Monsternatur
Ich habe immer an Monster geglaubt. Schon als kleines Kind konnte ich sie überall sehen. Unter meinem Bett, in den Schränken und Ecken meines Zimmers versteckten sie sich. Es waren viele und sie alle sahen unterschiedlich aus. Manche von ihnen waren riesig mit scharfen Reißzähnen und rotglühenden Augen, andere wiederum waren klein und schwarz wie Schatten, ganz ohne Augen oder Zähne. Meine Eltern haben mir immer wieder erzählt, ich würde mich irren und es gäbe die Monster nur
in meinem Kopf, doch ich wusste es besser. Denn ich konnte die Monster sehen, wenn sie nachts aus ihren Verstecken krochen.
Aber als ich ein Kind war taten mir die Monster nichts. Sie jagten mir Angst ein und hielten mich vom Schlafen ab, aber sie konnten mir kein Leid zufügen.
Als ich älter wurde verschwanden diese Monster nach und nach. Aber nur um von neuen, viel schlimmeren Monstern ersetzt zu werden. Denn Erwachsene wissen das es Monster gibt und das sie überall auf dich lauern können. Diese Monster haben keine Klauen und Reißzähne und sie sind auch nicht
schwarz. Sie sehen aus wie Menschen, denn es sind Menschen. Und im Gegensatz zu dem Monster der Kindheit, können diese Monster dir Leid zufügen, unvorstellbares Leid. Manche von ihnen bringen sogar den Tod.
Aber es gibt noch etwas, das ich inzwischen über Monster weiß. In jedem von uns steckt ein Monster und es wartet nur darauf sich zu zeigen. Eh wir uns versehen, gelingt ihm das und mit der Zeit wird das alles was wir sind. Ein Monster.
Auch ich bin ein Monster. Das wird mir in diesem Moment klar, als ich
mitansehe, wie das kleine Mädchen auf den Mann zurennt, dessen Blut an meinen Händen klebt. Das Mädchen ist noch jung, vielleicht acht Jahre alt. Sie trägt ein Kleid das bestimmt einmal sehr schön war, bevor der überall in der Luft und auf dem Boden liegende Staub und Ruß es verschmutzt haben. Man kann die verschiedenfarbigen Stickereien noch erkennen, die jemand in sorgsamer Handarbeit auf das Kleid aufgenäht hat. Vielleicht derselbe jemand der ihr die Haare zu einem Zopf geflochten hat, der nun beim rennen im Wind weht. Das Mädchen fällt vor dem am Boden liegenden Mann auf die Knie und beginnt bitterlich zu weinen. Sie
schüttelt ihn und ruft etwas in ihrer Sprache, das ich jedoch trotzdem verstehen kann, da auch ich die Sprache zumindest einigermaßen spreche. Sie ruft: „Papa, Papa wach auf!“, aber der Mann wird nicht mehr aufwachen. Denn er ist Tod. Um ihn herum sammelt sich das Blut, das aus einer Schusswunde in seiner Brust rinnt.
Ich höre nichts mehr um mich herum außer dem Mädchen. Nicht die Schüsse, die durch die Luft um mich herum pfeifen. Nicht das prasseln der Feuer, in denen Häuser, Heime von Familien, zu Schutt und Asche verbrennen. Auch nicht die vereinzelten Explosionen der
Sprengkörper und Mienen. Nicht einmal das Brüllen und die Schreie meiner Kameraden, oder der Einheimischen. Die Welt um mich herum ist wie ein Stummfilm. Ein Alptraum in dem zahllose Menschen mit Waffen aufeinander losgehen, weil jeder Mensch ein Hindenis ist, das es aus dem Weg zu räumen gilt. Man nennt diesen Alptraum gemeinhin Krieg.
Die Waffe halte ich immernoch in meiner Hand, mir fällt auf wie schwer sie ist, wie unangenehm schwer. Also lege ich sie auf den Boden und starre sie an wie einen Fremdkörper der mit bis vor kurzem noch so vertraut war.
Jahrelang habe ich gelernt mit ihr umzugehen, wie man zielt, schiesst und trifft. Ich habe auf Flaschen und Zielscheiben geschossen, die anschließend umgefallen sind. Wie der Mann umgefallen ist, nachdem ich getroffen habe. Ich bin ein guter Schütze.
Das Mädchen dreht sich zu mir um und ich kann nicht anders als in ihre Augen zu schauen. Sie hat wunderschöne, hasselnussbraune Augen. Es sind grosse und sanfte Augen doch in diesem Augenblick ist keine Wärme und keine Sanftheit in ihrem Blick. Da ist nur noch
Schmerz.
Sie schaut mir fest in die Augen und sagt laut und deutlich ein Wort, das meinen Kokon aus Stille zerbricht. „Monster!“ sagt sie „Du Monster!“