Kurzgeschichte
Die Getäuschten

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"Regionalliteratur Ruhrpott"
Veröffentlicht am 09. Januar 2016, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Der deutsche Kurzgeschichtenautor Jonas Kissel wurde 1995 in Worms geboren und lebt nun im Ruhrpott, wo er Englisch und Mathematik studiert. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr werden Geschichten von ihm regelmäßig in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht.
Regionalliteratur Ruhrpott

Die Getäuschten

Die glühende Zigarette ragte aus seinem Mund Richtung Zimmerdecke wie ein Schornstein, der sich gegen den Abendhimmel abzeichnete, während er selbst auf ihrem Bett lag und über Bücher, Buchen und eine Eule philosophierte. Sie hörte nicht wirklich zu, ließ sich nur von dem ruppigen Kratzen seiner abgenutzten Stimme davontragen. Nicht, weil sie sich nicht für das interessierte, was Louis sagte – ganz im Gegenteil: Seine Bildung zog sie an –, sondern weil er in ein paar Minuten wieder gehen musste und sie deshalb lieber seine Präsenz genoss, als nachzudenken. Sobald die Zigarette erloschen war,

zog er seinen Arm unter ihr heraus. „Ich kann nicht länger bleiben“, meinte er, „Sonst fragt sich meine Frau, was los ist.“ Sie nickte stumm, wohlwissend, dass er nicht direkt nach Hause fahren würde. Vor beiden seinen Frauen hielt er etwas geheim und bei beiden dachte er, sie würde es nicht bemerken. Nachdem er sich angezogen hatte, gab er ihr einen flüchtigen Kuss, dem nur das Kratzen von Bartstoppeln fehlte. Dann verschwand er Richtung Jahrhunderthalle. Aus irgendeinem Grund parkte er nie in der Nähe ihrer Wohnung. Stattdessen fuhr er mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof und von

dort aus… verlor sich ihre Kenntnis dessen, was er tat. Bereits in der 302 gab er die Bestellung per Handy-App auf. Am Bahnhof konnte er ohne Wartezeit in eine zu spät kommende 308 umsteigen. Von seinen Studenten befand sich um diese Uhrzeit nur noch einer in dem Wagen und der bemerkte ihn nicht. Oder wollte ihn nicht bemerken. Es war Louis gleich. Er starrte zwei Minuten lang auf sein Spiegelbild in der Fensterscheibe und bedauerte die Jugendlichen, die wegen ihrer sozialen Medien, selbst wenn die Bahn oberirdisch fuhr, nichts von dem kulturellen Krieg auf den Fassaden

draußen mitbekamen. Nach dem Aussteigen half er einer Mutter mit einem Zwillingskinderwagen die Treppe nach oben, weil der Aufzug nicht funktionierte. Sie bedankte sich überschwänglich, doch er winkte ab. Wenn er nicht zufällig am dichtesten bei ihr gewesen wäre, hätte ihr irgendwer Jüngeres geholfen. Draußen machte er einen kurzen Spaziergang durch den Park, vorbei an der Collage von Veselý und dem kleinen See zur Gedenktafel, dann hoch zum Dufhues-Denkmal und zurück auf den Weg, auf dem er in den Park gekommen war. Dreimal schreckte er dabei Kaninchen auf, die sich auf den

Fußwegen tummelten. Bevor er wieder zwischen die Sterne abtauchte, holte er die Pizzen. Dieses Mal fuhr er zwei Stationen bis zur Haltestelle Stahlwerke, die man mittlerweile genauso gut Verlassenes Haus nennen konnte. Die zurückgelassenen Gardinen in einigen Fenstern waren die letzten Zeugen davon, dass hier einmal Menschen gewohnt hatten. Selbst das handgeschriebene Schild „Zurück zum Absender: Alle weg, keiner mehr da!“ hatte man von der Eingangstür entfernt, nur die Streifen Klebeband, mit denen es befestigt gewesen war, hingen noch in Fetzen dort. Der andere Türrahmen war

mit einer Spanholzplatte gefüllt und mit Brettern vernagelt worden. In der oberen Hälfte hingen diese Bretter sogar noch, darunter wölbte sich die Platte zu einem höhlenartigen Eingang. Louis schob den Stapel Pizzakartons nach drinnen und kletterte vorsichtig hinterher. Er musste sich etwas gegen die Feuchtigkeit einfallen lassen oder die Männer davon überzeugen, woanders zu übernachten, sonst würden sie bald alle an Atemwegserkrankungen leiden. Momentan versuchten die meistens von ihnen noch draußen auf den Straßen an etwas Geld zu kommen, doch bald würden Gert und Hugo hier drinnen Gesellschaft erhalten.

„Die teilt ihr mit allen“, mahnte Louis, als er die Pizzen unter Gerts wachsamem Blick auf den Boden legte, „Wenn sich auch nur einer beschwert, dass er nichts abbekommen hat, kriegt keiner von euch mehr was. Alles klar?“ Ohne die duftenden Kartons aus den Augen zu lassen, nickte Gert. Hugo lag auf ein paar zerrissenen Jacken und schlief. Verärgert stellte Louis fest, dass neben ihm eine kleine Schnapsflasche stand. Als seine Augen sich etwas an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er weitere Schnaps- und Bierflaschen im Raum. Ohne Kommentar begann er sie einzusammeln, egal ob sie leer waren oder nicht. Kurz setzte Gert

zu Protest an, dann machte er sich doch lieber über die erste Pizza her. Louis hätte sich von ihm auch nichts gefallen lassen. Er nahm die Flaschen mit in sein Auto, um sie kurz vor der Autobahnauffahrt zu entsorgen, und brach nach Hause auf. Sie wunderte sich, ob er wegen des Abendessens gelogen hatte, wusste aber nicht, warum er das tun sollte. Hätte er behauptet, nichts gegessen zu haben, obwohl er ein paar Minuten später als üblich nach Hause gekommen war und entsetzlich nach Pizza roch, wäre sie wohl misstrauisch geworden. So hatte er die glaubwürdige Antwort gegeben und

dabei trotzdem wie ein Lügner geklungen. Sie entschied, ihre Verwirrung zu übergehen, und sagte: „Das ist gut. Wenn du noch etwas essen müsstest, würde es vielleicht knapp werden. Wir gehen heute nämlich aus.“ Er runzelte die Stirn und entschuldigte sich dafür, dass er das wohl vergessen hatte. „Oh, hast du nicht, Schatz. Ich hab den ganzen Mittag mit Agnes telefoniert. Sie hat zwei Karten für eine moderne Inszenierung von Woyzeck übrig, weil ihre Freunde kurzfristig abgesprungen sind, und wusste nicht, was sie damit anfangen soll. Ich hab ihr

gesagt, dass wir mitkommen würden. Das war doch in Ordnung, oder?“ Er bestätigte und ging sofort ins Bad, um sich ausgehfertig zu machen. Mit etwas Anderem hatte sie auch nicht gerechnet. Sie wusste, dass er das Theater liebte, das moderne ganz besonders.




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Über den Autor

JKissel
Der deutsche Kurzgeschichtenautor Jonas Kissel wurde 1995 in Worms geboren und lebt nun im Ruhrpott, wo er Englisch und Mathematik studiert. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr werden Geschichten von ihm regelmäßig in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht.

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Hiob2punkt0 Schöner Einblick in den Ruhrpott. Danke dafür. LG Hiob
Vor langer Zeit - Antworten
Caliope toitoitoi
Vor langer Zeit - Antworten
Ameise Frauen wollen immer glauben das sie die einzige sind. LG Ameise
Vor langer Zeit - Antworten
einstein Eine schöne Geschichte ..... Beziehungssituationen ....
glg
ich
Vor langer Zeit - Antworten
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