Kurzgeschichte
Ertrinken

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"Ertrinken"
Veröffentlicht am 25. Januar 2016, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

I believe in God, but not as a thing, not as an old man in the sky. I believe that what people call God is something in all of us. -John Lennon
Ertrinken

Ertrinken

Mit zittrigen Händen greife ich nach der

Flasche. Die hellblaue Flüssigkeit erinnert mich an das Meer. Ich stelle mir vor, wie die Wellen gegen die Felsen schlagen, wie die Möwen am Himmel ihre Bahnen ziehen und wie der Wind den Sand durch die Luft wirbelt. All das stelle ich mir vor und ich weiß, dass ich das nie mehr erleben werde. Als ich die Flasche öffne steigt mir ein süßlicher Geruch in die Nase. Einen Moment halte ich inne. Mein Herz rast, je länger ich auf die Flasche starre desto unruhiger werde ich. Schweiß rinnt meine Stirn herab. Ich schließe meine Augen und nehme einen großen Schluck. Erst einen, dann zwei. Der süße Geschmack lässt

meinen Hals entkrampfen. Langsam entspanne ich mich. Irgendwie beruhigt es mich zu wissen, dass gleich alles vorbei sein wird. Ein letztes Mal streiche ich über meine Arme, Narben und blutige Wunden. Ich bin schon viel zu lange viel zu müde, um noch weiter zu kämpfen. Was nützen mir die halbwegs guten Noten, wenn ich mich einfach nicht mehr spüre? Was nützt es mir zu leben, wenn alles was ich spüre nur Traurigkeit und Leere ist? Wenn ich mich schneiden muss, um zu wissen, dass ich noch lebe. Ich fühle mich wie eine leere Hülle deren Seele schon lange geflohen ist. Irgendwohin wo die Welt nicht trist und grau ist. Dort wo die Sonne scheint und

es sich lohnt zu leben. Ich habe nichts was mich noch hier hält. Ich habe versucht stark zu sein, aber jedes Mal, wenn ich versucht habe aufzustehen, wurde ich von irgendwem wieder zu Boden gestoßen. Ich bin es Leid all die Tritte und Schläge zu ertragen. Jeden Tag. Mich wird niemand vermissen. Niemand wird meine Geschichte jemals erfahren. Für die anderen bin ich gar nicht da. Niemand sieht mich. Niemand kennt mich. Niemand nimmt mich wahr. Für mich ist hier kein Platz. Vielleicht bin ich dafür gemacht alleine zu sein. Ich habe hier keine Aufgabe, also wieso bin ich noch hier? Und plötzlich kann ich ihn hören, den

Ozean. Die Wellen, die gegen die Klippen schlagen. Die Möwen die am Himmel kreisen und das Rauschen des Meeres. Das alles ist auf einmal so ungeheuer nah. Ich kann es fühlen. Ich will ihn greifen, den Ozean. Ich versinke ihn ihm. Alles um mich herum schwindet. Langsam verliere ich mich. Ich werde müde. Ich atme tief ein. Die salzige Meeresluft durchströmt meine Lungen. Ich werde ruhiger. Ich fühle die Wärme, den Sand, die Luft, das Meer. Alles ist so nah. Ich greife danach. Ich will dort hin. Ich will die warme Luft in meinem Gesicht spüren und den Sand auf meiner Haut. Aber dann passiert etwas. Der grade noch

blaue Himmel färbt sich auf einmal schwarz. Die Möwen sind verschwunden. Das Wasser färbt sich blutrot. Die toten Bäume verlieren ihre Blätter. Der Wind ist kalt. Ich will das nicht. Ich versuche zu fliehen, aber ich bin wie gelähmt. Alles verliert seine Schönheit. Ich bekomme Angst. Ich will hier weg. Was habe ich bloß getan? Ich versuche um Hilfe zu schreien, doch irgendetwas hindert mich. Es ist, als hätte man mir die Stimmbänder durchtrennt. Ich bin nicht mehr in der normalen Welt. Dort wo ich bin, ist es schwarz, hässlich, trist und grau. Das ist die Welt wie ich sie immer sah, aber ich merke, dass sie das nie war.

Aber jetzt ist es zu spät. Niemand wird mich aus den Klauen der Dunkelheit befreien, die mich halten. Vor meinen Augen ist alles verzerrt. Nebel umhüllt mich. Ich höre Flüstern. Gefährliches Getuschel. Schwarz wie die Nacht. Aber da ist noch etwas. Etwas was nicht hierher gehört. Türen werden geknallt. Wildes Geschrei. Stimmen in der Ferne. Das ist alles so weit weg. Ich versuche mich zu winden, mich zu befreien. Aus dieser bedrohlichen Welt, die mich gefangen hält. Jemand hält mich fest und alles beginnt sich zu drehen. Immer schneller und schneller. Etwas passiert. Die Angst wird immer größer, sie schnürt

mir die Kehle zu. Ich kann nicht mehr atmen. Ich keuche. Huste. Schreie um Hilfe. Die Tränen brennen ungeheuer stark auf meiner Haut. Ich bin alleine. Ich schließe meine Augen. Ich höre auf mich zu wehren. Höre auf zu schreien und um mich zu schlagen. Und ich merke, wie die Wolken sich verziehen, wie der Nebel sich auflöst und es um mich herum klarer wird. Aber die Dunkelheit bleibt. Der Himmel bleibt schwarz und auch der Wind bleibt kalt. Die Schwärze umhüllt mich, aber ich habe keine Angst mehr. Sie saugt mich ein und wieder versinke ich. Es ist still. Ich fühle mich taub. Wo sind die Stimmen von gerade eben? Sie sind weg.

Bin ich schon tot? Oder sterbe ich gerade? Ich weiß es nicht. Ich lasse es einfach passieren. Etwas durchbricht die Stille. Ich höre jemanden weinen. Eine andere Person flüstert etwas. Die Stimmen sind so nah, dass ich sie zuordnen kann... Mittlerweile schwebe ich in purer Dunkelheit, aber das Weinen hört nicht auf. Es wird lauter, immer lauter. Es zerfetzt meine Ohren. Ich will das nicht hören. Plötzlich wird das Weinen weggerissen. Laute Stimmen die etwas brüllen. Ich mache mir nicht länger die Mühe weiter zu zuhören. Doch die Stimmen werden nicht leiser. Es ist kaum auszuhalten. Und dann ein Knall. Ein lauter, kurz andauernder Knall. Was

ist passiert?



Ich öffne meine Augen, ich schwitze, als würde ich aus der Sauna kommen. Wo bin ich? Ich schaue mich um, reibe meine Augen, schaue mich noch einmal um. In meinem Zimmer? Vor ein paar Sekunden war ich noch dabei zu sterben und jetzt liege ich, eingerollt in einer Decke, neben meinem Bett. Ich höre meine Eltern. Meine Mutter weint, mein Vater schreit. Habe ich das alles etwa nur geträumt???

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Über den Autor

ImkeSte
I believe in God, but not as a thing, not as an old man in the sky. I believe that what people call God is something in all of us. -John Lennon

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