Kapitel 29 Last
Schon eine Woche auf See konnte einem furchtbar lang werden, stellte Merl fest. Mittlerweile hatten sie die offene See seit mehreren Tagen erreicht und was vom Festland Cantons noch zu erkennen war, war kaum mehr als ein Schatten. Selbst mit einem Fernrohr konnte man grade einmal einige Bergspitzen ausmachen, die noch über den Wasserspiegel hinausragten. Die Tage schienen sich endlos dahin zu ziehen und neben den Mahlzeiten gab es für sie nur wenig zu tun, außer ab und an vielleicht einmal dem Schiffskoch zur Hand zu
gehen. Und selbst diese Gelegenheiten waren längst nicht alltäglich. Die meisten Vorräte die sie dabei hatten bestanden aus Zwieback, geräuchertem Schinken oder ähnlichen haltbaren Dingen und Fässern mit Wasser oder Alkohol. Um letzteren machte der junge Magier einen großen Bogen, spätestens seit Hedan, der Kapitän ihm einmal ein Glas angeboten oder besser aufgeschwatzt hatte. Vielleicht würde er eines Tages noch den Grund dafür erfahren, aber im Augenblick konnte er sich beim besten Willen nicht erklären wie ein Mensch freiwillig etwas trinken konnte, das roch als entstamme es Zacharys Alchemie-Sammlung. Und
dabei nicht grade dem Kräuterkabinett….
Er ließ den Blick über die endlosen Flächen aus blauem Wasser gleiten, die sie umgaben. Auch wenn sie ein Stück von der Küste weg waren, das Wetter Lasantas begleitete sie immer noch obwohl in Teilen Cantons längst tiefster Winter herrschen musste. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich auf den Wellen und außer einigen weißen Wolkenfetzen war der Himmel genau so klar wie das Meer unter ihnen. Es war noch früher Mittag und auf Deck war abgesehen von einigen Matrosen so gut wie verlassen, der Rest war wohl unter Deck um sich seine tägliche Ration abzuholen und vielleicht auch um eine
halbe Stunde schlaf zu ergaunern, während der Kapitän in seiner Kajüte war. Auch wenn Merl nicht wusste, was er von Hedan halten sollte, der Mann hatte seine Crew zumindest im Griff, wenn auch nicht unbedingt sanft. In der letzten Woche hatte der Mann mindestens drei Matrosen Rationen gestrichen nachdem er der Meinung gewesen war, sie hätten ihre Arbeit nicht ordentlich verrichtet. Oder zumindest nicht völlig zu seiner Zufriedenheit…
Letztendlich ging er dem Kapitän am besten einfach aus dem Weg, dachte Merl, während er sich in eine der ruhigsten Ecken auf Deck zurückzog, eine kleine Nische zwischen Ruderhaus
und der Bordwand. Ob diese Lücken absichtlich entstanden waren oder einfach ein Konstruktionsfehler waren, er jedenfalls wusste sie zu schätzen, während er sich zwischen Reling und der Außenwand der Kajüte hindurchzwänge um auf das kurze, freie Stück Planken hinauszutreten. Hier gab es nur eine knöchelhohe Holzschranke, die einem vor einem Sturz in die Fluten bewahren konnte, aber er hatte ja auch nicht vor, zu nah an die Kante heranzugehen. Stattdessen setzte er sich mit dem Rücken gegen die Wand und konzentrierte sich auf eine der Übungen, die Meister Zachary ihm gezeigt hatte. Langsam, als bestünde das Wasser aus
Teer löste sich eine einzige, kreisrunde Kugel aus den Wellen und schwebte neben dem Schiff her. Es war kein sehr anspruchsvoller Zauber, etwas, das jeder Lehrling wirken könnte bevor sein erstes Jahr vorbei wäre, aber es erforderte Konzentration um ihn länger aufrecht zu erhalten, wenn man seine Kräfte schonen wollte. Zwar hatte er mit der Träne um seinen Hals eine beinahe unbegrenzte Kraftquelle zur Verfügung aber… Nein er wagte nicht daraus zuzugreifen. Und schon gar nicht für einen derart einfachen Zauber. Vielleicht nicht einmal wenn ihm keine andere Wahl bliebe… Aber Zachary hatte ihm den Stein nicht ohne Grund
mitgegeben…
Die Wasserblase zitterte und Merl musste sich zusammenreißen um die Magie die sie in der Schwebe hielt aufrecht zu erhalten. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Bevor es ihm jedoch gelang, dn Zauber wieder ganz zu stabilisieren flog etwas wie ein Geschoss einfach mitten durch das Wasser hindurch. Die Kugel zerplatzte in tausend einzelne Teile und nahm Merls letzte versuche sie aufrecht zu erhalten gleich mit sich.
Irritiert sah er sich nach dem Ding um das grade seine Übung zu Nichte gemacht hatte. Was ihm eben nur als verschwommener weißer Schemen erkennbar gewesen war, legte eine
Kehrtwende ein und landete eher unbeholfen fast direkt vor seinen Füßen. Sentine… Er konnte sofort spüren dass er es nicht mit einem normalen Tier zu tun hatte. Zachary hatte ihm nie erklärt, was genau es überhaupt mit ihr auf sich hatte.
Das Wesen hatte die Gestalt irgendeines Seevogels angenommen, den er nicht kannte, mit gelbem Schnabel und weißem Gefieder am Kopf. Die Flügel hingegen waren schwarz und ausgebreitet viel länger als der Vogel selbst und auch die Füße wirkten übergroß…
,, Götter hast du mich erschreckt…“ Es war irgendwie schwer etwas böse zu sein, das nun mal wie ein Tier aussah.
Auch wenn es definitiv keiner war. Trotzdem zog er eine säuerliche Mine. Zumindest bis sein Herzschlag sich wieder beruhigte konnte er weitere Übungen vergessen.
,, Verzeiht es ihr.“ , meinte Armells Stimme , die soeben über den schmalen Rand zwischen Kajüte und Bordwand kletterte um zu ihnen zu gelangen. Je weiter sie sich von Canton entfernten, desto besser schien ihre Laune zu werden. Vielleicht weil es endlich vorwärtsging, nachdem sie fast einen Monat nur damit zugerbacht hatten, alles vorzubereiten. Für sie bedeutete das um einiges mehr als für ihn, dachte Merl, während sie sich zu ihm setzte. Wie auf
ein stummes Zeichen schwang sich Sentine erneut umständlich in die Luft. Einen Moment rechnete Merl tatsächlich damit, dass der Vogel einfach ins Meer fallen würde, doch dann hoben ihn seine Schwingen plötzlich doch vom Boden und trugen ihn schneller als der junge Magier mit den Augen folgen konnte, Richtung Himmel nur um sofort wieder nach unten zu segeln und knapp über die Wellenkämme hinwegzugleiten. Das ganze hatte eine Anmut, die man bei der vorhin eher uneleganten Landung kaum vermuten würde.
,, Was… ist sie eigentlich ? Ich meine im Moment?“
,, Ein Albatros. Es gibt welche die auf
den Klippen Hamads leben aber ich schätze in Silberstedt bekommt man so etwas eher selten zu sehen?“
Merl kratzte sich am Kopf, während er Sentines Flug mit den Augen folgte. ,, Ehrlich gesagt außer Zacharys Raben und dem gelegentlichen Wyvern habe ich dort selten irgendwelche Tiere gesehen.“
Armell nickte als hätte sie die Antwort schon gewusst. ,, Wisst ihr ein Albatros hat vielleicht Schwierigkeiten in die Luft zu kommen aber wenn er einmal fliegt… nun das seht ihr ja.“
,, Ich schätze Zachary würde so etwas sagen wie ich hätte grade mein Wappentier gefunden.“ , murmelte der junge Magier ohne zu merken, dass er
seine Gedanken laut aussprach. Vermutlich läge er damit nicht einmal so falsch… Was sein Meister grade tat? Vermutlich arbeitete er noch immer an den gleichen Experimenten und Zaubern die er mit Merls Hilfe erarbeitet hatte. Ihr Werk war eine lange Puzzlearbeit und es gab nur kleine Fortschritte. Aber sie war es wert, dachte Merl. So wenig er auch dazu beitrug. Nur hoffte er, das Zachary auf sich achten würde. Merl Verstand die Risiken ihrer Arbeit sogar besser als sein Meister das tat, vielleicht weil dieser sie einfach nicht sehen wollte…
,, Ist etwas ?“ , fragte Armell, die wohl gemerkt hatte in welche Richtung seine
Gedanken abschweiften.
,, Nichts…“ , erwiderte er selber überrascht über den ungewohnt Zynischen Gedanken. ,, Ich habe nur grade an Zachary gedacht.“
,, Ihr macht euch Sorgen um ihn ?“
,, So seltsam das klingen mag. Ich meine… er ist leicht zehnmal so stark wie ich und selbst wenn das nicht der Fall wäre, er hat die Erfahrung eines ganzen Lebens als Magier…. Aber er ist auch das was für mich einer Familie noch am nächsten kommt, Armell. Ja manchmal habe ich Angst um ihn.“
Armell sah ihn einen Moment unsicher an. Es war einer dieser kurzen Momente in denen die entschlossene Mine der
jungen Adeligen Risse zeigte.
,, Und um euch macht ihr euch keine Sorgen ?“
,, Ich… denke ich bin aus einen Grund hier Armell. Ein Grund den vielleicht nicht einmal Zachary versteht aber er hat mich nicht grundlos mit euch geschickt. Und rückblickend… ich bin froh darüber. Beim Gedanken euch alleine ziehen zu lassen… Mir wäre nicht wohl dabei gewesen.“ Er fühlte sich ja selbst jetzt nicht ganz sicher damit. Aber das hatte auch andere Gründe. Und wenn er zumindest einen davon aus der Welt schaffen wollte dann wäre die Gelegenheit dazu jetzt. ,, Und ich möchte mich
entschuldigen.“
,, Wofür ?“ Armell drehte sich wieder zu ihm um und strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht.
,, An der Erdwacht ich meine… falls ich irgendetwas gesagt haben sollte das… es war nicht gegen euch gerichtet, Armell. Ich habe nur nicht nachgedacht ich meine…“
,, Merl…“ Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und brachte ihn mit dieser simplen Geste fast sofort zum Schweigen. ,,Das weiß ich doch. Und nichts davon ist oder war je eure Schuld, versteht ihr das? Ich weiß was meine Eltern getan haben und wieso. Ich hoffe nur eines Tages von mir behaupten zu
können besser als sie zu sein.“
Wenn sie ihn fragte, dann war dieser Tag lange gekommen, dachte der junge Zauberer bei sich. Aber wer war er ? Ein Narr mit einer Liebe die nicht erwidert werden konnte und keiner Kontrolle über seine eigenen Fähigkeiten. Sein Wort würde nichts bedeuten und nichts ändern.
Und doch schien Armell auf etwas zu warten, die Hände im Schoß zusammengefaltet und die Augen auf ihn gerichtet.
,, Ich… meine“ Er nahm allen Mut zusammen. Nein er würde keine halbgare Antwort zusammenstottern. Nicht diesmal. Und er konnte auch nicht länger zusehen wie sie sich selbst geißelte. Das
war nicht Armell, das war was eine untragbare Verantwortung versuchte aus ihr zu machen. ,, Ihr seid längst besser. Ich meine seht euch um !“ Er stand auf und zog sie ohne abzuwarten mit sich auf die Füße. ,, Seht euch das alles an. Wir sind hier, wegen euch. Und wegen Galren aber ohne euch wäre er nicht einmal von Hamad runter gekommen. Wir segeln mitten ins unbekannte, weil ihr besser seid, Armell. Weil ihr bereit seid alles zu riskieren um auch nur eine Chance zu haben eure Stadt zu retten. Für die Menschen dort. Nicht für euch selbst. Oder täusche ich mich in der Frau die ich…“ Die er so lange aus der Ferne bewundert hatte, die ihm seit seiner
Kindheit mit ihrer Entschlossenheit und Charme gefangen genommen hatte? ,, die ich so lange kenne ?“ , beendete er den Satz schließlich.
Statt einer Antwort sagte sie nur : ,, Zachary hatte offenbar recht was euch betrifft. Und vielleicht seit ihr weiser als ich… Ich fürchte trotzdem genug andere werden immer nur das Kind meiner Eltern in mir sehen.“
,, Was kümmern euch alle anderen wenn es hier Leute gibt die wissen, dass das nicht so ist ? Ich weiß es. Ich weiß dass es genug schlechte Menschen gibt, Armell. Aber ihr selbst… zeigt schon das nicht alle so sind.“
,, Ich bin hier weil ich muss, Merl.
Nicht weil ich unbedingt will.“ , gab sie zurück. Aber ihr Tonfall hatte sich verändert und ihm entging das schwache Lächeln nicht, das über ihre Züge huschte.
,, Sagt mir nicht ihr seid nicht auch ein kleines Stück neugierig ?“
Diesmal verschwand der sorgenvolle Ausdruck völlig aus Armells Mine und sie lachte.
,, Ich weiß nicht wie ihr das schafft aber…“ Statt den Satz zu beenden drückte sie ihm einen raschen Kuss auf die Wange. Merls Herz setzte beinahe einen Schlag aus. ,, Vielleicht sollte ich Zachary bei unserer Rückkehr vorschlagen das er euch weniger lesen
lassen soll…“
Mit diesen Worten winkte sie Sentine heran, die auf ihrer Schulter landete und kletterte zurück auf das Hauptdeck des Schiffs. Merl sah ihr nur stumm nach. Er sagte sich das es nichts zu bedeuten hatte. Er hatte ihr nur geholfen sich zu erinnern wer sie eigentlich war. Und doch war er in diesem Moment der glücklichste Mensch weit und breit. Glücklich genug, um den hellen Schemen nicht zu bemerken der ein Stück tiefer an der Bordwand entlangkletterte, nur um in einer offen stehenden Luke zu verschwinden nicht zu bemerken. Vielleicht wäre der Rest ihrer Reise völlig anders verlaufen wenn er es getan
hätte…