Sonstiges
Das Schweigen der Musen

Titel

Die schöne Europa ist alt und grau geworden, und Sorgenfalten zeichnen ihr feines Gesicht. Wenn sie, nur manchmal, denn sie scheut den Anblick ihres Abbildes, in den Spiegel schaut, werden ihre strahlend blauen Augen feucht und sie denkt sehnsuchtsvoll zurück. An die Zeit ihrer Jugend, als Jupiter sich ihr näherte, als Stier, ein besonders kräftiges, aber sehr friedlich aussehendes Exemplar mit reinem, schneeweißen Fell und kleinen Hörnern, die aussahen, als habe sie ein Künstler angefertigt. Der Gott mischte sich unter eine Herde königlicher Stiere, die Hermes zuvor zum Strand getrieben hatte, und näherte sich so galant Europa, die mit ihren Gefährtinnen am Strand war. Europas anfängliche Furcht war bald überwunden, sie spielte mit dem Stier, fütterte ihn, streichelte ihn und umwand seine Hörner mit Blumen. Schließlich traute sie sich, auf

seinen Rücken zu steigen – da ging der Stier ins Wasser und schwamm aufs offene Meer hinaus. Er brachte sie nach Kreta, wo er seine Stiergestalt ablegte und sich offenbarte. Doch das ist lange, allzu lange her… das Fell des Stieres ist nun struppig und fleckig, doch seine bronzene Statue vor der Frankfurter Börse zeugt von der unerbittlichen Macht des Geldes. Auf seinem Rücken kann niemand mehr gefahrlos die wilden Wasser durchqueren. In diesen Tagen erwarten die Fahrenden Hunger, Zäune, Minen und der Iod. Und so ist Thanatos zum milden Tröster der Hoffnungslosen geworden, denn der Musen Gesang von Freiheit und Brüderlichkeit ist verstummt.