Kurzgeschichte
Amok

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"Er war Jude, intelligent und unsportlich und wurde deshalb gemobbt"
Veröffentlicht am 03. November 2015, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Er war Jude, intelligent und unsportlich und wurde deshalb gemobbt

Amok

Titel

Ihr seid so dumm. Es gab mehr als genug Anzeichen. Doch ihr habt sie nicht erkannt. Und ich habe sie absichtlich ignoriert. Ich wollte, das es dazu kommt. Weil ich wollte, das sich endlich etwas ändert. Aber ich schätze mal, das sich nie irgendwas ändern wird. Jahr für Jahr laufen Schüler Amok und nichts hat sich bisher geändert. Ganz im Gegenteil. Das Mobbing nimmt eher zu, als ab. Ich kannte ihn ziemlich gut. Wir waren so was wie Freunde gewesen. Wobei wir nur selten zusammen abhingen, da wir eher Einzelgänger waren. Zumindest

ich war einer und bin es immer noch. Er war Jude. Dies war ein Grund, warum sie ihm das Leben schwer machten. Wenn ich ein Referat halten musste, nahm ich gern das Thema Religion, um meine Klassenkameraden und Lehrer darauf hinzuweisen, das es ohne die Juden keine Christen geben würde. Denn Jesus war Jude gewesen. Erst nach seinem Tod entwickelte sich allmählich das Christentum. Zwischen den beiden Religionen liegen etwa dreitausend Jahre. Denn das Judentum gibt es seit etwa fünftausend Jahren und das Christentum erst seit dem Augenblick null. - Augenblick deshalb, weil es das Jahr null gar nicht

gab. Ich hätte ihn gern zu meinen Geburtstagen eingeladen. Aber meine Eltern erlaubten es mir nicht. Das lag nicht an ihm, sondern daran, das ich allgemein kein Kindergeburtstag feiern durfte. Es kamen die Verwandten und das musste mir reichen. Dies ist etwas, dass ich nicht übernehmen will. Wenn ich einmal Kinder haben sollte, dann würde ich die Verwandten ausladen und meine Kinder würden dafür ihre Freunde einladen. Da ich nie einen richtigen Kindergeburtstag feiern durfte, denke ich mal, das meine Verwandten eh nicht kommen wollen würden. Er war sehr intelligent gewesen. Ab und

zu lernten wir gemeinsam. Das war aber selten, da ich, ehrlich gesagt, eine faule Sau bin und mich lieber mit anderen Dingen beschäftige, als mit Schule. Aber Bildung gehört mit zu meinen Hobbys. Zwar war er in Theorie spitze, aber in Sport floppte er total. Dafür wurde er oft gehänselt. Böse Spitznamen hatte er bekommen, worunter er sehr litt. Flaschenjude ist da noch äußerst harmlos. Und da er in Sport eine Totalnull war, fiel ich nicht weiter auf. Denn Sport war mein Fach auch nicht. Ich pendelte mich zwischen drei und vier ein. Eigentlich wie in den anderen Fächern auch. Das habe ich aber von

meiner Mutter, die stets zu sagen pflegte: „Sport ist Mord, Massensport ist Massenmord.“ Heute würde man ihn als typischen Nerd bezeichnen. Von seiner Intelligenz, seinem äußeren Erscheinungsbild und seiner Unsportlichkeit her. Im Prinzip war er ein sehr netter Junge. Und obwohl er ruhig, zurückhaltend und intelligent war, mochten ihn die meisten Lehrer nicht. Wahrscheinlich, weil er Jude war. Ich hatte auch mal was gehört, das es an seinem Vater lag. Aber genaues weiß ich nicht. Diese Schule ist eh blöd. Denn hier wird vor allem auf das sportliche geachtet. Dennoch ist es keine Sportschule.

Verstehen tue ich es nicht. Wenn mehr auf sportliche Leistung geachtet wird, als auf schulische, müsste es eigentlich eine Sportschule sein und keine allgemeine Mittelschule. Ich hatte ihn beobachtet. In den letzten Wochen schaute er mehr aus dem Fenster, als er dem Unterricht folgte. In den Sportstunden fehlte er komplett. Darum fiel auf, das ich auch nicht wirklich besser bin, als er. Vor wenigen Tagen hatte ich ihn direkt gefragt, ob er vorhat Amok zu laufen. „Sehr wahrscheinlich.“, war seine Antwort darauf. Und einen Tag, bevor er wild um sich schoss, rief er mich an. „Morgen ist der Tag der

Rache.“ Mehr sagte er nicht. Nur diesen einen Satz. Und ich überlegte, was ich machen sollte. Eigentlich wäre es meine Pflicht gewesen, alle zu warnen. Andererseits könnte dies auch als Warnung dienen, damit das Mobbing aufhört. In diesem Fall waren es nicht nur die Schüler gewesen. Die meisten Lehrer hatten fleißig mitgemacht. Es standen Menschenleben auf dem Spiel. Aber wenn man es sich recht überlegt; es gibt über sieben Milliarden Menschen auf der Welt. Trotz der zwei Weltkriege und all den anderen Kriegen und Feldzügen und hast nicht gesehen. Er wäre nur einer von vielen, dachte ich

mir. Überall auf der Welt gab es Amokläufer. Bei den meisten Fällen war es vorherzusehen. Doch keiner hatte reagiert, da sich keiner für die Person interessiert hatte. Was würde sein, wenn ich den geplanten Amoklauf melden würde? Man würde ihn daran hindern Menschen zu töten, ihn von der Schule nehmen und man würde sich ein neues Opfer suchen. Vielleicht – sogar sehr wahrscheinlich – mich. Wenn ich von der Schule abgehe, käme der/die Nächste dran. Wenn er nicht Amok läuft, täte es ein anderer. Das Mobbing würde kein Ende nehmen. Ganz m Gegenteil. Es würde sogar zunehmen. Aber ich wollte, dass es ein ende nahm.

Hier und überall. Mobbing gibt es nicht nur in der Schule, sondern auch am Arbeitsplatz. Und dort würden sie ihn weiter schikanieren. Dann lieber jetzt die Bombe platzen lassen, als später, wenn die Damen und Herren kleine Kinder haben. Vor allem aus diesen Gründen sagte ich kein Wort und verschlief am folgenden Morgen. Meinen Eltern wollte ich sagen, das die erste Stunde ausfiel, entschied mich aber anders. Niemand sollte wissen, das ich davon wusste. Es wäre auch nicht das erste mal gewesen, das ich verschlief. Also würde es nicht weiter auffallen. Eine halbe Stunde nach

Unterrichtsbeginn ging ich von zu Hause los. Ich ließ mir mit Absicht sehr viel Zeit. Hatte er wirklich das Zeug dazu, andere umzubringen? Schließlich war er ein überzeugter Jude und sehr religiös. Aber andererseits hatte ich viel über Amokläufer erfahren. Es waren meist die stillen, unscheinbaren Typen, denen man es am wenigsten zutraute. Die Außenseiter. Davon abgesehen hatte er mich vorgewarnt. Es war kein schöner Anblick gewesen, als ich in der Schule auftauchte. Ein riesiger Aufruhr. Leichen. Blut. Und irgendwo war mein jüdischer Freund. Schon als ich durchs Schultor ging, war

mir bewusst, das er tot war. Das bestätigten dann die Aussagen einiger Schüler und Lehrer. Ich finde es unbegreiflich, das sich jeder fragt, wie es dazu kommen konnte. Wo waren sie die letzten Jahre gewesen? Wie es aussieht, wird sich an dieser Schule nichts ändern. Es wird immer so weiter gehen. Jahr für Jahr für Jahr.

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