Kurzgeschichte
Die Hydra - Beitrag zur 4. Autorenchallenge

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"Die Hydra - Beitrag zur 4. Autorenchallenge"
Veröffentlicht am 03. Februar 2016, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: olly - Fotolia.com
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Über den Autor:

Hauptberuf: Mama. Hobbies: Schriftstellerei, Rendering, Rollenspiele, Lesen, Rätseln, Brettspiele... viel zu viel für nur 24 Stunden, besonders, wenn noch ein kleines Wunder im Haus ist.
Die Hydra - Beitrag zur 4. Autorenchallenge

Die Hydra - Beitrag zur 4. Autorenchallenge

die Hydra


Merkwürdige Gestalten wie aus Gummi kamen auf mich zu, sobald ich mich bewegte. Meine Augen brannten von dem Bemühen, nicht zu zwinkern. Seit ich durch die Saaltür gekommen war, bewegten sie sich überall im Zwielicht der Dämmerung, das durch die schmalen Fensterschlitze oben unter der Decke fiel. Staub tanzte umher, aufgewirbelt von meinen Schritten, und brachte noch mehr glitzernde Bewegung in den Raum. Er kitzelte in meiner Nase, meinem Rachen. Heldenhaft versuchte ich, den Hustenreiz zu unterdrücken, doch ich unterlag. Der Hustenkrampf schüttelte mich, bis ich auf

alle Viere hinunterging. Dort war noch mehr Staub, und ich musste auch noch niesen. Man kann dabei die Augen nicht geöffnet halten. Als ich das Kribbeln in der Nase spürte, verlor ich die Hoffnung. Nun würden sie mich holen. Das Niesen fühlte sich an, als dauere es Jahre. Nichts geschah. Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich die weiße Gestalt neben der Säule. Im ersten Moment dachte ich, sie sei einer der Geister, doch dann bewegte sie sich anders als die anderen. Sie war nicht aus Gummi. Sie winkte. Winkte mich heran. Wie betäubt kroch ich näher. Hinter mir blieben nur meine Spuren im Moder der Jahrhunderte.


Als ich bei ihr ankam, war ich über und über grau. Ich war durch einige Spinnweben gekrochen, in denen sich dann wiederum Staub verfangen hatte, und sie hingen an mir wie die Fetzen von Cinderellas Ballkleid. Meine Finger fühlten den staubigen Marmorboden, tasteten sich hinauf zu der Gestalt. Kälte kroch mir entgegen, die Kälte von Glas. Ich erschrak, als ich sah, dass ich eine der Gummigestalten berührte, doch dann brach ich in hysterisches Lachen aus. Spiegel! Zerrspiegel! Ich hatte mich selbst gesehen, hundertfach gebrochen und verzerrt in den fast blinden Spiegeln des Saales. Mein Lachen klang schrill in meinen Ohren, ängstigte mich, und ich verstummte.

Wenn all das nur ich war – wer war die Weiße Gestalt? Und warum spiegelte sie sich nicht? Plötzlich traf mich ein Lichtstrahl und eine weiße Hand streckte sich mir entgegen, um mir aufzuhelfen. Geblendet ergriff ich sie, ließ mich hochziehen, und stand dann vor der schlanken Frau, die, durchscheinend und ätherisch, mir wieder winkte, zu ihr zu kommen. Verwirrt trat ich durch den Spiegel, ohne nachzudenken. Hinter dem Spiegel war es hell. Ich sah einen Maskenball, der mich stark an einen meiner Lieblingsfilme aus meiner Kindheit erinnerte. Mir fiel nur der Name nicht ein – ich wusste nur noch, dass ein Mädchen ihren kleinen

Bruder aus den Fängen eines Kobolds retten musste. Vorsichtig sah ich an mir herab. Spinnwebenbedeckte Jeans und verstaubtes T-Shirt passten nicht hierher. Doch ich entdeckte nur Samt und Seide. Aus den Fetzen von Cinderellas Kleid war ein Gewand geworden, wie es sowohl dem Ball als auch mir angemessen war. Als ich mit meiner Selbstbetrachtung fertig war, setzte die Musik wieder ein. Die Weiße Frau zog mich nach vorn, mit auf die Tanzfläche, und wie von selbst wiegten wir uns im Takt der Musik mit Schritten, die ich vorher nicht kannte. Fasziniert starrte ich die Weiße Frau an. Sie war schlank, dass es an das Unmögliche grenzte, und fast durchscheinend. Tatsächlich

hatte ich das Gefühl, ich müsste nur noch etwas genauer hinsehen, damit ich durch das fließende Milchglas schauen könnte. Ihre Bewegungen waren anmutig und grazil, und ihr silberweißes Haar wehte umher wie die Samen von Pusteblumen, bildete fast schon eine Wolke um ihren Kopf. Am erstaunlichsten jedoch waren die Augen: je nach Lichteinfall mal mitternachtsblau und mal dunkelviolett, gesprenkelt mit kleinen, glitzernden Silbersternen, sogen sie mich ein, bis ich fast in die von Galaxien durchsetzte Pupille stürzte. Ich schrak aus meiner Betrachtung auf, als wir eines der anderen Tanzpaare anstießen, und wollte mich entschuldigen. Mir wurde übel, als ich sah, wie das Paar tanzte.


Die Bewegungen waren wie aus Gummi. Lange, dürre, schlenkernde und kleine, dicke, wabernde Gestalten wiegten sich um mich her zu der äolischen Musik, sahen mich an durch ihre Masken, die mal dies, mal jenes Fabeltier zeigten. Plötzlich verstummte die Musik und dreizehn Glockenschläge erklangen. Die Weiße Frau war auf einmal fort, und stattdessen stieß eine Hydra auf mich zu und griff nach meinem Gesicht. Erschrocken wich ich zurück, doch da hatte sie es schon gegriffen und hielt es in der Hand. Bestürzt sah ich, was nun im Raum vor sich ging: überall rissen sich die Leute gegenseitig die Masken vom Kopf. Und hinter jeder davon kam mein Gesicht zum Vorschein,

verzerrt und fremd und doch vertraut. Die Hydra stand fordernd vor mir und reckte mir ihr Gesicht entgegen. Ich wollte weiter zurückweichen, stieß jedoch gegen noch mehr der Gestalten, die mich wieder zur Hydra zurück drängten. Widerstrebend fügte ich mich und griff langsam nach der Maske. Wieder kam mein Gesicht darunter hervor, und nun musste ich mit ansehen, wie jeder die Maske aufsetzte, die er zuvor dem Anderen entrissen hatte. Entsetzt blickte ich in mein eigenes Gesicht, dann auf die Maske in meiner Hand, die mir wider meinen Willen entgegenkam. Voll Abscheu zwang ich mich, die Maske fallenzulassen, wandte mich um und rannte auf die nächste Wand zu. Ich stoppte nicht. Ich hob nur die Arme vor mein

Gesicht.

Splitter rieselten auf meinen Rücken. Noch hörte ich meinen Schrei gellen, mit dem ich durch die Wand gesprungen war, dann brachte mich der Schmerz in die Realität zurück. Ich kniete in dem verlassenen Ballsaal, die Arme vor meinem Gesicht, und überall um mich herum lagen die Scherben eines der Spiegel. In einer sah ich das Gesicht der Weißen Frau. Ich wusste die Worte mehr, als dass ich sie hörte. „Selbst du selbst nimmst dich nicht wahr, wie du bist, sondern immer verzerrt durch Erinnerung und Wunsch. Wie sollen andere dein wahres Ich erkennen?“


Ich nahm die Scherbe in die Hand, doch ihr Gesicht war fort. Mein Blut lief über die Kanten, der erneute Schmerz weckte mich nun vollends. Seitdem verlange ich von andern nicht mehr, dass sie mich erkennen sollen. Sie sehen mein Spiegelbild genauso verzerrt wie ich. Ich bin nur schon froh, wenn sie nicht versuchen, mir meine Maske herunterzureißen.


- zu Bild 3: Hinter Säulen -

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Lessa
Hauptberuf: Mama. Hobbies: Schriftstellerei, Rendering, Rollenspiele, Lesen, Rätseln, Brettspiele... viel zu viel für nur 24 Stunden, besonders, wenn noch ein kleines Wunder im Haus ist.

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abschuetze So ... und nun kommt mein Kommentar. Habe extra lange gewartet, damit ich nicht so viel "meckern" muss. Lass die anderen das mal machen, dachte ich :)) Also ich fand deine Geschichte einfach den Hammer. Ein irre Umsetzung des Bildes, toller Schreibstil ... ein rundum gelungenes Werk.

LG von Antje

PS: "Labyrinth" mit David Bowie ... schmacht ... ein so toller Film :))
Vor langer Zeit - Antworten
Lessa Vielen Dank, liebe Antje, auch für den Fav!
Ich habe lange gerungen, welches der Bilder ich nehme, und tatsächlich hat sich das dritte Bild mir nicht geöffnet, bis ich es auf einem der Buchumschläge in einer etwas anderen Auflösung sah. Zuerst wollte ich das zweite Bild nehmen, doch die Geschichte, die sich dazu in mir gebildet hätte, wollte ich nicht schreiben. Nicht als junge Mutter. Deshalb bin ich sehr froh, dass mein verqueres Hirn die Verbindung zu Labyrinth gezogen hat (oja, ich liebe den Film auch! RIP David).
Vor langer Zeit - Antworten
Kornblume Hallo Lessa,
Deine mystisch spirituelle Geschichte fällt meiner Ansicht nach etwas aus dem Rahmen. Die Protagonistin auf Frettschens Bild Nr.3 überschreitet tanzend Grenzen/Rahmen und du als Autorin gibst literarsich dem Betrachter eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem "Weshalb".
Hinter vorgehaltenen Spiegeln entwirrrst du das Lügengeflecht ihres bisherigen Lebens, reißt ihr rücksichtslos die Maske vom Gesicht. Doch sie ist schwach und fügt sich willenlos, durch das Aufsetzen einer neuen Maske, all dem unter was man ihr vorgibt. Sie unternimmt nicht den geringsten Versuch etwas daran zu ändern.Schwimmt ,wie so viele von uns,in der Masse mit. Das ist bequem, doch tägliches Lügenlächeln stumpft allmählich ab.
Die weiße Frau in Deiner Geschichte zeigt die Möglichkeit auf dies zu ändern.
Zitat
„Selbst du selbst nimmst dich nicht wahr, wie du bist, sondern immer verzerrt durch Erinnerung und Wunsch. Wie sollen andere dein wahres Ich erkennen?“

Ob der Rat befolgt wird bleibt jedem selbst überlassen und deshalb offen.

Ein wirklich gelungener literarischer Schachzug von Dir. Du hast die heutige Zeit und die Stellung und den Zwiespalt des einzelnen Individums sehr gut beschrieben.

Das 1.Kapitel weist nicht nur kleine sprachliche Schwächen auf z.B.(bis ich auf alle Vieren hinunter)sondern ist meiner Ansicht nach generell noch nicht richtig ausformuliert.Hier würde ich nochmal etwas nachbessern.
Ansonsten hat es mir Spaß gemacht Deine Geschichte zum Bild zu lesen.
Danke, sagt die Kornblume
Vor langer Zeit - Antworten
Lessa Hallo Kornblume,
danke für deinen ausführlichen Kommentar!
Ich fürchte, du hast dich etwas verlesen, denn der / die Protagonist/in (ich habe nicht entschieden, ob männlich oder weiblich; die Stelle mit "Cinderellas Ballkleid" sollte mehr die Fetzen betonen. Aber ich gebe zu, es legt eine Protagonistin näher als einen Protagonisten.) setzt die Hydramaske nicht auf. Das handelnde Ich hat sich die Maske herunterreißen lassen, weil es alles zu schnell ging, und sich dazu zwingen lassen, die Hydramaske zu ergreifen. Doch es setzt sie nicht auf! Zitat:
"Voll Abscheu zwang ich mich, die Maske fallenzulassen, wandte mich um und rannte auf die nächste Wand zu." Mit anderen Worten, das handelnde Ich fügt sich beileibe nicht allem, sondern bricht aktiv aus dem Spiegel aus.

In dieser Geschichte geht es darum, aufzuzeigen, dass man sich selbst auch nie richtig erkennt. Erinnerung ist beweglich; man verändert sich oft in den Bildern, an die man sich erinnert, und sei es nur, dass man das aktuelle Selbst in diese Bilder hineinprojeziert. Genauso ist es aber mit dem zukünftigen und aktuellen Selbst, das man durch sein Wunschdenken verzerrt - man wünscht sich, man wäre stärker, erfolgreicher, liebevoller oder ehrlicher, und allein diese Wünsche verändern die Selbstwahrnehmung. Das heißt aber auch, dass ein anderer Mensch uns (in unseren Augen) unmöglich so erkennen kann, wie wir sind, weil wir es selbst gar nicht können.

Das "bis auf alle Vieren herunter" hast du leider auch falsch gelesen - da steht "bis ich auf alle Viere hinunterging" und ich finde, das ist sprachlich akzeptabel ^^.

LG
Lessa
Vor langer Zeit - Antworten
Kornblume Hallo Lessa,
wie unterschiedlich doch Lesarten sein können. Das macht solch Challenge aus und spannend. "Danke für Deine ausführliche Antwort", sagt die Kornblume
Vor langer Zeit - Antworten
Ameise Deine fantasie ist unglaublich. Soviel wahrheit on Deiner Geschichte und es passst so zu dem Bild. Gefällt mir gut. LG Ameise
Vor langer Zeit - Antworten
Lessa Vielen Dank, auch für den Fav!
Vor langer Zeit - Antworten
Brianna_W Auch mir hat deine Geschichte hervorragend gefallen. Wie dich das Bild inspiriert hat, zeugt von großer Fantasie...Kompliment! :)
Stilistisch gibts hier und da Kleinigkeiten, die man schon schleifen könnte, ab und an hakts bei der Kommasetzung, aber das sind wirklich Kleinigkeiten.
Auffällig empfand ich zweimal die Nutzung von zu häufigen Wiederholungen. Einmal am Anfang mit dem Wort "niesen"...in drei aufeinanderfolgenden Sätzen dreimal benutzt. Und Ende Seite 2/Anfang Seite 3 das Wort "Staub"...auch dreimal in drei Sätzen. Das könnte man sicher noch anders formulieren. :)

Aber wie gesagt...alles in allem eine TOP-Geschichte!

LG Brianna
Vor langer Zeit - Antworten
Lessa Danke Brianna, auch für den Fav! Die Wortwiederholungen sind mir nicht aufgefallen, normalerweise versuche ich, sowas auszumerzen. *Radiergummi holen geht*

Die Kommasetzung ist ziemlich sicher richtig so; ich schreibe ja nach neuer deutscher Rechtschreibung und bin recht orthographiesicher. Gibt es irgendwelche Stellen, die du im Besonderen meinst? Dann schaue ich mal nach, was die einschlägigen Regeln dazu sagen.
Vor langer Zeit - Antworten
Brianna_W Die Kommas an sich sind schon richtig so...das hab ich nicht verständlich genug ausgedrückt. :) Manche empfinde ich als zuviel....da würde meiner Meinung nach ein Punkt besser hingehören. Ich schau mal eben nach einem Beispiel:

Wieder kam mein Gesicht darunter hervor, und nun musste ich mit ansehen, wie jeder die Maske aufsetzte, die er zuvor dem Anderen entrissen hatte.

Die Weiße Frau war auf einmal fort, und stattdessen stieß eine Hydra auf mich zu und griff nach meinem Gesicht

Diese " , und "-Verschachtelungen würden mit einem neuen Satzanfang vielleicht runder klingen, zumal du eh sehr gerne verschachtelst. :) Vielleicht meinen die anderen das auch mit stilistischem Feinschliff?
Keine Ahnung, ist sicher auch eine Sache des persönlichen Geschmacks und wie gesagt, ich mag deine Geschichte sehr! :)

Vor langer Zeit - Antworten
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