Romane & Erzählungen
Schubert spielen - Erzählung

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"Schubert spielen - Erzählung"
Veröffentlicht am 20. Dezember 2008, 86 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Geboren und aufgewachsen in Süddeutschland. Lange in Berlin und Hamburg gelebt, später in der Lüneburger Heide. Neuerdings wieder in Berlin. Autor von bisher drei Romanen, von Erzählungen und von Kurzprosa. Eine Buchveröffentlichung: Alle Männer sind Brüder, Roman (BoD Norderstedt 2007). Weitere Werke als eBooks unter www.bookrix.de/-arno.abendschoen gratis lesen und herunterladen!
Schubert spielen - Erzählung

Schubert spielen - Erzählung

Beschreibung

Untergang einer Patchwork-Familie

Theaterabend

Sie kamen zehn Minuten zu spät, die Ouvertüre war schon vorbei. Man schloss ihnen die Loge auf, und sie nahmen so geräuschlos wie möglich Platz. Dennoch erregte ihr Eintreffen im Publikum Aufsehen. Morgen wird es die halbe Stadt wissen, dass der Verleger des Tageblatts im Theater war, mit seiner Gattin, seinem Sohn und dem befreundeten Ehepaar.
 
Man war bereits mitten im ersten Akt. Die Handlung bewegte sich auf einen heiteren Höhepunkt hin. Im Zuschauerraum geriet die Masse hier und da schon in Bewegung. Schultern hoben und senkten sich zuckend, Ellenbogen stießen gegeneinander. Ein korpulenter Sänger, grotesk kostümiert und komisches Entsetzen verbreitend, stampfte über die Bühne. Übertönt vom wiederholten Tusch des Orchesters, halb erstickt im reichlichen Brustfett des Künstlers, ging sein Liedtext so gut wie unter. Mara verstand nur Kanone und Federbusch. War das nicht General Bumm?
 
Dieser Theaterabend war weder ihre noch Rudolfs Idee gewesen. Lehmanns hatten um ihre Loge gebeten. Da entschied Rudolf: Wir kommen mit, wir haben es auch noch nicht gesehen; und Andreas müsse dabei sein. Andreas war einverstanden, wie immer, wenn ihm eine Sache gleichgültig ist. 
 
Sparkassen-Lehmann, wie sie ihn bei sich nannte - dass ihr das nur nie herausfuhr -, er wollte die Operette sehen und hören, Offenbachs Großherzogin von Gerolstein, die erfolgreiche Inszenierung am hiesigen Stadttheater. Ja, so redet er: erfolgreich! inszeniert! unser! Stadttheater! Aber er sagt es zurückhaltend, seriös durch und durch, mit kultivierter Note. Schade nur, dass er diesen Namen hat, eindeutig ordinär. Doch sonst war alles wohl kalkuliert an ihm, selbst der kaum merkliche süddeutsche Akzent. So wirst du hier erst Sparkassenchef und dann Freund des Zeitungsverlegers. Als ob sie nicht wüsste, welchem Parteibuch er das verdankte. Sie misstraute ihm. Er war Anfang fünfzig, das Haar erst angegraut, ohne Zweifel sein echtes Haar. Aber sie konnte sich von der Vorstellung nicht freimachen, er trüge eine Perücke, und zwar eine billige, schlecht sitzende, wie sie ein kleiner Sparkassenangestellter mittags im Warenhaus in der Fußgängerzone rasch aussucht und mitnimmt. Das war eine Zwangsvorstellung von ihr, ebenso das Verlangen, sich selbst zu überzeugen, handgreiflich, dass er keine Perücke trage. Idiotisch, sagte sie sich, idiotisch, Mara. Fixe Ideen spielen sich nur im eigenen Kopf ab, es hat nichts mit Lehmann zu tun. Trotzdem, er hat so eine Note, irgendetwas Weiches, Widerliches, das aus ihm herausfließt wie das Weiße aus einem beim Kochen zerplatzten Ei. Harte Schale, weicher Kern und alles vermanscht. Einfach widerlich, der Kerl. 
 
Ah, das ist Fritz, der Soldat. Niedlich, wie es sich gehört. Und was singt er da:
 
Sich zu bezwingen heischt die Instruktion!
 
Sie dagegen, Lehmanns Frau, auch so ein Kerl, aber ein anderes Kaliber. Mara feixte innerlich: Die Musik bringt dich in Schwung, man wird es dir nicht ansehen, und wenn schon, es ist für sie ja nur die Musik. Sie sieht aus wie ein Mann, der eine Frau spielt, in Frauenkleidern. Sie kam ihr jetzt vor wie dieser Schauspieler in dem Film neulich. Sie hatte nur die Plakate gesehen, überall waren sie zu sehen gewesen. Darauf ein Kerl, als Tante, als richtige Tante verkleidet, energisch und gutmütig. Für Musik hat sie gewiss kein Interesse, überhaupt nicht für Kunst; er schon eher; wenn sie nur wüsst, was an ihm echt ist. Sie, sie ist ganz unvermanscht. Typ kalte Geschäftsfrau, die einfach nur gut repräsentiert. Die Korsettstange um den Herrn Gemahl. Hält alles zusammen, Geld, Familie und Reputation. Ein Glück für mich, dass ich zierlich bin, denkt Mara, als Kundin bei ihr von vornherein ausscheide. SENORA - die Ausstatterin für die stärkere Figur. Sie selbst ist nicht fett, nur sehr kräftig, im Knochenbau und in der Muskulatur. Ihre Haare werden jetzt schneller grau als seine. Stimmt es, dass sie drei Jahre älter ist als er? Mara, sagte sie zu sich selbst, hör lieber zu. Sie singen gerade nicht mehr. Und ihren Laden in der Welfenallee, wann hat sie ihn gekauft? Vor drei Jahren, vor vier Jahren? Und wovon? Rudolf wird es ihr sagen, ja, Rudolf - und da kommt sie, die Großherzogin!
 
Ach, wie liebe ich die Soldaten ...
 
Ach, wirklich? Man liebt die Soldaten? Das wird den Minister freuen, den Minister der Verteidigung. Ein tolles Stück, nicht einmal in Grünburg totzukriegen. Ach, wie liebe ich die ... Eigentlich eine geniale Musik, ordinär und genial. Das passte vielleicht nicht gerade zu ihr, egal, sie war da, um sich zu amüsieren. Und sie wird sich amüsieren und wird hinterher keinen schlechten Geschmack im Mund haben. Eine Funkenmariechenmusik war das, auf höchstem Niveau, man kann alles, man muss es nur können: alte Weisheit.  Ach, wie liebe ich die ... Und kam er nicht aus Köln, der alte Offenbach, nicht aus Offenbach, aus Köln, hilliges Köln. Auch sie war eine Rheinländerin. Und die da ist die Großherzogin der Funkenmariechen. In Gerolstein war sie, Mara, nie gewesen. Ist das überhaupt ein Kurort? Ach, nichts mehr von Kurorten! Die Säle, die alten Leute, die Plakate ... Sie war Mara, die berühmte Schubertinterpretin von Wörishofen und Gandersheim, wie Rudolf immer sagte. Musste er es denn sagen? Offenbar ja. Denn er war Rudolf. Der sie von den Kurorten erlöst hatte. Dafür gab es jetzt bei ihnen zu Hause Schubertiaden oder so etwas Ähnliches. Ein neues Publikum für sie, neue Leute, andere Leute, alte Leute, junge Leute, fremde Leute, nein, nicht nur, Freunde auch, Bekannte, allzu gut Bekannte ... Ach, wie liebe ich die Soldaten ... Sie kann gar nicht aufhören, sie zu lieben. 
 
Sich einer Fürstin gern verloben ...
 
Das Stück wr ihr nicht unbekannt. Vor vielen Jahren hatte sie in Hamburg eine Aufführung gesehen, eine vorzügliche, wenn sie sich recht erinnerte. Sie selbst gastierte damals an einem Sonntagnachmittag im Kurhaus von Bad Bevensen und fuhr abends nach Hamburg. Nachher lenkte sie den Wagen in selten heiterer Verfassung zurück ins Heidestädtchen, wo sie im Hotel übernachtete. Anderntags war sie dann weitergefahren, sie wusste jetzt nicht mehr, ob an die Küste oder tiefer ins Binnenland hinein; vielleicht in den Harz oder an die Weser. Damals war sie erst Mitte zwanzig und besaß noch Wagen und Führerschein. Seither war vieles geschehen: die Scheidung, Jahre fast ununterbrochener Tourneen durch Kurorte und Badeorte, der idiotische Unfall, die neue Bindung und das definitive Ende ihrer Karriere als drittklassige Pianistin. 
 
Die Handlung war ein gutes Stück vorangekommen. Der rasante Aufstieg des Soldaten Fritz zum Favoriten der Fürstin war schon zur Hälfte vorüber, jetzt die Ankunft des Prinzen Paul, hilflos, dicklich, sehr gekonnt - und sein komisches Lamento:
 
Und so was schreibt man über mich ...
 
Ja, auch über sie schrieb man damals viel, zum Beispiel in der Rheinpfalz, in der Nordsee-Zeitung, im Südkurier oder in den ungezählten Wochenblättern. Dort standen dann ein paar Belanglosigkeiten zwischen den Berichten vom Lokalsport und den Sonderangeboten. Der neue Beaujolais. Aufstieg in die Bezirksliga geschafft. Neue Kartoffeln. Schülerlesewettbewerb. Welpen abzugeben. Änderung der Müllabfuhr. Gelungener Schubertabend. Bettfedernreinigung ... Für Zeitungen von Gewicht existierte sie, Mara, die berühmte Schubertinterpretin und so weiter, gar nicht, nicht für die Süddeutsche, nicht für die großen Frankfurter Zeitungen, noch nicht einmal für die Hannoversche Allgemeine. Ihrer Agentur gelang es nie, ihr Verträge für München, Frankfurt oder, zum Beispiel, Hannover zu vermitteln. Mara wer? So hieß sie in Wahrheit. Gemessen am Aufwand ihrer zehnjährigen intensiven Ausbildung war das nichts. Und Mama hatte auf so viel verzichtet. Und wozu die Jahre am Düsseldorfer Konservatorium? Und doch hatte sie ungefähr fünfzehn Jahre davon gelebt. - Und noch einmal:
 
Und so was schreibt man übe mich 
In der Holländ'schen Zeitung
 
Als sie in Ems gastierte, vor ungefähr drei Jahren, nannte eine Zeitung in Koblenz - oder war es Bonn - ihr Spiel bemerkenswert uninspiriert. Natürlich wusste sie selbst, dass ihre Vortragsweise wenig persönlichen Stil aufwies. Dafür akkurat und werkgetreu war! Vermutlich war das zu wenig, heutzutage. Vielleicht war es zu einfach und zu bequem, dem Heutzutage anzulasten, was offenbar fehlte. Es bedrückte sie damals kaum noch. Sie nahm es hin, so war es halt. 
 
Sie war es müde. Reisen, nicht um zu reisen, Kunst auszuüben, ohne auf viel Kunstverständnis zu stoßen, Zeitungsnotizen, die von schreiender Unkenntnis Zeugnis ablegten - die Leere des provinziellen Kulturbetriebs ödete sie oft an. Einmal, in einem Kurort im Schwarzwald, verspürte sie gräßliche Hemmung. Sie hatte sich zu Beginn ein wenig verbeugt und wollte zum Flügel gehen. Aber die Füße, ihre Füße - sie hätte am liebsten nur Bäh! gesagt. In der ersten Reihe saß ein Lokalreporter, der über alles zu schreiben verstand, Vereinssitzungen von Kleingärtnern, eine Tombola zu Gunsten weißrussischer Kinder, das obligatorische Radrennen, und der für alles seine vorgestanzten Formeln bereit hatte. Er erfasste ihre Lage, er nickte ihr zu, mitfühlend, wie ihr schien. Das konnte heißen, alles sei nichts, zwar unermesslich als Sein, jedoch Gewirr als Sinn, wie es bei Musil stand; wenngleich es sehr fraglich war, ob der Reporter Musil las. Sie sagte nicht Bäh!, ging zum Flügel und begann mit dem Programm: Schubert, Valses Nobles, Valses Sentimentales ...
 
In diesen Emser Tagen lernte sie Rudolf kennen. Auch er sei schon etwas müde, sagte er ihr. Sie sollte nur für ihn spielen und für einige Freunde allenfalls. Die Kunst ging nach Brot, und das Brot ging nach Kunst. Sie ergänzten sich, das sagt man so. Er saß jetzt entspannt und offenbar guter Laune neben ihr in der Loge. 
 
Auf der Bühne war nun von Krieg die Rede. Es galt, die Großherzogin zu zerstreuen, also brach man einen Krieg vom Zaun. General Bumm empfahl als Strategie: den Feind aufrollen und abschneiden. Gut gesagt, nur, wo war der Feind? Sie, Mara, hatte keine Feinde. Aber waren nicht auf Dauer die Lebewesen am meisten gefährdet, die keine Feinde hatten: Sie waren neuem Unheil schutzlos preisgegeben. Was für Gedanken, Mara. 
 
Dann wieder die Großherzogin mit der zu lang geratenen Arie: Sieh, dies ist meines Vaters Degen. Hier missfiel ihr die Musik mit einemmal. Den Degen, den Degen! Das war wie ein Herumbohren in einer nicht verheilenden Wunde.  Ihr Vater war also tot? Mara wusste nichts über ihren eigenen Vater, ob er noch lebte und, falls ja, wo. In ihrer eigenen Biographie kam er nicht vor. Hatte ihr deshalb Rudolfs weißes Haar von Anfang an so gut gefallen, war er ein später Vaterersatz? Der Gedanke war ihr schon öfter gekommen, und sie schob ihn auch jetzt mit einem amüsierten Lächeln beiseite. Dichtes weißes Haar mit fünfzig, wie eine Pelzkappe, und straffe, gebäunte Züge. Und verwitwet seit kurzem. 
 
Und Mama sagte, als sie von ihm hörte, Marakind, er ist elf Jahre älter als du, war es das, was du wolltest? Und sie darauf: Soll ich nicht auch einmal Glück haben, Mama? Wenn ich bei ihm bin, lebt er auf. Und sie hatte Recht behalten, alles war gut gegangen, nun, fast alles. Für ihren Geschmack war jetzt zu viel Repräsentation dabei. Er sagt dann immer, wenn er ihre Skepsis spürt: Halten wir noch eine Weile an den Formen fest, vielleicht überleben sie uns. 
 
Während des Umbaus, zwischen dem ersten und zweiten Akt, blieben sie sitzen und sprachen nicht viel miteinander. Lehmanns vor ihnen wandten sich wiederholt um. Ob es ihnen auch so gefalle, prachtvoll, die Musik, die Ausstattung, die Tanzszenen, nicht wahr? Und Rudolf begann sich zu entschuldigen, wie peinlich ihnen die Verspätung sei. Lehmanns waren pünktlich gewesen und hatten zunächst im Vestibül auf sie gewartet. Wir erklären es später, sagte Rudolf, in der Pause. Nicht der Rede wert, pah, nur ein paar Minuten ... Lehmann wandte sich wieder zur Brüstung, sie taten es ihm nach, und dann beobachteten sie das Publikum. Das Haus war fast ausverkauft. Zu Silvester war Premiere gewesen, jetzt war es Juli. Es waren die letzten Aufführungen vor der Spielpause. 
 
Nur Andreas, der vor ihnen und rechts von Frau Lehmann saß, kehrte ihr noch sein Halbprofil zu. Während Rudolf sich zu entschuldigen begann, war ein amüsiertes Grinsen auf seinem Gesicht erschienen. Peinliche Gelegenheiten bereiteten ihm Genuss, das wusste sie inzwischen. Nur selten kam diese süffisante Neigung zum Vorschein. Meist war er der ernsthafte und wohl erzogene junge Mann aus sehr gutem Haus. Aber er konnte auch eigensinnig sein, stolz und hart. Und es war ein sonderbarer Stolz. Wenn ihn bei den Eltern ein Besucher fragte: Und Sie, junger Mann, wohin gehen Ihre Neigungen, was tun Sie, studieren Sie? - dann konnte es vorkommen, dass er zunächst nur sagte: Ich bin die dritte Generation, ich studiere Kunstgeschichte. Gleich beim ersten Mal hatte sie gesagt: Bismarck, Andreas, Bismarck? Und er hatte lächelnd genickt. Rudolf schien das Zitat nicht zu kennen; es würde ihn nicht freuen. Die erste Generation erwirbt das Vemögen, die zweite verwaltet es, die dritte studiert Kunstgeschichte und die vierte verkommt ganz und gar; so ungefähr war der Wortlaut. 
 
Sie war seine Stiefmutter, die Stiefmutter des Adoptivsohnes. Das hörte sich für sie beinahe wie eine doppelte Verneinung an und würde dann eine Bejahung ergeben. Ja, er war ihr sympathisch, aber sie durfte nie vergessen, dass er schon die nächste Generation war. Das trennte sie voneinander, abgesehen von allem anderen. Der Adoptivsohn und die Stiefmutter, das klang von fern ein wenig wie Menschen im Hotel. Zusammengewürfelt. Zufallsbekanntschaften, Eine moderne Familie eben. Sie harmonierten mehr oder weniger, das konnte man sagen. 
 
Während des zweiten Aktes streifte ihn ihr Blick wiederholt. Wie gut ihm Schwarz steht. Der lange schmale Kopf mit dem dichten dunklen Haar. Ziemlich blass die Haut, dabei ist er nicht einmal hellhäutig, eher brünett. Wie intensiv er das Geschehen verfolgt, auf die Musik hinhört ... und dabei so ernst ist, fast ein wenig finster. Er könnte das Bildnis eines jungen Mannes von El Greco sein. Südlich und streng. Ja, er hatte etwas Katholisches an sich. Das war merkwürdig, gehörte er doch keiner Kirche an und war gewiss kein Christ. Dagegen war Rudolf tatsächlich Katholik. Er gehörte hier der Minderheit an. Grünburg war evangelisch, ganz überwiegend, das heißt in Wahrheit heute bloß areligiös. Rudolf war ein seltenes Exemplar: praktizierender Katholik. Allerdings wirkte er eher wie ein evangelischer Pfarrer: ein bisschen gütig, ein bisschen leutselig, ein bisschen gehemmt. Und nun Andreas dagegen, der Adoptivsohn: wortkarg im Allgemeinen, dann stolz auffahrend, dabei kurz angebunden und doch geschliffen. Er hatte das Problem auf seine Weise gelöst, das Problem der Würde ... 
 
O, weit war sie abgekommen vom Stück! Sie haben den Krieg gewonnen, mit General Fritz. Er kommt heim, lächerlich ist es gewesen. Jetzt der Antrag der Fürstin. Er will nicht, sie verhandelt, diplomatisch, und begreift endlich: Da ist ihr die andere im Weg. 
 
Rudolf hatte ihr einmal gesagt, Andreas habe wahrscheinlich eine Neigung zum eigenen Geschlecht, und das bedrücke ihn sehr, ihn, Rudolf, Andreas natürlich nicht. Und wenn es so wäre? Für sie würde es nichts ändern. Und für die Firma? Da war nichts geklärt. Andreas lebte jetzt mit einer Frau zusammen, in Hamburg. Warum war sie diesmal nicht mitgekommen? Gleich nach Semesterferienbeginn war Andreas für ein paar Wochen heimgekommen. Sonja, erfuhren sie, hatte sich nicht freimachen können. Sie sollten die beiden einmal in Hamburg besuchen. Rudolf zögerte immer. Was fürchtete er - Entdeckungen?
 
Lass wohnen ihn, den eitlen Tor,
Dort wo zu End der Korridor ...
 
Auf der Bühne begann jetzt eine Intrige. Sie trachteten Fritz nach dem Leben. Der Cotillon am Schluss des zweiten Aktes fing an, rauschend, dann immer mehr Personal, immer mehr uniformierte Mannsbilder, darunter hübsche Kerle. Immer schneller ging es, immer lauter wurde es. Da, die Pause. Gut so. Schön war es bis jetzt. 

Theaterpause. Ende der Vorstellung

Nun wolle er aber wissen, weshalb sie sich verspätet hätten, sagte Lehmann in der Pause, sie, die allzeit Pünktlichen. War der Himmel eingestürzt, und seine Gattin und er, sie hatten es nicht bemerkt?
 
Sie standen im Vestibül, im Halbkreis, eine der monströsen Säulen hinter sich. Die Säulen bildeten ihrerseits ein Halbrund; zwischen ihnen gelangte man in den Theatersaal. 
 
"Lieber Gerhard, du wirst es nicht glauben ..." Rudolf hob den linken Arm und beschrieb damit die Gebärde, mit der man den Arm um die Schulter eines Freundes legt. Er beließ es bei der Andeutung und nahm den Arm zurück, bevor dieser den lieben Gerhard erreichen konnte. Offenbar war er durch die Musik stark euphorisiert. Gewöhnlich vermied er derart übertriebene Gesten. 
 
Sankt Jakobus sei schuld. Er schmeiße jetzt mit Steinen. - Andreas nutzte die Gelegenheit, Lehmanns ein Rätsel aufzugeben. 
 
"Wie bitte?!" - Nie hatte Frau Lehmann auf Mara androgyner gewirkt. Sie besaß eine tiefe, kraftvolle Altmännerstimme. In Dänemark rauchten alte Frauen Zigarren in der Öffentlichkeit. Mara hatte es selbst gesehen. 
 
"Der Turm! Die Ruine!" rief Rudolf. Mara solle erzählen. Sie sei unter ihnen die mit dem ruhigsten Blut. Er selbst sei noch immer zu erregt. Dass es mit Grünburg so weit gekommen sei. Und wenn Andreas den Mund aufmache, komme es immer nur zynisch oder kryptisch heraus. 
 
Also berichtete Mara: Sie habe wie gewöhnlich eine Dreiviertelstunde vor Beginn der Vorstellung nach einer Taxe telefoniert. Das Taxi sei rechtzeitig gekommen. Als sie am Luisenplatz in den Westring einbogen, erfuhren sie vom Fahrer, dass der Ring in Richtung Zentrum nur noch einspurig zu befahren sei. Morgens um halb sechs hätten sich nämlich größere Gesteinsbrocken aus der Turmruine von Sankt Jakobus gelöst. Einer habe die Frontscheibe eines Wagens durchschlagen, der Fahrer sei durch das splitternde Glas verletzt worden ... "Er ist ins Krankenhaus eingeliefert worden, Schnittwunden im Gesicht, ist inzwischen schon wieder entlassen. Die Polizei hat die rechte Fahrspur auf dreihundert Metern gesperrt. Einfach durch Schranken abgesperrt. Und wir sind in einen Stau geraten und stecken geblieben. Wir haben zwanzig Minuten bis zum Welfenplatz gebraucht. Der übliche Freitagabendverkehr in die Kinos und ins Theater."
 
Lehmanns erfuhren erst jetzt von der Sperrung. Sie wohnten am südlichen Stadtrand. Der Taxichauffeur hätte durch die Gartenstraße ins Zentrum fahren sollen. 
 
"Genau das werde ich am Montag auf dem Weg ins Büro tun", erklärte Rudolf. Im Übrigen müsse nun endlich etwas mit Sankt Jakobus geschehen, Geldmangel hin oder her. Zu lange berate man schon über die Sanierung, die dringend fällige. Die Stadtverwaltung sei auch in diesem Punkt ineffektiv. 
 
"Ich werde Lachmann morgen anrufen", sagte Lehmann. Lachmann war der Fraktionsvorsitzende der Mehrheitspartei im Rat. "Irgendein Provisorium muss her. Aber will jemand etwas trinken?"
 
Klares Ablenkungsmanöver, dachte Mara, er will Rudolf keine Gelegenheit geben, sich weiter zu ereifern. Der Verleger gehörte der konkurrierenden großen Partei an, die im Rat in Opposition stand. 
 
"Ich hatte vorhin den Eindruck" - Rudolf wandte sich an Mara und dämpfte seine Stimme -, du warst nicht immer bei der Sache. Du wirktest aufffallend abwesend. Verzeih, dass mein Blick dich manchmal streifte. Sprach es dich so wenig an?"
 
"O, du irrst dich. Ganz im Gegenteil. Vielleicht habe ich im Geist immer mit der früheren Aufführung verglichen. Aber die hier ist bestimmt nicht schlechter. Ich habe mich wirklich gut amüsiert, bis jetzt."
 
Frau Lehmann wollte von Andreas wissen, ob er als verwöhnter Hamburger überhaupt noch Geschmack am hiesigen Theater finden könne. Andreas sah sie nur schweigend an. Die Frau des Sparkassendirektors fuhr fort: "Wir haben hier leider kein Phantom der Oper anzubieten, bloß diese Großherzogin von Gerolstein. Aber wenn ich es sagen darf, ich glaube, sie hält den Vergleich aus." Andreas nickte zustimmend. 
 
"Nein, nein, das hier ist viel bessere Kost", sagte Lehmann. "Wir haben uns doch beide schon lange nicht mehr so gut unterhalten." Und Mara dachte: Worüber unterhalten sie sich denn, wenn sie allein sind?
 
"Nehmt es Andreas nicht übel, wenn er so wenig Begeisterung zeigt. Als Vater muss ich ihn ja entschuldigen, wenn er selbst immerzu schweigt. Was übrigens nicht sehr höflich ist ... Seine Neigung geht in eine ganz andere Richtung. Er ist fanatischer Anhänger neuerer Musik. Da kommen wir Übrigen nicht mehr mit. Wir können und wollen es nicht."
 
"Neue Musik, was kann das sein, wenn es nicht Das Phantom der Oper ist?" Frau Lehmann konnte sich nichts Moderneres vorstellen. 
 
"Sagt euch der Begriff Minimal Music etwas?" - Er tat es nicht, und sie deuteten den für sie beschämenden Sachverhalt mit einer leichten Kopfbewegung an. 
 
"Nun, das ist ... Er sollte es selbst erklären, doch ich fürchte, dann ist die Pause vorüber und ihr habt immer noch keinen Begriff davon. John Adams, Philip Glass und Steve Reich, das sind seine Götter. Könnt ihr euch vorstellen, dass er vor Jahren sogar nach Amsterdam flog, bloß um die Oper Nixon in China kennen zu lernen?"
 
"Eine Oper?!" Frau Lehmann schien aus der Fassung gebracht. 
 
"Nun, der Enthusiasmus ist bekanntlich zu allem fähig, besonders wenn man noch so jung ist", sagte Lehmann. "Und dann ist Amsterdam ja auch sonst eine schöne und interessante Stadt."
 
"Du irrst dich auch in meinem Fall" - Andreas öffnete nun doch den Mund und sah seinen Vater an -, "es hat mir überraschend gut gefallen. Es war vollkommen neu für mich. Ich kann es kaum erwarten, dass die Pause zu Ende ist."
 
Sie war noch nicht zu Ende. Es kam Bewegung in die kleinen Gruppen. Man vertrat sich ein wenig die Beine, ging einige Schritte hin und her und gruppierte sich neu. Das förderte die Blutzirkulation, eine Wohltat für die Beine, und nebenbei bekam man weitere Bekannte ins Blickfeld, die man von weitem grüßen konnte. 
 
Mara sah nur wenige bekannte Gesichter. Die eifrigen Theatergänger hatten das Stück schon hinter sich. Es kamen jetzt nur noch Nachzügler in die Vorstellungen. Das Stück wird zwar in der nächsten Saison noch auf dem Spielplan stehen, aber man wird dann nicht mehr darüber reden. 
 
"Ah, guten Abend, guten Abend!" - Der Vikar mit seiner jungen Frau. Er hatte jeden Samstag seine Kolumne im Tageblatt, auf Seite acht oder neun. Mara war erstaunt, ihn hier zu sehen. So leichte Kost, war es nicht zu frivol? Er galt als sozial engagiert und legte Wert darauf, dass man ihn ernst nahm. In seinen Beiträgen brachte er Grünburg die ungelösten Probleme von Hamburg oder Hannover nahe. 
 
Da, der alte Amtsgerichtsrat, jetzt im Ruhestand. Es gelang ihr wieder nicht, von ihm bemerkt zu werden. Sie mochte ihn, doch es beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Er schnitt sie, wo er nur konnte, und kam so gut wie nie zu ihren Abenden. Vielleicht mutmasste er, dass sie in ihm nur die Hauptperson der amüsanten Nachtischaffäre sähe. Er war seit Jahren in einen Rattenschwanz von Prozessen und disziplinarischen Untersuchungen verwickelt. Er stand unter Verdacht, Dokumente unterdrückt und gefälscht zu haben. Die Sache war schon so gut wie erwiesen, als er folgende Version auftischte: Er habe am Ende eines Mittagessens zu Hause schon wieder an seiner Akte gearbeitet, das Dessert sei aufgetragen worden, Grießpudding mit Blaubeersauce. Seine Ehefrau habe den schon seit der Vorsuppe andauernden Streit mit ihm fortgesetzt, sei tätlich geworden und habe ihn schließlich mit der Süßspeise attackiert und auch die Akte nicht geschont. Man wisse doch, welche Wirkung Blaubeersaft habe. Zwangsläufig habe er retuschieren müssen.
 
Rechtsanwalt Lang begrüßte sie jetzt alle, indem er jedem die Hand gab und sich dabei wie immer betont nachlässig verbeugte; darin lag für Mara jedes Mal viel Unverschämtheit.Er arbeitete häufig für die Sparkasse und kam in Lehmanns Gefolge oft in ihr Haus. Rudolf lud ihn jetzt ausdrücklich noch einmal ein, am nächsten Freitag zu kommen. Er wisse doch, der letzte Schubertabend vor der Sommerpause. Dann gehe es erst im Herbst weiter. Lang sagte zu und kehrte zu seiner Gattin zurück, die in einer benachbarten Gruppe ununterbrochen drauflosredete. 
 
Die Pause ging zu Ende. Ein Teil des Publikums strömte schon in den Saal zurück. Sie ließen sich auch vom Sog erfassen und passierten den Engpass zwischen den Säulen. Rudolf ging mit Lehmanns voran, Mara folgte mit Andreas. 
 
Er wollte von ihr wissen, ob die Aufführung hier tatsächlich der berühmten in Hamburg gleichkomme. 
 
Sie hoffe es wenigstens, antwortete Mara. In diesem Augenblick entstand vor ihnen eine Stockung. Jemand kam noch aus dem Saal heraus und zwang das Trio vor ihr zum Auseinandertreten. Sie ließen ihn rechts vorbei. Rudolf ging nun hinter Frau Lehmann. Mara musste kurz stehen bleiben, Andreas trat hinter sie. So bildeten sie vorübergehend eine Art schräger Phalanx. 
 
Mara stutzte: Wer war denn das? Er war Ende zwanzig, untersetzt und trug enge Blue Jeans und eine ärmellose schwarze Lederweste über einem weißen T-Shirt. Das Leibchen schmückte, oberhalb vom deutlichen Bauchansatz, ein aufgedruckter schwarzer Stiefel. Er starrte in Andreas' Richtung. Als er an ihr vorüberging, glaubte Mara eine seelische Druckwelle zu spüren. Eine groteske Erscheinung - nun, vielleicht nicht grotesker als sie selbst und ihre Begleiter, sie wollte ihm nicht Unrecht tun. Es ging so schnell vorbei, etwas hatte sie soeben berührt; es war ihr nicht einmal unangenehm gewesen, doch war es sehr irritierend und entzog sich bereits dem nachvollziehenden Verstehen. 
 
Sie wandte sich nach Andreas um: "Glaubst du denn, du wirst dich im Einzelnen an diesen Abend heute erinnern?" - Andreas zögerte nur ein oder zwei Sekunden mit der Antwort, und währenddessen sah sie, wie er den Fremden mit den Augen festnagelte. Es war ein aufs höchste alarmierter Blick, der ein äußerstes an Zurückweisung enthielt und noch etwas darüber hinaus: Teilnahme vielleicht? Er sagte: "Vielleicht ja, vielleicht nein. Kann man das wissen, solange man noch jung ist?"
 
Rudolf war einen Schritt hinter ihr, als sie zu den Balkonlogen hinaufgingen. Andreas hielt etwas Abstand zu ihnen. 
 
"Mara, welche Steigerung mag uns der letzte Akt noch bringen?" - Der Verleger als Hüter des Wortes: Fast immer sprach er druckreif. Halten wir noch eine Weile an den Formen fest ... Sie drückte seine Hand. 
 
Tatsächlich wurde der dritte Akt eine Enttäuschung für sie. Der Handlungsbogen hatte seinen Höhepunkt schon im zweiten erreicht, mit dem Antrag der Großherzogin und dessen Zurückweisung durch Fritz. Dieses herrliche Duett des Begehrens und des Verzichts: Sagt ihr, dass ich nicht unempfindlich bin ... Sagen will ich es ... Davon mussten sie nun wieder herunter. Das Stück war falsch konstruiert, es war zu realistisch für eine Operette. War ihr das damals in Hamburg nicht aufgefallen? 
 
Wie sagte jetzt Baron Grog:
 
... und so hat man von frühester Jugend an mich gelehrt, 
Eine gewisse Kälte zur Schau zu tragen. 
 
Konnte sie das nicht auch von sich sagen? Baron Grog, ein interessanter Charakter, war längst verheiratet. Fritz durfte Wanda nehmen, die bescheidene Blume am Wegesrand. Er durfte zurück in sein Dorf, es kam ihr wie ein halbes Müssen vor. Und die Großherzogin musste, ja musste nun doch ihren Prinzen Paul heiraten und resignierte:
 
Wenn man nicht haben kann, was man liebt ...
Liebt man, was man hat!
 
Das war ja eine Desillusionsoperette, vielleicht auch nicht schlecht. Nur leider bemühte sich die Musik, diesen Charakter zu überspielen, mit einem bunten Wechsel schönster Offenbachscher Einfälle, und der Regisseur tat alles, die Tendenz zum Positiven zu verstärken. So viele Tanzszenen, so viele Kostüme, Uniformen, Massenauftritte. Gehopse und Trallala. 
 
Lehmanns äußerten sich überschwänglich, als sie zusammen hinuntergingen und an der Garderobe anstanden. "Wunderbar, ein Triumph der leichten Muse in Grünburg", sagte Rudolf. - "Ja, sehr schön, es war sehr schön gewesen." Andreas schwieg wie gewöhnlich, seine Augen strahlten, die Wangen glühten. Er war jetzt sehr schön. Wenn es zutraf, dass er für das eigene Geschlecht empfänglich war, überlegte sie, dann dürfte sich der Abend für ihn gelohnt haben, rein visuell natürlich nur. 

Theaterrestaurant

Im Theaterrestaurant hatte man für sie einen Tisch an der verglasten Rückfront reserviert. Wegen der Wärme waren die großen Fensterflügel gekippt und die Vorhänge nicht zugezogen. Der Blick ging nach Nordwesten über einen Teil des Stadtgartens. Auf die Blumenrabatten fiel etwas Licht aus dem Saal und mischte sich mit der einbrechenden Dämmerung. Hinter der dunklen Baumkulisse erschien in der Ferne der obere Teil des Turmstumpfes von Sankt Jakobus; er war, wie jede Nacht, angestrahlt.
 
"Trinken wir auf das Wohl unseres Mäzens und seiner kleinen Familie", sagte Lehmann und hob das Glas mit dem Sherry-Aperitiv. "Im Ernst, Rudolf, du hast viel Talent zum Privaten.Wünschen wir dir, dass du eines Tages auch genügend Zeit hast, dieses Talent zu pflegen. Erst die Privatloge, dann das Privatleben. Es wird schon werden. Und danke für einen wunderschönen Abend. Zum Wohl!"
 
Sie tranken. Rudolf sah gar nicht mehr froh aus. Er wandte sich an Lehmann: "Was den Punkt Rückzug ins Privatleben angeht, so versichere ich dir, dass ich daran noch lange nicht denke.Wir haben das ja vor einiger Zeit schon abschließend besprochen. Und die Privatloge ist privat nur in einer ausgesprochen ironischen Bedeutung. Wer hält sich denn heute noch eine Loge im Theater oder in der Oper? Mara weiß, wie es sich verhält, Andreas wohl nicht. Für alle will ich es jetzt einmal klarstellen: Diese großtönende Sache mit der Loge ist nichts anderes als modernes Sponsoring. Grünburg hat kein Geld mehr, die Mittel für das Theater wurden empfindlich gekürzt. Da kam unser Intendant auf den bestechenden Einfall mit den Logen. Einige vermögende Bürger - und Steuerzahler! - dürfen nun ein Erkleckliches beisteuern und sich dann Inhaber einer Loge nennen - die sie indessen die meiste Zeit gar nicht nutzen. Wer hat denn auch die Zeit dafür! Im Vertrag mit der Bühne ist festgelegt, dass die Loge, wenn sie frei bleibt, anderweitig vergeben werden kann, spätestens an der Abendkasse. Meine Sekretärin ruft jeden Morgen im Theater an und gibt Bescheid, ob wir sie brauchen oder nicht."
 
"Eine schöne Privatloge", meinte Andreas, "es erinnert an die Patenschaften im Tierheim. Man zahlt das Futter für den Hund und muss ihn auch noch ausführen."
 
Mara wandte ein, dass die Loge auch von den Redakteuren des Feuilletons genutzt werde. Eventuell könne man sie ja steuerlich absetzen. Und nicht selten überließen sie sie Freunden aus der Stadt. 
 
"Tatsache ist", schloss Rudolf die Debatte, dass ich als Inhaber sie nur ein- oder zweimal in der Woche nutze oder an Freunde vergebe. Man sagt mir, dass sie fast keinen Abend leer bleibt. Übrigens ist es mir ja auch recht so, ich beklage mich nicht."
 
Der Ober trat an den Tisch, und sie bestellten das Übliche, wie Filet Mignon, Königinpastete, Nizzasalat. Für Andreas Lammfiletsteak. Den roten und den weißen Tischwein. Nur Mineralwasser für Gerhard. (Lehmanns waren mit dem eigenen Wagen da.)
 
Mara dachte, Rudolf sei heute reizbarer als sonst. Sich derart offen über die Loge auszusprechen, das war sonst nicht seine Art. War es die Wirkung der Musik? Hatte Sparkassen-Lehmann einen wunden Punkt berührt? Gab es da Interna, die ihr verborgen waren? Und der Abend hatte schon mit einer Störung begonnen. Vielleicht wirkte alles zusammen. 
 
Ihr Tisch für fünf Personen stieß mit der Schmalseite an die Glasfront. Am anderen Ende saß Andreas. Die beiden Ehepaare waren längsseitig placiert. Während sie aßen und wieder über die Aufführung sprachen, ging ihr Blick ab und zu hinaus auf den spätabendlichen Garten. Sonnenuntergang war längst vorüber, die lange Dämmerung eines Hochsommertages klang eben aus. Gelbe Gladiolen, gelbe Canna leuchteten noch nach in dem fahlen Schwarzgrau, das sich immer mehr ausbreitete. Der Blick fing sich, je weiter der Abend fortschritt, desto öfter an Sankt Jakobus, dort im Westen. Immer schärfer hob sich die hell beleuchtete Ruine vom Nachthimmel ab. Es war unvermeidlich, dass sie wieder über den Turm sprachen. 
 
"Schon meine Urgroßeltern gingen zur Messe in die Jakobikirche", sagte Rudolf. "In der mütterlichen Linie fanden sich dort Grabsteine aus der Barockzeit." Er ließ gern durchblicken, dass er zum ältesten Patriziat der Stadt gehörte. Die Bürgerschaft war nach Luther an der Spitze katholisch geblieben, in einem rundum evangelisch gewordenen Land. Im Lauf der Zeit hatte sich das Land durchgesetzt. 
 
"Wie ist das möglich", zweifelte Frau Lehmann, "die Kirche ist doch höchstens hundert Jahre alt."
 
"Verzeihung, ich meinte den Vorgängerbau am Eiermarkt; den der Blitz getroffen hat im Jahre 1879. Er stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert und war am Schluss ziemlich marode. Deshalb wollte man ihn nach dem Brand nicht wieder aufbauen. Heute erscheint uns das unverzeihlich - es war die einzige spätgotische Kirche der Stadt. Der Rat überließ der katholischen Gemeinde dann Baugrund am Rand der Weststadt, die damals gerade entstand. Geweiht wurde die Kirche im Jahre 1901. Und erbaut hat sie - Andreas?"
 
" ... Wilhelm Schuster, der sonst fast nur im Rheinland tätig war. Ein Bau im Stil der rheinischen Neoromanik, ein Fremdkörper im Stadtbild ..."
 
"Durchaus nicht, Andreas. Zwar war der Turm etwas zu hoch geraten ... Nur deshalb blieb von ihm so viel übrig, 1943, bei der Zerstörung der Kirche."
 
"Dann ist die Kirche ja schon länger Ruine, als sie tatsächlich genutzt wurde." Frau Lehmann hatte es rasch durchgerechnet. 
 
"So ist es. Unsere Kultusgemeinde bewies nach dem Krieg erneut ihre Neigung zum Nomadisieren. Sie tauschte das Ruinengrundstück gegen eine freie Fläche in der projektierten Waldsiedlung. Dort steht heute unsere Piuskirche."
 
"Ein Geschäft, das die Stadt auf Dauer teuer zu stehen kommt", fand Lehmann. "Die Ruine steht unter Denkmalschutz, und die Sanierung würde jetzt mehr als zehn Millionen kosten, Geld, das die Stadt einfach nicht hat."
 
Mara wandte ein, Baudenkmäler verfielen auch anderswo, und eine Ruine bleibe eine Ruine. Nur dürfe sie nicht zur Gefahr für Autos und Passanten werden. Ließe sich das nicht auch mit viel weniger Geld machen? 
 
"Vielleicht", antwortete ihr Lehmann. "Aber Sankt Jakobus ist nicht nur als Ruine Denkmal, es ist auch Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Dazu offiziell erklärt vor vierzig Jahren durch den Stadtrat. Jedes Jahr im November werden hier die Kränze niedergelegt. Natürlich könnte man das auch anderswo tun. Aber man stelle sich die Proteste vor ... Dahinter steckt noch viel mehr: Sankt Jakobus ist eine Frage der Legitimität, der politischen Legitimität."
 
Das möge er bitte näher erläutern, verlangte Rudolf.
 
"Gern. Wer auch immer heute oder demnächst die Stadt regiert, ja, ich sage, jeder, der hier in Grünburg eine Rolle spielt, tut es vor dem Hintergrund der Vergangenheit. Es scheint paradox: Krieg und Diktatur spielen heute in der Öffentlichkeit eine viel größere Rolle als in den ersten zwanzig Jahren nach diesem Krieg. Das kann man in jeder zweiten Stadtratsdebatte feststellen. Man muss nur mit den alten Sitzungsprotokollen vergleichen. Lachmann hat das neulich einmal getan. Die Nazivergangenheit spielt eine immer größere Rolle, je weiter sie zurückliegt."
 
Wieso eigentlich, es sei immer noch nicht einsehbar, sagte Andreas.
 
"Überspitzt ausgedrückt", fuhr Lehmann fort, "ist es so: Unter Adenauer beruhte die Macht auf Verdrängen, heute auf Erinnern. Damals hätte es viele Machtinhaber gefährdet, sich ernsthaft mit dem erst seit kurzem Vergangenen auseinander zu setzen. Die heutige Elite kann es ohne Gefahr tun, ja, es nutzt ihr, sie war ja damals nicht beteiligt. Mir fällt da etwas ein: Sind Ihnen, Andreas, heute Abend nicht auch die Bettler am Theatereingang aufgefallen? Wenn wir das Elend schon nicht beseitigen können, dann ziehen wir stattdessen historische Parallelen. Wir beweisen unsere Unersetzlichkeit nicht durch Problemlösung, sondern indem wir immer wieder an das erinnern, was vor uns war und was nach uns und an unserer Stelle kommen könnte. Sankt Jakobus als Ruine bedeutet: Denkt daran, es könnte noch schlimmer kommen, wenn wir ersetzt werden."
 
Mara sagte, das leuchte ihr ein, so befremdlich es zunächst erscheine. 
 
"Und mir wirft Papa Zynismus vor", sagte Andreas. 
 
Für Rudolf waren es indessen nur kunstvolle Theorien und Apercus. 
 
Kaffee wurde nur für Mara und Andreas serviert, die Übrigen verzichteten angesichts der späten Stunde. Das Gespräch drehte sich nun um Stadtpolitik. Ende September würde es Kommunalwahlen geben. Wie würde der Rat danach zusammengesetzt sein? Rudolf und Lehmann erörterten diese Frage scheinbar unbeteiligt und ohne sich im Geringsten zu ereifern. Vermutlich würde es nach der Wahl keine absolute Mehrheit mehr geben, darin waren sich beide einig. 
 
Andreas beteiligte sich nicht am Gespräch. Er sah auf den, der jeweils sprach. Mara fiel es auf, dass er seit einiger Zeit vermied, den Blick geradeaus in den nächtlichen Park zu richten. Die Tischplatte vor ihm schien von größerem Interesse zu sein. 
 
Draußen war es nun vollständig dunkel. Aus dem Saal fielen scharf abgegrenzte Lichtrechtecke auf die Anlagen. Mara bemerkte, dass der Park sich allmählich belebte. Einzelne Männer promenierten draußen, und sie gaben sich - genau wie hier drinnen Rudolf und Lehmann bei ihrem Gespräch - den Anschein, das vollkommen interesselos zu tun. Sie tauchten einzeln aus dem Dunkel auf, schlendernd, zeigten ihr Profil und kehrten ins Dunkel zurück. Manche trugen weiße Hosen, die dann im unbeleuchteten Teil des Parks hier und da hell aufschimmerten. Oder sie rauchten und die glimmenden Enden ihrer Zigaretten waren das Einzige, das ihren weiteren Weg im Dunkel markierte. Sie absolvierten offenbar alle denselben Rundkurs, der aus dem bewaldeten Teil des Parks kam und entlang den Blumenrabatten auf einen kleinen Hain zielte. Zwischen den Gladiolen und dem Rittersporn befanden sie sich vorübergehend in einem Lichtkegel, wie auf einer Bühne. Ihr Publikum war - das begriff Mara allmählich - nicht im Restaurant zu suchen, sondern jenseits, im Dunkel. 
 
Auch Frau Lehmann war etwas aufgefallen. Der milde Abend treibe noch viele Menschen in den Park, um Luft zu schöpfen.
 
Ihr Gatte wiederholte: "Ja, Luft schöpfen ... Vom anderen Ufer werden sie sein."
 
Beide lächelten amüsiert und geringschätzig. Sie kehrten dem Fenster von da an halb den Rücken zu. 
 
"Herr Ober", rief Rudolf mit einemmal und unterbrach sich mitten im Satz, "würden Sie bitte die Vorhänge zuziehen. Es könnten Motten angelockt werden. Nein, die Fenster offen lassen, nur die Vorhänge zuziehen, bitte."
 
Andreas zeigte keine Reaktion. Lehmanns brachten sie dann bald nach Hause. Herr Lehmann fuhr den Umweg durch die Gartenstraße, als ob er ihnen den erneuten Anblick von Sankt Jakobus ersparen wolle. Rudolf saß auf dem Beifahrersitz. Im Fond saßen Frau Lehmann, Mara und Andreas dicht nebeneinander. Andreas vermied es, seine Stiefmutter zu berühren, und sie bewunderte ihn: Wie scheinbar absichtslos er das ausführte. 
 
Lehmanns setzten sie vor der Villa in der Weststadt ab. Sie sagten noch einmal für den kommenden Freitag zu und fuhren dann rasch weg. Mara, Rudolf und Andreas blieben nur noch kurze Zeit beisammen und gingen bald auf ihre Zimmer, wie Hotelgäste. Mara sagte, sie wolle noch lesen und dann allein schlafen; sie sei zu unruhig. Dieses Vorrecht genoss sie, seit sie hier lebte, und machte davon regelmäßigen, wenn auch nicht zu häufigen Gebrauch. Das große Haus bot so viel Raum, fürs Alleinsein und für Nähe, wenn sie gesucht wurde. 
 
Sie ging in ihrem Zimmer im ersten Stock auf und ab und begann, sich leichter zu fühlen. Die Stunden seit der Pause waren insgesamt wenig harmonisch verlaufen. Es hatte mit jener Begegnung zwischen den Säulen begonnen, dem Versuch einer Begegnung, musste man wohl sagen. 
 
Da lagen die Bücher, in denen sie seit längerem las. Musils Werke befanden sich nicht mehr darunter, schon lange nicht mehr. Seine Gedanken, seine Schlussfolgerungen erschienen ihr heute weniger zwingend als früher. Vielleicht war es auch damals mehr der Stil gewesen, der sie beeindruckt hatte. Die Form war der Inhalt - wer hatte das geschrieben? Die beste Prosa, fand sie nun, schrieben im Deutschen die wirklich guten Übersetzer. Sie liebte Übertragungen aus dem Italienischen. Nach Italo Svevo und Giorgio Bassani war inzwischen Cesare Pavese an der Reihe. Seit etwa zwei Jahren las sie immer wieder seine Erzählungen und kleinen Romane; sie waren durchtränkt mit Wirklichkeit und Melancholie. Diese Lektüre war wie eine Musik, die anzuhören man nie müde wird. Das gab es nicht oft. Vieles, nicht alles von Schubert. Einiges von Schumann. 
 
Sie überlegte, ob sie jetzt Die einsamen Frauen zum dritten Mal lesen wollte, und entschied sich dann doch für Die Selbstmörder.
 
Diese Selbstmörder waren zwei junge Menschen, die der Erzähler in verschiedenen Abschnitten seines Lebens zu ihrer Tat veranlasst hatte. Jean, Carlotta - der Revolver, das Gas. Er erinnerte sich mit Bitterkeit, Ekel und Selbsthass. Die Erzählung war nicht lang, die Lektüre bald beendet. Sie verfehlte auch diesmal ihre reinigende Wirkung nicht. 
 
Bevor Mara das Licht löschte, überdachte sie den morgigen Tag. Sie würden wie üblich gegen acht Uhr aufstehen. Rudolf wollte am Vormittag mit ihr im Garten arbeiten. Den Rasen schneiden, die Rosen düngen, einige Stauden hochbinden, viel Verblühtes abschneiden. Sie hätte dies auch ohne ihn an einem anderen Tag erledigen können, neben dem Übrigen. Aber da ihm so viel am Garten lag, taten sie es gemeinsam, wenn er Zeit dafür hatte. Mittags wird sie nur für einen Imbiss sorgen. Am Nachmittag wollten sie Unterlagen für die Steuererklärung heraussuchen. Abends würden sie mit Andreas zum Essen aufs Land fahren. Der Tag würde nicht zu viel von ihr fordern, sie konnte jetzt ruhig einschlafen. 
 
Und morgen war morgen und jetzt lagen sieben bis acht Stunden Schlaf vor ihr. Sie genoss ihren Schlaf fast immer, vielleicht mehr als das Leben am Tag. Einschlafen war leicht, es gab da einen Trick. Man musste die Verhältnisse und Proportionen des Tages verändern. Es kam darauf an, aus dem Material des Tages etwas Besseres, Harmonischeres zu formen und an ihm teilzuhaben. Es war kein Begehren, und wenn doch, dann ein äußerst verdünntes Begehren. Sie war sich bewusst, nicht mehr jung zu sein, und für sie selbst gab es daher keine Rolle mehr in der sehr ästhetischen kleinen Szene, die sie sich schuf. Lief es auf einen Wechsel der Identität hinaus? Oh, das wäre, bei schwindendem Bewusstsein, zu viel gesagt. Sie lag im Dunkel und sah aus dem Dunkel auf eine matt beleuchtete Bühne. War es der Fremde aus der Theaterpause? Auch er war voller Sehnsucht nach Güte und Glück. Sie befand sich ihm gegenüber im Dunkeln und war zugleich zu einem Teil er selbst. Neigung, Hinneigung, Anlehnung, nichts weiter. Und neben ihm - Andreas? Nein, das durfte nicht sein! Eine andere Gestalt, ein anderes Gesicht ... Eines aus der Menge der Tänzer in Gerolstein, ein bestimmtes Gesicht, es war männlich und weich zugleich. Wie ein Akkord, süß und herb, verklingend, verklingend ... Und dann schlief sie zweifellos.

Straßenbahnfahrt

Zehn Monate später ...
 
Du kannst die Straßenbahn nehmen, hatte Andreas ihr am Telefon gesagt, die Zehn. Sie müsse an der ersten Haltestelle in Linden aussteigen und dann noch zwei oder drei Blocks, sie werde das kleine Café schon finden. 
 
Es war nicht schwierig. Hannover war ihr von früher bekannt. Sie verließ den Hauptbahnhof und ging zur Haltestelle, es gab oberirdisch nur diese Linie. Maigrün waren jetzt die Bäume vor den kompakten Blocks der Kaufhäuser, lindgrün die eckigen Straßenbahnwagen. Sie stieg in einen, der stadtauswärts fuhr. Die moderne Tram nahm rasch die erste Kurve und durchsauste die Kurt-Schumacher-Straße. Alles war jetzt so einfach, so leicht. 
 
Nur die Sonne, die Wärme konnte sie noch an den vergangenen Juli erinnern. Wollte sie sich erinnern? Eigentlich nicht. Es gab nur einiges mit Andreas zu besprechen, einiges Endgültige. 
 
Dieser fatale Schubertabend damals, der letzte vor der Sommerpause, wurde zum letzten überhaupt, ohne dass sie es geahnt hätten. Rudolf sprach wie üblich einige einleitende Worte, wie ein Conférencier im Varieté, lächerlich und dabei bequem für sie selbst. Andreas war unter einem Vorwand am Morgen vorzeitig nach Hamburg zurückgefahren. 
 
Sie spielte zunächst zwölf Ländler, dann zwei Moments musicaux und nach der Pause zwei Impromptus und dann noch einen Letzten Walzer. Sie erinnerte sich genau an das erste Stück, es begann wie eine ironisch gemeinte Aufforderung zum Tanz und verlor sich folgerichtig bald in einsamem Sinnieren. Die Ironie dürfte ihren Gästen entgangen sein, ihre Erkenntnis war nicht zwangsläufig wie so vieles andere im Leben. Es war eine sehr temperierte Musik, und wenn sie zwischendurch bewegter wurde, war die Abkühlung schon nahe. So führt Wärme zu Wolkenbildung und Niederschlag, und dann wird es kühler. Die weiteren Stücke begannen oft frisch und munter, doch ihre Frische verwandelte sich regelmäßig in Melancholie. War ein Verfallsdatum überschritten worden, vielleicht dasjenige dieser Gesellschaft und Geselligkeit?
 
Und konnte es sein, dass die Moments musicaux mit ihrem ausgeprägten Lyrismus einige Gäste langweilten? Sie hatte sie nicht im Blickfeld, jene gewisse Unruhe äußerte sich untrüglich im Seufzen der Polster, Knarren der Holzteile und so weiter. Füße änderten geräuschvoll ihre Stellung auf dem Parkett. Einige Gäste hörte sie schwer atmen, an einer besonders leisen Stelle glaubte sie sogar das Knacken eines rheumatisch entzündeten Gelenks zu unterscheiden. Ob damals wenigstens ein Zuhörer so genau auf die Musik achtete wie sie auf die Nebengeräusche? Die Kursäle waren erträglicher gewesen, da hatte es nicht diese Nähe gegeben. 
 
Man sprach so gut wie nicht über die Musik, weder in der Pause noch nachher. Lehmanns erkundigten sich, ob der Westring wieder normal befahrbar sei; was Rudolf sogleich bejahte. Die Intervention durch Lachmann (den Mächtigen) habe wie ein Zauber gewirkt, in nur drei Tagen war der Holzverhau, die Abdeckung errichtet worden, gegen den die Steintrümmer nun prallten. Es war fast wie im Gebirge. 
 
Un dann nahm Stefan das Wort, Stefan, ihr eigener Sohn, der ihr nach Grünburg gefolgt war. Sie sah ihn wieder vor sich: sandfarbene Hose, grauer Pullover; er war als Einziger leger gekleidet an diesem Abend. Aber sie konnte er nicht täuschen. Sie wusste, dass er in Wahrheit recht gut zu dieser Honoratiorengesellschaft passte. Es war ein Fall von paradoxer Mimikry. Und was schlug er vor? Eine Bürgerinitiative zu Gunsten der Turmruine, verbunden mit einer Spendenaktion. Wenn das Echo groß sei, wirklich machtvoll, so sagte er, dann komme die Stadt in Zugzwang.
 
Lehmann durchschaute ihn gleich. Er sei doch jetzt Kandidat für die Stadtratswahl, für seine kleine Partei. Auf welchem Platz der Liste er denn stehe? Er glaube wohl, ein zugkräftiges Thema gefunden zu haben. Auch Mara begriff: Sie dachten beide schon an die kommende Rathauskoalition. 
 
Rudolf versprach publizistische Unterstützung. Es ging ja um seinen Turm. Lehmann deutete an, die Sparkasse könnte, statt wie sonst in Kunstausstellungen, als Mäzen auch in den Denkmalschutz investieren. Mit einer wirklich großen Spende sei dann zu rechnen. Das Ehepaar Lang, der Rechtsanwalt und seine Gattin, wollte ebenfalls Mitglied werden. Wer war noch dabei: Braun, der Kulturredakteur, dann dieser immer schweigsame Arzt und noch einige. Später wurden es viel mehr, vor allem Parteifreunde von Stefan. Der Vikar stieß erst am Schluss dazu. 
 
Nur eine Frage konnten sie an diesem Abend nicht klären: Wer solte die Sache nach außen vertreten? Sie hatten entweder zu wenig Zeit oder fühlten sich sonst nicht dazu berufen oder glaubten der Sache mehr zu nutzen, wenn sie sich im zweiten Glied hielten. Der Verleger an der Spitze? Unmöglich bei seiner Position in der Stadt. Lehmann sah es für sich ebenso. Stefan wollte überall dabei sein, nur durfte er nicht als das erscheinen, was er war: Initiator und mutmaßlicher Nutznießer. Parteifreunde wollte er im Vorstand nicht sehen, sie würden sich dort profilieren können. Sie drückten sich alle weniger eindeutig aus, Mara verstand sie trotzdem richtig. 
 
Lehmann sagte, er habe eine Idee. Er müsse erst vorfühlen und könne daher noch keinen Namen nennen. So gingen sie für diesen Abend auseinander. 
 
Eine Brücke über den Fluss, die Leine, und die Gegend wurde rasch vorstädtisch, ohne Übergang. Türkische Schneidereien, Imbisslokale, Obst- und Gemüseläden, spanische und andere Restaurants. Essen schien doch die Hauptsache auf der Welt zu sein. 
 
Damals trafen sie sich nach einigen Tagen im kleinen Kreis wieder, um Milan kennen zu lernen. Lehmann brachte ihn an jenem Abend mit ins Mandarin, das war das beste China-Restaurant von Grünburg. Der Kreis war tatsächlich sehr klein, selbst Frau Lehmann fehlte. Immerhin fehlte nichts, was in der Stadt im Großen wirkte: nicht das Geld (Sparkassen-Lehmann), nicht die Presse (Rudolf mit ihr als bloßer Beobachterin), nicht die Politik, und zwar die kommende (Stefan). 
 
Und dazu nun Milan, der alle unmittelbar nach der Begrüßung damit verblüffte, dass er nach den Triaden fragte:ob die hier auch mitkassierten. Er war Exil-Tscheche und sprach Deutsch mt einem starken holländischen Akzent, beinahe wie Lou van Burg zu seiner Zeit. Sie erfuhren, er habe lange in Amsterdam gelebt. Jetzt wohne er noch in Hannover und sei dort Kaufmann, indessen dabei, nach Grünburg umzuziehen, aus sehr persönlichen Gründen. Er lächelte gewinnend, es wirkte ungekünstelt. Obwohl er auf die vierzig zuging, war sein Charme nicht älter als fünfundzwanzig. Er war der ein wenig in die Jahre gekommene Bub. Der teure dunkle Anzug saß etwas zu knapp. Ein Filou, unverkennbar, war Maras erster Eindruck, und er überspielt alles, was an ihm fragwürdig ist, mit dieser starken erotischen Ausstrahlung. Das hatte etwas von bäurischen Tanzweisen à la Dvorak oder Janacek. Gemütvoll, angenehm, nicht überschäumend, jedoch kraftvoll und so glaubwürdig, falls man ihn auf ein Podium stellen würde. Und hierfür würden Lehmann, Rudolf und Stefan sorgen. 
 
Dass Rudolf mit seiner lästigen, stets latent vorhandenen Homophobie diesem männlichen Bubencharme sofort erlag, dass er den Schwindel viel zu spät durchschaute - wie war das möglich? Hatte sie bei ihm mehr Intelligenz und Intuition vorausgesetzt, als er tatsächlich besaß? Milan stellte Sankt Jakobus in eine Reihe mit Nieuwe Kerk und Oude Kerk, mit Stefansdom und Veitsdom und Kölner Dom. Wie er die Architektur liebe, die wirklich gute, die Türme seien die Ausrufungszeichen im Antlitz der alten Städte. Und so weiter mit diesem Kokolores. 
 
Man beschloss an diesem Abend, zunächst eine Ladenwohnung für Milan anzumieten, die das Büro der Bürgerinitiative darstellen würde. Stefan würde innerhalb von drei Tagen den Gründungsaufruf verfassen und von möglichst vielen Interessierten unterschreiben lassen. Das Tageblatt würde dann sofort darüber berichten, in angemessen großer Aufmachung. Die Sparkasse würde eine leicht merkbare Nummer für ein Spendenkonto vergeben. Wenn die Sache genügend populär sein würde, würde man ein Straßenfest organisieren, und zwar unbedingt noch vor den Herbstwahlen. Rettet Sankt Jakobus war die Devise, unter der alles mitlief. 
 
Und genauso kam es dann, als wäre es zwangsläufig so. Der Rummel war plötzlich da, erschreckend und riesengroß wie dieser Hochhausblock und das Kraftwerk, die die Ihmebrücke jenseits flankierten. Mein Gott, wohin hatte Andreas sie fahren lassen, das war ja eine grauenhafte Gegend. 
 
An einem Nachmittag im August kam Milan zu ihnen, um mit Rudolf über das Straßenfest zu reden. Das Tageblatt sollte einen eigenen Stand haben und eine Sondernummer verteilen. Der Verleger könnte eine kleine Rede halten. Sie besprachen das im Garten. Zufällig war Andreas bei ihnen. Er war nur für ein paar Stunden da, er war nicht allein gekommen und stellte ihnen Matthias als einen Kommilitonen vor. Rudolf verhielt sich kühl und verbarg seine Abneigung kaum. Mara erkannte in Matthias den jungen Mann aus der Theaterpause wieder, der sich Andreas vergeblich zu nähern versucht hatte. Sie allein war zwischen den Säulen Zeugin der Zurückweisung geworden. Andreas musste es bemerkt haben, er wusste es vielleicht noch. Er und sein Kommilitone brachen unter einem Vorwand bald auf, ohne das Haus tatsächlich zu verlassen. Und dann kam es zu dieser schockierenden Szene in der Bibliothek. Sie hatte es mit angesehen, und sie wusste nicht, ob ihre Gegenwart bemerkt worden war. Darüber wollte sie nachher nicht mit ihm reden, es hatte nichts mit ihnen beiden zu tun. 
 
Während Rudolf in der Broschüre blätterte, die sie ihm aus der Bibliothek geholt hatte, fragte Milan nach ihrem russischen Vornamen: Wie sie dazu gekommen sei? Sie sagte, ihre Vorfahren seien Baltendeutsche gewesen, ihre Mutter noch in Riga geboren. Auch Russen darunter? wollte er wissen. Womöglich, lachte sie, und er sei Tscheche und ihm sehe man den Slawen an. - Ja, sagte er, die breiten Backenknochen. Er grinste und schien sich doch nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Er spreche nur noch schlecht Tschechisch, er sei jetzt ein Mix aus allem Möglichen. Aber sie, Mara, sehe irgendwie italienisch aus, so zierlich und schwarzhaarig. Sie hätte nicht von seinem Gesicht anfangen sollen. 
 
An der nächsten Haltestelle, es war schon hinter Kraftwerk und Hochhausblock, musste sie aussteigen. Sie hätte die Station beinahe verpasst. Eine Hochstraße überspannte einen weiten Platz, und dahinter begann eine andere Welt: geschlossene Zeilen billiger Miethäuser mit Gründerzeitfassaden und viele kleine Läden, als gäbe es die Innenstadt nicht. Sie ging die Straße entlang. 
 
Beim Straßenfest - es fand drei Wochen vor der Wahl in einer Seitenstraße des Westrings statt - ließ sich Lehmann nicht sehen. Sie hatte ihn dort auch nicht erwartet. Allerdings erschien seine Gattin, und das erstaunte sie. Die Inhaberin von SENORA - Die Ausstatterin für die stärkere Figur saß auf einem elegant hergerichteten Holzpodest und verkaufte Lose für eine Lotterie. Im Übrigen erinnerte sich Mara heute fast nur noch an Rudolfs Rede. Sie verblüffte damals alle. Rudolf kündigte schon nach zwei oder drei Minuten öffentlich an, sein Haus bestellen zu wollen - ohne eine altertümliche Phrase kam er nun einmal nicht aus. Er wolle sein Verlagsunternehmen in eine Stiftung zu Gunsten der Turmruine verwandeln. Natürlich müssten zugleich die Ansprüche seiner Angehörigen angemessen berücksichtigt werden. Das Tageblatt und Sankt Jakobus, sie sollten für alle Zeit verbunden bleiben, wie Grünburg und die es umgebende Börde. 
 
Rudolf hatte vorher nichts mit ihr besprochen, er kam abends nicht auf seine Rede zurück, auch nicht am nächsten Tag. Und sie selbst wollte nicht damit beginnen. Sie wartete ab, es musste doch einmal zur Sprache kommen. Dafür rief Lehmann sie tagsüber an, während Rudolf im Verlag war. Er bat sie, zu ihm in die Sparkasse zu kommen, in ihrem eigenen Interesse, am besten noch am gleichen Tag. Und sie möge Rudolf vorher nichts davon sagen. 
 
Sie ließ noch zwei Tage verstreichen, und dann fuhr sie zu Lehmann. Er empfing sie in seinem Büro über der Schalterhalle. Er war allein. Aus den Nachbarräumen drang kein Laut zu ihnen, niemand schien jetzt dort zu arbeiten. 
 
Lehmann wollte sie gegen das Stiftungsprojekt einnehmen. Es könne nicht in ihrem Interesse sein, auch nicht in dem von Andreas. Sie sagte ihm, sie vertraue Rudolf und überlasse ihm alles, und für Andreas könne sie nicht sprechen. Es sei allein Rudolfs Sache. - Das sei es nicht, sagte Lehmann. Sein Unternehmen sei verschuldet, noch nicht bedrohlich, aber eine Umschuldung sei demnächst zwingend. Erst jetzt erfuhr Mara, dass schon seit Jahren die Übernahme durch den Express, das Konkurrenzblatt aus der Nachbarschaft, im Gespräch war. Der Express-Verlag würde kaufen, und nach Abtrag der Verbindlichkeiten bliebe ihnen ein schönes Vermögen. Diese Lösung allein sei vernünftig, nichts sonst. Ob nicht auch sie einmal in diesem Sinn mit Rudolf sprechen wolle? Sie lehnte ab und ging rasch weg. 
 
Wo war denn nun das kleine Café? Sie musste einen Passanten fragen. Sie war schon zu weit gegangen und  musste umkehren. Die Straße war ihr fast schon vertraut. 
 
Am Wahltag kam dann das Ende. Am Samstag hatte sie mit Rudolf lange draußen gearbeitet, vor allem die Sommerstauden zurückgeschnitten. Noch ein paar Wochen länger und sie hätten den Garten für den Winter zurechtgemacht, die Rosen eingepackt. Rudolf, der kein Langschläfer war, holte am Sonntagmorgen im Bett neben ihr die Lektüre der Zeitungen nach. Erst das Tageblatt, dann den Express. Im Konkurrenzblatt fand er einen Leserbrief mit Andeutungen, er enthielt die Ankündigung von Enthüllungen. Es ging um Grünburger Interna. Nicht jeder musste alles verstehen. Rudolf verstand das meiste.Er wählte Lehmanns Nummer. Sie lagen noch immer im Bett. 
 
Sie wurde Zeugin dieses gräßlichen Telefonats, in dem er den lieben Gerhard schließlich einen eiskalten Lügner nannte, dann nur noch zuhörte und endlich auflegte. 
 
Er sagte ihr dann (auffallend ruhig jetzt), die Sparkasse habe die Seite gewechselt. Seine Hausbank, sie habe sich mit dem Express zusammengetan, um die Übernahme zu erreichen. Und sie hätten jetzt leider einiges Material in der Hand. Man könne ihm zum Beispiel vorhalten, dass hinter Rettet Sankt Jakobus sein Stiefsohn stecke, der dank dem Rummel um die Ruine heute sicher gut abschneiden werde. Für ihn habe er also Wahlkampf betrieben unter dem Vorwand, den Turm zu sanieren. So würden sie es in ihrer Kampagne darstellen. 
 
Und dann Milan ... Milan? Ja, er war ein so gut wie bankrotter Bauunternehmer, wusste sie das nicht, nein? Er habe es auch nicht gewusst. Man wird sagen, Sankt Jakobus sei der Strohhalm gewesen, nach dem er gegriffen habe. Er sei in Wahrheit gekommen, um sich von Stefan den Auftrag zuschanzen zu lassen. Und vielleicht werde Sankt Jakobus tatsächlich seinen Beistand gewähren und er den Auftrag bekommen, wenn der Skandal vermieden und alles vertuscht würde. Er wette, dass Lehmanns Sparkasse auch Milans Hausbank sei. Ein doppeltes Spiel, das Lehmann mit ihm getrieben habe. 
 
Und dann wolle er nur noch eines von ihr wissen: Treffe es zu, dass sie ein Verhältnis zu Milan habe?
 
Nein, sagte sie, wer das behauptet habe?
 
Lehmann - und der wisse es von Milan selbst. 
 
Sie habe nur ein Wochenende mit ihm verbracht. Kein Verhältnis, bestimmt nicht. Nur das Wochenende, an dem Rudolf auf dem Verlegerkongress gewesen sei. 
 
Das genüge schon, sie würden auch das verwenden. Milan, das Schwein, werde alles bezeugen. Sie hätten alle zusammen eine Schweinerei angerichtet, eine Wirtschafts- und Politintrige. Nun sei er am Ende, fertig. Er gebe auf. Wozu noch, wenn er keine Stütze mehr habe, nicht einmal im eigenen Haus. Mitten im Dreck könne man nicht leben und arbeiten und sauber bleiben. 
 
Sie sagte zu alledem nichts mehr. Es war das Ende einer Firma und das Ende einer Ehe. Wie viel hatte er vorher schon geahnt, vielleicht sogar gewusst? All das traf ihn nicht vollkommen unvorbereitet, so kam es ihr vor. Die geplante Stiftung erschien ihr nun in einem anderen Licht. Sie wird nie Gewissheit erhalten. 
 
Und da war das Café, nur ein kleines Schaufenster und eine schmale Tür breit. Sie ging hinein. 

Kleines Café

Drinnen war es verräuchert und  die Tapeten waren vergilbt. Dafür war das Kuchenbüffet reichhaltig und ansprechend. Soweit sie sehen konnte, waren die meisten Tische von Kleinbürgern des Viertels besetzt. Man rauchte viel und unterhielt sich gut. Einige tranken Bier.
 
Sie fand Andreas ganz hinten, am letzten Tisch, allein. Daneben war der Durchgang zur Toilette. Er trug schwarze Jeans und einen schwarzen Nicki. Wie gut ihm wieder Schwarz stand. Sie hatten sich seit ihrer Trennung von Rudolf und der Auflösung des Haushalts nicht mehr gesehen. 
 
"Was für ein Ort für ein Wiedersehen, Andreas."
 
Sie müsse es verstehen. Er sei bei einem Freund in der Nähe zu Besuch - und der werde ihn nachher auch abholen. "Und du, warum ausgerechnet Kassel? Kommst du jetzt direkt aus Kassel?"
 
Sie bejahte. Kassel liege gut, sehr zentral. Sie werde nämlich vom Herbst an wieder auf Tournee gehen. Wie es Sonja gehe? Und Matthias?
 
"Wir, Sonja und ich, wir sehen uns manchmal. Sie wohnt jetzt in Berlin." Und was Matthias angehe, so habe er, Andreas, sich viel Mühe gegeben, ihn leiden zu lassen. "Aber weißt du, ich bin doch kein Sadist. Wir sehen uns nicht mehr."
 
Er fragte, ob sie Neues aus Grünburg wisse, wie es Stefan gehe. Sie sagte ihm, dass er die Fraktion schon im März verlassen habe. Die Koalition habe jetzt keine Mehrheit mehr. Niemand wisse, wie es weitergehen solle. Mit der Sanierung von Sankt Jakobus habe man noch nicht begonnen, kein Gerüst, kein Auftrag, nicht einmal ein Beschluss. Vielleicht werde noch ein Gutachten eingeholt. - Und Milan? - Habe nun doch zum Konkursrichter gehen müssen. 
 
Es war Andreas schon bekannt, dass das Verlagshaus nach dem Verkauf jetzt entkernt werde. Man baue eine Passage hinein, noch ein Einkaufszentrum. Dahinter stecke natürlich die Sparkasse. Der Investor sei nur ein Strohmann. 
 
Sie haspelten all das lustlos herunter. Es ist ihm ebenso gleichgültig wie mir, dachte Mara. Warum hat er mich treffen wollen? Immerhin, es ist schön, ihn wieder einmal zu sehen, ihn noch einmal zu sehen. Wir könnten jetzt einfach eine Zeitlang schweigen; gar nichts sagen, uns nur ansehen. Dann würden wir verlegen werden, den Blick abwenden. Und es würde immer noch angenehm sein. War es nicht immer so gewesen? 
 
Ja, sagte er auf ihre Frage hin, er sei einmal in Neuenahr gewesen, vor sechs Wochen und nur für einige Stunden. 
 
Wie es Rudolf nun gehe, wie seine Stimmung sei?
 
Statt ihre Frage zu beantworten, beschrieb Andreas ihr die neue Wohnung seines Vaters, eine Terrassenwohnung oberhalb der Stadt. "Du kennst dich im Ahrtal ein wenig aus", sagte er, "die flachen Hügel über der Stadt, nur Wein und sonst nichts ..." Der Boden müsse dort sehr kostbar sein, man habe für die Anlage nur eine kleine Bodensenke geopfert. Dort hinein kauere sich das Gebäude, es fülle sie weitgehend aus. Eine Art edle Müllkippe ... Aussicht sei kaum vorhanden, ein Streifen Gehölz verdecke sie zum größten Teil, und die Büsche stünden unter Naturschutz. Er beschrieb ihr mit den Händen, wie sich das Haus in die Mulde ducke, die auch noch quer zum Hang verlaufe, und die Öffnung grün versiegelt. "Ja, wenn man im Biotop wohnen will, muss man sich klein machen. Und dafür hat er sechshunderttausend bezahlt."
 
"Er hat die Mittel dazu."
 
"Und du nimmst nicht einmal Unterhalt von ihm."
 
Sie erwiderte nichts, und das Gespräch stockte für eine Weile. Da begann er ihr die Legitimität seiner Ansprüche - sie waren beträchtlich - nachzuweisen oder es auf seine Art zu versuchen. Er sei ohne sein Zutun, ganz klein noch, adoptiert worden. Damit seien ihm nicht nur Möglichkeiten eröffnet worden - zugegeben: recht ansehnliche, und er habe sie bisher zu nutzen gewusst -, es seien ihm zugleich unendlich viele Lebenswege verschlossen worden. Dafür stehe ihm ein Ausgleich zu. Und womit könne Rudolf zahlen: nur mit Geld. Geld oder Liebe - er sei nicht geliebt worden, sie wisse es. Seine Beweisführung begann abstrus und gelangte doch zu einem überzeugenden Schluss. Hier hätte etwas vom Kopf auf die Füße gestellt werden müssen, so empfand sie es, nur war es dafür längst zu spät. 
 
Wie gerufen erschien jetzt der Freund in der Eingangstür. Sie winkten sich von weitem zu, und der andere kam nicht an ihren Tisch. Er lehnte dann mit der Hüfte an der Theke. Ließ sich einen Kaffee bringen und war in ein Magazin vertieft. Sie hatten ihn im Profil vor sich. 
 
Zu viel Schwarz. Er trug ebenfalls einen schwarzen Nicki und dazu schwarze Lederjeans, nicht einmal besonders eng geschnitten. Dennoch wirkte das Beinkleid wie seine natürliche Haut. Das kam von seiner unendlichen Lässigkeit. Sehr introvertiertes wollüstiges Räkeln. Sanftes und finsteres Gesicht. Sie war doch keine Frau, die von sich sagen musste: Ich verabscheue Homosexuelle. Aber dieser Anblick widerstrebte ihr. 
 
Andreas ging für zwei Minuten hinüber. Mara aß von der Torte, die inzwischen gebracht und noch nicht angerührt worden war. 
 
Andreas kam zurück. Der andere sei sehr zurückhaltend, beinahe schüchtern. O nein, sie wäre ihm fast über den Mund gefahren, das ist er nicht. Jedoch blieb sie stumm. Sie wollte ihm jetzt sehr gern sagen, sie sei damals in der Bibliothek ungewollt Zeugin geworden. Sie behielt es für sich, nur vergessen wird sie den Anblick nicht. Sie erkannte sich selbst: Sie war hierher gekommen, um diesen Eindruck auslöschen zu lassen. Es konnte nicht gelingen. 
 
Worüber konnten sie überhaupt noch reden? Worin hatte sein Interesse an diesem Wiedersehen bestanden? Sie begann klarer zu sehen: Ihr sollte etwas demonstriert werden. Quod erat demonstrandum. Ist geschehen. 
 
Der andere da drüben legte das Magazin fort und lehnte nun den Rücken gegen den Tresen. Er schob den Unterleib vor, senkte den Blick; hielt ihn zumeist auf die Silhouette da unten gerichtet, ein gleichschenkliges Dreieck, dessen Spitze nach oben zeigte. Es war empörend. 
 
Sie wahrten die Form. versprachen einander, in Kontakt zu bleiben; was man so sagt. Innerlich zog Mara ihr Fazit: Sie wollte ihn nicht hassen. Sie hasste nicht gern. Unvorstellbar, dass es Menschen gibt, die gern hassen. Er war ihr einmal sympathisch gewesen, nicht gleichgültig wie Rudolf, der es geblieben war. Milan hatte sie sinnlich angezogen, damals ein Ausweg und doch nur eine Sackgasse. Endete alles in Selbsthass?
 
Andreas und sein Freund gingen fort. Sie wirkten unschuldig und schamlos wie die Tiere. 
 
Mara blieb zurück. Sie fragte sich: Worauf warte ich noch?
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Über den Autor

Abendschoen
Geboren und aufgewachsen in Süddeutschland. Lange in Berlin und Hamburg gelebt, später in der Lüneburger Heide. Neuerdings wieder in Berlin. Autor von bisher drei Romanen, von Erzählungen und von Kurzprosa. Eine Buchveröffentlichung: Alle Männer sind Brüder, Roman (BoD Norderstedt 2007). Weitere Werke als eBooks unter www.bookrix.de/-arno.abendschoen gratis lesen und herunterladen!

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