Kapitel 22 Erdwacht
Die weitere Reise verlief größtenteils ereignislos. Als sie am nächsten Morgen aus der Scheune ins freie traten, war das Unwetter längst weitergezogen und hatte außer einigen umgestürzten Zäunen und dutzenden von Wasserpfützen auf den Feldern keine Spuren mehr hinterlassen. Lediglich einige schnell am Himmel dahinziehende Wolken standen noch vor der Sonne, die warm auf das Land schien. Der Duft von Regen, Laub und Erde, der sie gestern schon begleitet hatte schien sich noch einmal zu
verstärken, während die Blätter von Büschen und Bäumen langsam trockneten. Der Weg dem sie folgten führte in einem Bogen zwischen den abgeernteten Feldern hindurch, bis er erneut in den Wäldern verschwand. Unter den dichten Zweigen tropfte nach wie vor beständig Wasser auf sie herab aber im Vergleich zu dem Sturm vom Vortag war das hier gar nichts. Ihre Kleidung war ohnehin nur halbwegs trocken geworden und Merl zog sich erneut die Kapuze seines braunen Gewands ins Gesicht. Es war seltsam darüber nachzudenken, wie weit sie mittlerweile von Silberstedt entfernt waren. Und damit allem, was er bisher
gekannt hatte…
Galren schien weitaus weniger Probleme damit zu haben, als er. Im Gegenteil, dem Mann schien es nicht schnell genug voran zu gehen, obwohl ihm der Muskelkater sichtlich zu schaffen machte…
Und Armell… Es tat gut sie ab und an wieder einmal lächeln zu sehen, dachte er. Ihre Besuche in Silberstedt waren über die letzte Jahre immer seltener und flüchtiger geworden und er wusste zu gut, welche Verantwortung sie Tag für Tag mit sich herumgetragen hatte. Vielleicht war das allein es schon Wert, das alles auf sich zu nehmen wenn ihre Last dabei etwas kleiner
wurde…
Vielleicht hatte Zachary auch deshalb zugestimmt ihnen zu helfen. Und wenn nicht… dann hätte er ihn eben darum gebeten, dachte Merl. Aber hätte er das auch getan wenn er gewusst hätte, dass er sie begleiten würde? Nach wie vor wusste er nicht was sein Meister wirklich damit bezweckte. Er konnte nur hoffen, dass er das Vertrauen das Zachary in ihn setzte nicht enttäuschen würde. Etwas das leichter gesagt als getan war …
Manchmal wusste er auch nicht ganz ob er Zachary überhaupt verstehen konnte. Merl wusste zu gut, das sie mit Magie arbeiteten, die weit über ihr Verständnis hinausging und sein Meister bekam das
offenbar mehr zu spüren als er. Manchmal wirkte es fast so, als würde er sich mit jemanden unterhalten der gar nicht da war um sich dann blitzartig wieder an die Arbeit zu machen.
Es dauerte bis in den frühen Nachmittag hinein, bis sie die Wälder erneut hinter sich ließen und als sie diesmal unter den Wipfeln hervortraten, hatte sich die Landschaft erneut grundlegend verändert. Hier gab es keine Felder mehr, nur einen wenige hundert Schritte breiten Grünstreifen und dann… nichts mehr. Nur noch ein tiefer Abgrund mit schroffen Felswänden, der sich wie eine Narbe durch das Land zog. Lediglich einige wenige Pflanzen, Farne und
Flechten fanden an den Wänden halt. Wasser glitzerte in der Tiefe und wirkte von oben mehr wie ein Bach. Lediglich das von den Klippen wiederhallende gurgeln verriet, das der Strom dort unten, durch die vergangenen Regenfälle mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit dahin schoss. Würde man Fallen und brächte einen der Sturz nicht um, die Gewalt der Wassermassen würde vermutlich den Rest erledigen… Merl trat etwas von der Kante zurück, während die anderen weiterhin in die Tiefe starrten.
,, Das ist der Erdschlund.“ , erklärte Armell und winkte schließlich auch Galren und Lias zu, sich von der Klippe
zu entfernen. ,, Diese Schlucht durchzieht fast die gesamten Herzlande in einer graden Linie. Und soweit ich weiß, befindet die fliegende Stadt sich etwa einen Tagesmarsch entfernt auf der anderen Flussseite.“
,, Ich vermute mal neben der Erdwacht die ihr erwähnt habt, gibt es keinen besseren weg da rüber ?“ , fragte Lias.
Sie schüttelte den Kopf. ,, Außer klettern oder außen herum zu gehen, nein. Es gibt stellenweise zwar einige kleinere Brücken aber die meisten sind alles andere als sicher und was den Handel angeht, so nehmen die meisten Karawanen den Weg über die Erdwacht, genau wie wir. Es kann nicht mehr weit
sein, wir müssen eigentlich nur dem Strom folgen.“
Damit machten sie sich erneut auf den Weg, immer entlang der kurzen Freifläche zwischen Waldrand und Abgrund. Das Rauschen des Wassers wurde ihr ständiger Begleiter, während sich vor ihnen nach einer Weile etwas im Dunst abzuzeichnen begann. Merl hatte alte Zeichnungen dieses Ortes gesehen, aber nun direkt davorzustehen war doch etwas anderes. Es mochte sein, das die meisten Gebäude der Anlage heute verlassen und in sich zusammengefallen waren, aber zu ihrer Glanzzeit war die Erdwacht vielleicht das größte Bollwerk gewesen, das je von Menschenhand
erschaffen worden war. Die aus grau-schwarzem Granit gefertigten Türme waren noch nicht alle verschwunden und die abgebrochenen Überreste von dutzenden weiteren ragten wie Finger einer Hand in den blauen Himmel. Bei Nacht hätte Merl sicher einen großen Bogen um diesen Ort gemacht, aber bei Tag wirkte es eher faszinierend als einschüchternd. Dutzende von Wehrgängen die alle ineinander zu laufen schienen Verbanden Innenhöfe und halb verfallene Wirtschaftsgebäude mit Schwindelerregende an der Klippe entlanglaufenden Mauerbögen, in denen bereits dutzende von Steinen fehlen. Die Festung war über die Jahrhunderte ihrer
Nutzung immer wieder gewachsen und das sah man auch. Irgendwann hatten die Baumeister wohl einfach begonnen, die alte Struktur abzubauen und zu erneuern, statt ständig einen neuen Befestigungsring hinzuzufügen, so das von der ursprünglichen Anlage wohl kaum mehr etwas übrig sein dürfte. Die Straße, die auf den Torbogen des Haupttores zuführte hingegen war in besseren Zustand. Die Festung mochte ausgedient haben, aber als eine der wichtigsten Handelsrouten in Canton blieb die Straße nach wie vor bestehen und trug damit wohl auch dazu bei, dass dieses alte Bollwerk zunehmend verschwand. Viele der verwendeten
Pflastersteine wiesen das gleiche, grau-schwarze Profil wie die Mauern der Erdwacht auf. Vermutlich hatte man beim Bau einfach das hergenommen, was man an Trümmern hatte verwenden können.
Im inneren des Burghofs hatten sich Pfützen gesammelt und Wasser tropfte von den von Ranken und Efeu überwucherten Dächern in die einstmals lebendigen Hallen. Von den Toren und Türen der Anlage selber war nach all den Jahrhunderten der Vernachlässigung nichts mehr geblieben. Und doch hatte der Verfall hier seine eigene Art von Schönheit, dachte Merl, während sie den Hof hin zum zweiten Tor überquerten.
Erneut drang das Rauschen des Flusses an seine Ohren und er fragte sich , ob der zweite Innenhof vor ihnen nicht schon über den Rand der Schlucht hinaus ging. Und dann erkannte er seinen Fehler. Was vor ihnen lag war kein weiterer Burghof, auch wenn es fast genau so breit gebaut war. Es war eine Brücke. Das Tor hatte sein Sichtfeld soweit eingeschränkt, dass er die Enden an beiden Seiten nicht einmal mehr gesehen hatte und die Krümmung des steinernen Bogens verlief Aufgrund seiner Größe so flach, das man sie kaum bemerkte Vermutlich hätten zwei Dutzend Leute Problemlos nebeneinander über die Brücke gehen können… Alleine
die Steinblöcke, die das Rückgrat der Konstruktion bildeten waren größer als manches Haus.
,, Götter, wer baut so etwas ?“ , fragte Lias, als er langsam aus dem Tor hinaus rat. Hätt Merl nicht gewusst, das sich unter ihnen jetzt ein Abgrund befand, er hätte es vermutlich nicht gemerkt, solange er sich in der Mitte der Brücke hielt.
,, Angeblich stammt zumindest die Brücke noch aus der Zeit der Zwerge.“ , erklärte der junge Zauberer. ,, Auch wenn ich mir nicht vorstellen will, wie ein Volk ohne Magie so etwas fertig bringen konnte.“
,, Zwerge…“ Der Gejarn sah ihn an, als
wäre er sich nicht sicher, ob Merl sich nicht einen Scherz mit ihm erlaubte. ,, Verzeiht ich habe Riesen gesehen, Menschen, Gejarn, die Ruinen eures alten Volkes… aber mir ist noch nichts untergekommen, was ich als Zwerg bezeichnen würde.“
,, Das wundert mich nicht. Nach dem wenigen was wir an Aufzeichnungen haben, existierte ihre Kultur nicht lange. Offenbar begann ihr Aufstieg kurz nach dem Ende des alten Volkes und sie verschwanden bereits wieder, als die ersten Menschen grade ihren Weg aus den Eiswüsten des Nordens nach Canton fanden.“
,, Sie verschwanden einfach
?“
Merl nickte. ,, Wo das alte Volk scheinbar über Jahre langsam zugrunde ging, zogen die Zwerge sich an einem einzigen Tag und in einer einzigen Nacht zurück, nur um nie wieder aufzutauchen, ihre Hallen verlassen und leergeräumt. Vielleicht haben sie ja den gleichen Weg genommen, wie wir jetzt.“
,, Ihr meint über das Meer ?“
,, Es gibt sonst nur zwei Wege aus Canton hinaus. Durch die Wüsten im Süden und weiter in den Norden und soweit ich weiß ist auf beiden Routen ist noch nie jemand zurückgekehrt. Nun ja… über das Meer allerdings auch
nicht.“
,, Dann werden wir eben die ersten sein.“ , meinte Galren. Merl wusste noch nicht ganz, was er von dem Mann halten sollte. Auf der einen Seite meinte er es wohl wirklich ernst und auf der anderen… machte er sich den gar keine Sorgen, was ihnen bevorstehen könnte? Oder konnte er die nur besser verbergen, als er selbst?
Sie hatten mittlerweile den höchsten Punkt des Brückenbogens erreicht und Armell war stehengeblieben und sah vom Geländer aus in die Schlucht hinab. Von hier war der Wasserlauf am Grund nur noch ein kaum wahrnehmbarer, silbriger Faden.
,, Würdet ihr mir noch etwas verraten bevor wir ankommen ?“ , fragte Galren. ,, Der Kaiser… was genau ist das für ein Mann ?“
,, Ich bin ihm selber nie begegnet.“ , antwortete die Fürstin. ,, Aber Zachary scheint ihm zu vertrauen. Kellvian Belfare ist ein direkter Nachfahre von Simon Belfare, und bestieg den Thron vor etwa 21 Jahren nach dem Tod seines Vaters. Offenbar war genau das auch einer der Auslöser für den Krieg der dann folgte. Die Adelsversammlung… darunter auch meine Eltern und allen voran natürlich Andre de Immerson , weigerten sich schlicht ihn als Herrscher
anzuerkennen, nachdem das Land ohnehin schon durch einen Gejarn-Aufstand in Unruhe geraten war. Viele witterten vielleicht auch nur ihre Chance, sich zu bereichern während ein junger noch unerfahrener Kaiser versuchte, das Land wieder zu ordnen. Am Ende hätten sie sich wohl nicht mehr irren können. In den folgenden Schlachten wurde der aus den abtrünnigen Adeligen bestehende Aristokratenbund vollständig geschlagen.“
,, Ich verstehe nur nicht, wieso man euch noch dafür büßen lässt.“ , bemerkte Merl leise. ,, Ihr habt doch nichts verkehrt gemacht,
Armell.“
Sie antwortete nicht sofort, während sie einen Moment einfach nur in die Tiefe sah. ,, Ehrlich gesagt wäre Freybreak in dem gleichen Zustand wie jetzt und hätte ich diese Gelegenheit… Ich kann nicht beschwören was ich tun würde. Loyal bleiben oder versuchen etwas für meine Stadt zu gewinnen?“
Merl stockte. Das meinte sie doch nicht ernst… Und doch glaubte er es verstehen zu können. Sie war wirklich so verzweifelt nicht? Und insgeheim hatte er es auch gewusst, als sie vor einigen Tagen in Silberstedt aufgetaucht war. War es wirklich Hoffnung die sie zu dieser Expedition trieb… oder nur ein
letzter Strohhalm nach dem Armell griff. ?
,, Aber das war damals nicht der Fall, oder ? Freybreak war nicht immer so wie heute.“
Die Fürstin sah ihn einen Moment seltsam an, ihr Gesicht eine reglose Miene , die nicht verriet, was in ihr Vorgehen mochte. Ihre Augen jedoch begannen wässrig zu glänzen, bevor sie sich wieder wegdrehte. Armells Reaktion erschreckte ihn geradezu. Hatte er etwas falsches gesagt? Konnte man einen Menschen verletzen obwohl man ihn doch eigentlich in Schutz nehmen wollte? Armell war nicht wie ihre Eltern und das… Das war das Problem. Sie
wusste es, dass es keine Entschuldigung für den Aufstand ihrer Familie gab. Und trotzdem tat sie alles um das zu erhalten was von ihrem Vermächtnis noch übrig war. Götter, warum hatte er nicht einfach die Klappe gehalten…
Als Armell sich ihnen wieder zuwendete, waren ihre Augen trocken und ihre Mine scheinbar entspannt. ,, Wir brechen besser auf.“ , erklärte sie ruhig. ,, Mit etwas Glück haben wir unser Ziel morgen früh erreicht…“
Merl sah ihr lediglich nach, als sie an ihm vorbeitrat und Lias und Galren ihr zögerlich folgten. Wie viel sie von dem was eben geschehen war mitbekommen hatten wusste er nicht zu sagen. Aber es
war auch egal, dachte er, während er ihnen schließlich folgte. Was Armell anging, so bezweifelte er, das sie schnell vergas…