Kapitel 50 Der Tempel
Als sie den Fuß der Treppe erreichten, stand die Sonne bereits hoch am Himmel und brachte die Glimmereinschlüsse im Granit der Stadt zum Glitzern. Auf den ersten Blick unterschieden sich die Reihen aus größeren und kleineren Steinbauten nicht groß von ihren Gegenstücken auf der anderen Seite der Siedlung, wären da nicht zwei gewaltige Marmortürme gewesen, die sich über die Dächer erhoben. Galren hatte sie bereits vom Wall aus gesehen, doch erst jetzt wurde ihm klar, wie unpassend sie
eigentlich wirkten, wenn man den Rest von Sunri betrachtete. Dünne Bögen spannten sich zwischen den Türmen und auf die Entfernung wirkte der weiße Stein so filigran wie Spinnweben. Fenster aus gefärbtem Glas schimmerten unter den Dächern der beiden Bauwerke. Die Bauart war so vollkommen anders, als alles, was er bisher hier gesehen hatte… und gleichzeitig wusste er mit absoluter Sicherheit, das es wichtig war, das dort ihr Ziel liegen würde. Er konnte den Weg durch die Gassen beinahe vor sich sehen, den sie nehmen würden, jeden Schritt, wie lange es dauern würde… und fühlte erneut, wie etwas an ihm zog, ihn zu rufen schien.
Er schüttelte den Kopf. Der Pfad vor seinem inneren Augen verschwand, genauso wie das Gefühl, geschoben zu werden. Aber nicht ganz. Er spürte, wie seine Hände zitterten… Wenn er nicht aufpasste würde er irgendwann noch einfach loslaufen ohne nachzudenken. Wie eine Marionette… Und wer war dann der Puppenspieler? Was war nur los mit ihm?
,, Alles in Ordnung ?“ Die Stimme holte Galren schließlich ruckartig zurück in die Wirklichkeit. Es war Naria, die ihn wieder mit diesem seltsamen, halb besorgten, halb neugierigem Blick musterte.
,, Ja es…“ Er wischte sich einen
Schweißtropfen vom Gesicht, der nicht von der Hitze stammte. ,, Es geht mir gut. Aber ich glaube ich wäre euch unendlich dankbar, wenn ihr etwas findet, das meine… Fähigkeiten etwas betäubt.“
Die Gejarn zog eine Augenbraue hoch. ,, Und ihr seid euch sicher, dass es euch gut geht ?“ , fragte sie, als sie sich wieder in Bewegung setzten, Hadrir und den anderen folgend. ,, Verzeiht, aber ihr habt grade ausgesehen, wie ein wandelnder Toter.“
,, Ja… Also eigentlich nein.“ Galren seufzte. Er traute Naria vielleicht nicht ganz, aber die Wahrheit war in diesem Moment vielleicht doch die beste Option.
Wobei die Frage blieb, was die Wahrheit überhaupt war. ,, Ich weiß nicht wie ich es erklären soll, aber meine Fähigkeiten scheinen sich immer mehr… zu verselbstständigen. Und das nicht erst, seit wir hier sind.“
,, Das ist allerdings beunruhigend. Und ihr seid euch sicher, das ihr euch nicht täuscht?“
,, Nein. Wie gesagt ich wäre euch einfach dankbar, wenn ihr mir den Gefallen tun könntet.“
Naria schien eine Weile nachzudenken. ,, Ich kann schlecht euren Verstand betäuben, aber falls das worunter ihr… leidet… magischer Natur ist, gibt es vielleicht eine Möglichkeit. Manche
Pflanzen können Magie in gewisser Weise betäuben, Schattenpilze beispielsweise. Soweit ich weiß verwendet der Orden sie allerdings auch um die Macht seiner Zauberer künstlich zu steigern.“
,, Meintet ihr nicht grade, es würde Magie unterbrechen ?“
,, Ihr hört mir ja zu.“ Die Gejarn kicherte. ,, Genau das ist der Punkt warum ich euch nicht einfach welche geben würde. Genau genommen führt es zu einer Stauung. Die Magie ist nicht weg, sondern nur blockiert. Wird in diesem Zustand Magie angewandt, und ein Zauberer tut das praktisch ständig bewusst oder unbewusst, sammelt sie
sich ohne loszubrechen, wie hinter einem Damm. Lässt die Wirkung dann nach… nun der Effekt bei einer zu hohen Dosis kann ziemlich katastrophal sein. Wie in von euch und jedem im Umkreis eines halben Tagesmarsches bleibt nur ein Krater übrig katastrophal. So gesehen stellen sie also ein Zauberergift da. Einem Nicht-Magier hingegen passiert nicht das Geringste. Und ich weiß nicht, in welche Kategorie ihr fallt.“
,, Ich dachte wir hätten geklärt, das ich kein Zauberer bin.“ , meinte er.
,, Das nicht, aber eure Gabe ist definitiv magischer Natur. Falls sie also von euch stammt, könnte ein Zauberergift euch also töten, wenn ich es falsch
dosiere.“
,, Von wo sollten meine Fähigkeiten denn sonst stammen ? ich meine ich bin damit geboren worden… denke ich.“
,, Das ist die Frage, nicht ? Wäre ich auf Maras oder zumindest noch in Canton könnte ich vielleicht Nachforschungen anstellen ob ihr en Einzelfall seid…“
,,Bin ich nicht.“ , erklärte Galren. ,, Mein Vater… ich vermute, dass er die gleiche Begabung hatte. Zumindest wusste er davon und auch der König meinte, er hätte es erwähnt.“
Naria schien diese Erkenntnis nicht wirklich zu beruhigen. ,, Und es hat euch beide hierher geführt. Ich habe keine Ahnung ob das etwas bedeutet
aber… wir haben auch so schon genug Gründe um vorsichtig zu sein, schätze ich. Also, wollt ihr immer noch, das ich versuche eure Begabung zu lähmen?“
,,Nein.“ , antwortete Galren schließlich. Im Moment verblasste der kurze Drang, einfach dem Pfad in seinem Verstand zu folgen wieder. Und darauf aus sich zu vergiften war er dann doch nicht. Aber sollte es schlimmer werden… Er seufzte. Wenn er wenigstens einen Faden in diesem Spinnennetz aus Lügen, Magie und Feindseligkeiten bis zum Ende verfolgen könnte, vielleicht würde dann alles leichter. Im Augenblick jedoch schien er sich nur mehr und mehr darin zu verwickeln. Und sie waren noch keine
zwei Tage hier.
Mittlerweile hatten sie den Aufgang zur Mauer ein gutes Stück hinter sich gelassen und folgten Hadrir durch eine Gasse zwischen großen, nur halb geschlossenen Häusern. Rinnen und Rohre verliefen zwischen den Dächern und Galren konnte das Rauschen von Wasser in ihnen Hören.
Die offene Seite der Häuser lag zur Straße hin und inmitten des so entstehenden, geschützten Hohlraums erhoben sich mehrere, große Kupferfarbene Kessel. Diese Waren nach oben hin mit einem kompliziert wirkenden System aus Röhren bestückt, die entweder von den Kesseln Weg
führten oder schlichte Rücklaufsysteme bildeten, alle von verschiedener Höhe…
Unter dem Kessel wiederum befand sich ein großes Gitter aus dem ab und an rot glühende Funken aufstiegen. Galren brauchte nur den feurigen Schein zu sehen um zu wissen, dass dort, nur ein paar Fuß tief unter der Erde, ein Lavastrom dahinfloss. Die aufsteigende Hitze brachte, was immer in den Kesseln war, zu blubbern und dutzende von Zwergen arbeiteten an jedem einzelnen der Kessel, öffneten Ventile an den Rohren oder beobachteten den Flüssigkeitsstand in einem der zahlreichen Steigrohre. Was sollte diese Apparatur? In Maillac hatte es mal
eine Gruppe von Schwarzbrennern gegeben und auf den ersten Blick erinnerte es tatsächlich an eine Destille, aber weder konnte er den stechenden Geruch von Alkohol riechen, noch irgendwelche Fässer oder ähnliches entdecken.
Merl kam ihm mit der Antwort zuvor.
,, Ihr destilliert hier Wasser, oder ?“ , wollte der junge Zauberer von ihrem Führer wissen. Dieser blieb stehen und strich sich einen Moment über den Bart.
,, Richtig. Leider sind diese Anlagen aber alles andere als Effektiv. Zumindest bei einer Stadt dieser Größe. Den Großteil unseres Trinkwassers gewinnen wir nach wie vor aus den Kavernen unter
der Stadt. Und daran wird sich wohl so bald auch nichts ändern. Kommt, der Tempel ist nicht mehr weit. Ich denke, das wird euch etwas für den rauen Empfang entschädigen.“ Der Mann wirkte plötzlich geknickt.
,, Ihr könnt nichts dafür.“ , meinte Lias, als sie die Wasser-Destillerien schließlich hinter sich ließen. ,, Und ich bezweifle das euch das jemand vorwerfen würde. Ein Mann kann nicht die gesamte Welt in Ordnung bringen, egal wie viel Macht er haben mag. Aber er kann zumindest sein Bestes tun und ich glaube, das tut ihr.“ Offenbar tat es Hadrir nach wie vor leid, wie der König sie willkommen geheißen hatte. Aber das
durfte er sich nicht so zu Herzen nehmen, dachte Galren. Es war nicht er, der dafür verantwortlich war.
,, Das entschuldigt es allerdings nicht.“ , erklärte der Zwerg und richtete sich ein Stück weit auf. ,, Ich wünschte, ihr wärt ein paar Jahrzehnte früher hier angekommen. In meiner Kindheit blühte diese Stadt. Jetzt… wird sie langsam aber sicher zerrissen und ich kann nur dabei zusehen.“
,, Ihr sorgt euch wirklich um euer Volk, oder ?“
,, Ist das nicht offensichtlich ? Aber manchmal scheint mir ich bin der einzige, der erkennt, dass wir uns selbst zwischen zwei Extremen zerstören. Ich…
und vielleicht der König.“ Hadrir zuckte mit den Schultern. ,, Ich kann nur hoffen, dass er weiß was er tut.“
Eine Weile setzten sie ihren Weg schweigend fort, bis sie aus den Straßen hinaus auf einen gewaltigen Platz traten, der fast im Zentrum der Weststadt liegen musste. Vor ihnen erhob sich der Tempel. Die Türme, die Galren von der Treppe aus gesehen hatte, waren keine einzelnen Gebäude, sondern ragten am Vorderen Ende des in seinem Grundriss etwa rechteckigen Baus auf. Filigrane Marmorsäulen stützten ein mit roten Ziegeln bedecktes Dach, das etwas über die Außenmauern hinaus ragte und damit auch eine kurze Treppe beschattete, die
zu einem Podest rund um das Bauwerk hinauf führte. Bunt glitzerten dutzende von Fenstern die sich an den Seitenwänden des Tempels entlang zogen. Die einzelnen Glasmosaike zeigten Szenen aus dem Leben der Stadt, vor allem Handwerker und Schmiede, aber auch Darstellungen von lodernden Feuern und den um die Stadt aufragenden Vulkane. Es war eine Darstellung von Gegensätzen, wie Galren klar wurde, auf der einen Seite die zerstörerische Kraft der Natur und auf der anderen das Handwerk und der Erfindungsreichtum der Zwerge. Auf seine Art schien was er hier sah das gesamte Wesen dieses Volkes zu
verkörpern.
Über dem offen stehenden Tor des Tempels wiederum war nur ein einziges Fenster eingelassen und dieses zeigte eine in die grauen Roben eines Gelehrten gekleidete Gestalt, die neben einer Schriftrolle allerdings auch einen Schmiedehammer hielt, dessen Kopf rötlich glühte, als wäre er grade erst geformt worden. Und das Gesicht des Mannes wies, wenn es auch nur aus Glas gefertigt war, Züge auf, die nicht zu einem Zwerg passten. Er war hochgewachsen mit langen, grauen Haaren und bartlosem Gesicht. Und seine Ohren wirkten auch seltsam, irgendwie zu spitz und zu lang um ganz menschlich
zu sein.
,,Gundur.“ , erklärte Hadrir ohne, dass er etwas gesagt hätte. ,, Der Herr des Feuers und Schutzpatron dieser Stadt. Angeblich war er es selbst, der mein Volk über das Meer führte, aber die Wahrheit wissen vielleicht nur noch die Ältesten unter uns. Angeblich brachte man unser Volk als Wächter nach dem Krieg der Götter hierher, aber als Wächter über was...“ Er zuckte mit den Schultern.
,, Krieg der Götter ?“
Der Zwerg nickte. ,, Der Herr der Ordnung, ein Wesen von unglaublicher Macht, lieferte sich eine Schlacht mit den übrigen Göttern und wurde
schließlich vernichtet. Doch gleichzeitig starben auch die meisten unserer Schutzherren in diesem Konflikt wie es heißt. Am Ende blieben nur ein dutzend dieser Unsterblichen übrig und diese verteilten sich über die Welt um ihr Schicksal wieder in geregelte Bahnen zu lenken und uns hierher zu führen, zogen sich danach aber endgültig zurück. Ich denke mal das meiste davon ist nur Mythos. Und vielleicht enthält es auch einen wahren Kern, wer weiß. Wir sollten jedenfalls hinein gehen, wenn ihr euch umsehen wollt…“
Galren nickte und gemeinsam gingen sie schließlich die tufen zum Tor hinauf. Das Innere des Tempels war von
farbigen Lichtbahnen erleuchtet, die durch die großen Fenster fielen. Zwischen vier großen Säulen, die das Dach trugen, standen dutzende von Bänken die entweder auf den Hauptaltar ganz am Ende des Gebäudes gerichtet waren oder zu kleineren Schreinen die in Nischen aufgestellt worden waren. Galren zählte zwölf davon. Zwölf Schreine für zwölf Unsterbliche. Ihre Schritte hallten durch den Saal, als sie durch das Tor traten und er fühlte wie sich erneut eine Hand in seinen Rücken zu legen schien, eine Kraft, die ihn hin zum Hauptaltar, einem großengsplitterten Marmorblock, hinzog. Das Material des Felsens wirkte Alt,
dachte er. Kleinere Brocken waren im Laufe der Jahrhunderte herausgebrochen, die Bruchkanten von der Zeit abgeschliffen. Nicht so jedoch bei dem Spalt, der den Altar fast in zwei Hälften teilte. Galren beschleunigte seine Schritte, wurde jedoch langsamer, als er den Tumult hinter sich bemerkte. Die anderen waren alle am Eingang stehen geblieben und Merl sogar direkt davor. Der junge Zauberer hatte beide Hände vorgestreckt, als würde er nach etwas tasten, das gar nicht da war… und dann wirkte es plötzlich tatsächlich so, als würden seine Finger auf etwas Festes stoßen. Sie bogen sich sogar leicht…
,, Merl ?“ , fragte Armell besorgt. ,,
Was ist los ?“
,, Ich… komme nicht durch die Tür.“ , erklärte er, Panik in der Stimme. ,, Da ist eine Barriere…“