit einem mal war es Totenstill im Saal. Mit einem seufzen, das in der ganzen Halle zu hören war, wendete sich der in rot gewandete Mann ab und machte sich auf den Weg eine kurze Wendeltreppe hinab um in den großen Saal zu gelangen. Niemand wagte es, auch nur zu flüstern, während er sich die Stufen hinab schleppte.
Kasran war das Zünglein an der Waage in dieser verfahrenen Situation, das wussten sie alle. Ein Wort von ihm würde die Angelegenheit entscheiden und wie immer sie ausfiel… er wäre es, der sie beherrschte.
Hadrir konnte ein kleines Kontingent
seiner Gefährten erkennen, die dem Thanen unauffällig wie Schatten durch die Menge folgten. Beim Anblick dieser schweigenden gestalten lief ihm nach wie vor ein Schauer über den Rücken. Auch wenn im Palast niemand Waffen tragen würde, diese Leute brauchten auch nicht unbedingt eine Klinge um tödlich zu sein. Und das Kasran sie einer Ehrengarde aus Mitgliedern seines eigenen Hauses Vorzog sprach Bände. Mit einem siegessicheren Grinsen stieg er auf das Podest und sah sich in der Menge um, als wollte er sicherstellen, die Aufmerksamkeit aller zu haben. Darum jedenfalls musste er sich wohl keine Sorgen machen. Die Leute rückten
unter seinem Blick enger zusammen. Die Augen des Thanen schimmerten fast wie Rubine, wenn das Licht richtig fiel Kasran war vielleicht der älteste noch lebende Zwerg und er hatte ein Leben gelebt, das selbst für die Maßstäbe seines eigenen Volkes als unnatürlich lang gelten konnte. Er hatte die Flucht seines Volkes über das Meer erlebt und nun war er hier um seine Rückkehr zu bezeugen. Ein Jahrtausend Exil , das letztendlich nur in einem Kreis zum Ursprung zurückgeführt hatte. Angeblich war einer seiner Vorfahren sogar ein Unsterblicher gewesen…
Als Quinns Stimme schließlich das Schweigen brach, tönte sie ungewohnt
laut durch den Saal. ,, Die übrigen Thanen haben ihre Wahl getroffen, Lord Kasran… dürfen wir nun von euch erfahren, wen ihr für die Nachfolge des Königs vorschlagen würdet ?“
,, Deshalb bin ich hier. Und ich habe lange darüber nachgedacht.“ Natürlich hast du das, dachte Hadrir bitter. Vermutlich nicht länger als er gebraucht hatte um das Podest zu erreichen. Sein Blick traf sich mit dem des Thanen , der nach wie vor gewinnend in die Menge lächelte. Für einen Augenblick jedoch wurden seine Gesichtszüge düsterer, doch nicht etwa, als fürchte er Hadrir… Er wirkte beinahe… bedauernd?
,,Nein !“ Er verstand zu spät, was vor
sich ging, was der Mann tatsächlich plante. Sein Ruf verhallte ungehört und selbst wenn es jemand mitbekommen hätte… was hätte es noch geändert.
,, Ich schlage Hadrir Silberstein für die Nachfolge seines Vaters vor.“ Und leise, so das es fast im beginnenden Aufruhr unterging, der die Halle erfasste, flüsterte er : ,, Mögen die Unsterblichen mir verzeihen…“
Das Chaos war innerhalb weniger Herzschläge vollkommen. Empörte Rufe wurde von den Balkonen aber auch aus der Menge laut, Leute drängten nach vorne, andere versuchten aus der Halle zu gelangen oder blieben schlicht Fassungslos stehen wo sie waren. Damit
hatte niemand von ihnen gerechnet, dachte Hadrir… und am allerwenigsten noch er selbst. Das… änderte alles. Statt das zu tun, was von ihm erwartet wurde, sich an den Tisch zu setzen und seine Karten zu spielen, hatte Kasran ihn so eben umgeworfen. Hasserfüllte, bewundernde, unsichere Blicke trafen Harir von überall her. Hatte Kasran denn den Verstand verloren?
,, Das ist nicht hinnehmbar…“
,, Er von allen ?“ Die Stimmen überschlugen sich und die ersten LEute kletterten bereits über die Absperrung um Rednerpult, wo Kasran nach wie vor wie versteinert stand. Seine Leibgarde sorgte jedoch rasch dafür, dass sie nicht
weit kamen…
Wohl durch den Aufruhr alarmiert, strömten nun auch die ersten Gardisten durch die Türen der Halle und bedeuteten den Leuten, den Raum zu verlassen. Andere schwärmten aus und zogen die Leute von Kasran weg, der ohne sichtliche Eile vom Podest trat und sich von seinen Gefährten hinaus eskortieren ließ. Hadrir blieb nur, ihm entsetzt nachzusehen, während er mit dem Strom der übrigen Zwerge aus der Halle getrieben wurde.