Kapitel 4 Silberstedt
Armell wurde durch einen Ruck aus dem Schlaf gerissen. Die Kutsche in der sie saß machte einen Satz, als die Räder erneut über eines der Schlaglöcher holperten. Sie rutschte beinahe von der unbequemen Sitzbank herunter, als der zweite Aufprall folgte. Von einem Moment auf den anderen war das junge Mädchen hellwach. Es war kalt geworden, selbst hier drinnen und sie fing bereits an zu frieren. Kaum verwunderlich, ihre Kleider waren kaum für das Wetter draußen geeignet. Ein Blick aus dem Fenster zeigte nichts, als eine verschneite, grau weiße Landschaft.
Aber ihre Eltern hatten darauf bestanden, dass sie ihre besten Sachen anzog, bevor sie sich auf den Weg nach Silberstedt machten. Das war jetzt drei Tage her und sie waren seitdem ohne Pause unterwegs. Genauso wie wohl dutzende andere.
Rasch schlang Armell die beim Aufprall verlorene Decke wieder um sich und starrte erneut aus dem Fenster. Die drei anderen Personen die mit ihr in der Kutsche saßen beachteten sie wenig. Stattdessen unterhielten ihre Mutter und ihr Vater sich gedämpft mit Obarst D'Ambois, ihrem Onkel. Der untersetzte, kahle Mann sah in seinen leichten Tuchroben aus Seide und Samt genauso
unpassend gekleidet aus, wie sie alle, aber keiner hier würde das zugeben, dachte Armell. Außer ihr natürlich, aber wenn sie das laut aussprechen würde, würde sie sich bestenfalls noch eine Ohrfeige einhandeln. Sie strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Draußen stieg die Straße zum Kamm eines kleinen , bewaldeten Hügels hin an, doch zwischen den Bäumen schimmerte etwas hindurch, das nicht zu der Eintönigen Landschaft passte, die sie die letzten Tage passiert hatten.
,, Wir sind da.“ , ließ der Lenker vom Kutschbockaus verlauten und keine zehn Herzschläge später tauchte Silberstedt endgültig vor ihnen
auf.
Im Schatten der großen Berge gelegen, wirkte die Stadt beinahe Zwergenhaft und beeindruckend zugleich. Tausende von Gebäuden drängten sich innerhalb der Halbrunden Stadtmauern zusammen, welche die Flanke der Stadt beschützten, die nicht von dem Granit-Gebirge in ihrem Rücken abgeriegelt wurde. Rauchschwaden stiegen aus den Schornsteinen der Metropole auf und sammelten sich als dünne, dunkle Wolke am ansonsten strahlend blauen, eisigen Himmel. Armell war unerklärlich, wieso überhaupt jemand hier draußen leben wollen sollte. Hamad wurde im Winter schon unangenehm kalt, aber das hier…
erschien ihr wie Wahnsinn. Ihre Mutter hatte einmal gemeint, es hinge mit den Silberminen in den Berggipfel zusammen, die der Stadt ihren Namen gaben. Davon jedoch konnte sie im Augenblick nichts sehen. Und waren diese Minen nicht auch Grund dafür, dass sie überhaupt hier waren?
Nach wie vor konnte man die Spuren einer Schlacht um die Stadt herum erkennen. Halb zerfallene Zelte, die einstmals einer Armee Unterschlupf geboten hatten, bedeckten die Ebene vor den Mauern und die Stadttore, die nun vor ihnen in Sicht kamen, waren noch neu, das Holz ohne eine Spur der Verwitterung. Wenigstens bestand die
Straße hier aus gepflasterten Steinen und nicht mehr nur aus einem bloßen Pfad voller Schlaglöcher.
Während sie die Tore hinter sich ließen, fiel Armells Blick auf ein weiteres Bauwerk, das sich geradezu an den Berghang über ihnen zu ducken schien. Es war ein gewaltiges Anwesen, errichtet aus geschwärztem Holz und dunklem Stein. Sie konnte nicht sagen warum, aber sie fühlte sich sofort eingeschüchtert. Wie eine als Bauwerk verfasste Drohung, dachte sie ohne wirklich zu verstehen, wie sie auf diese Idee kam.
,, Das ist Lord Zacharys Anwesen.“ , erklärte Obarst . ,, So weit ich weiß, ist
es erst in den letzten sechs Monaten erbaut worden, als Ersatz für das alte Herrenhaus. Offenbar will der Mann wirklich alles auslöschen was hier noch an seinen Vater erinnert. Die Leute nenne es jetzt schon den Rabenkopf.“
,, Warum ?“ , fragte Armells Vater , allerdings so gelangweilt als würde ihn die Antwort nicht wirklich interessieren.
,, Seht selbst.“ Obarst deutete aus dem Fenster auf einige dunkle Schatten, die um das Gebäude kreisten. ,, Krähen, Raben, Elstern. Ich wette mal, unser Freund dort oben hat einen Faible für Federvieh. Oder sie fühlen sich einfach zu ihresgleichen Hingezogen. Dieser Bengel ist doch nur eine Marionette des
Kaisers. Ein schön dressierter Raubvogel…“
,, Würdet ihr euch auch trauen ihm das ins Gesicht zu sagen ?“ , fragte Mutter.
,, Ich häng an meinem Leben. Und wir sind immerhin hier um uns gut mit ihm zu stellen. Aber er kann kaum schlimmer als der alte de Immerson sein. Wir haben ihm vielleicht im Krieg unterstützt, aber der Kerl war ein Sklaventreiber… Wortwörtlich.“
,, Und Lord Zachary de Immerson ?“ , brachte Armell hervor. Sie wollte wenigstens wissen, was das für ein Mann war, der da über das Schicksal ihrer Familie entscheiden sollte. Und es war das erste Gespräch in den letzten Tagen,
das sich nicht bloß um Politik drehte.
,, Er kam praktisch aus dem Nichts. Angeblich ist er vor Jahren verschollen. Und kurz bevor der alte Lord ins Gras beißt, taucht er wieder auf. Ist Gerüchten Zufolge auf einem Piratenschiff aufgewachsen, könnt ihr das glauben?“
,, Ich gebe wenig auf Gerüchte.“ , meinte ihr Vater. ,, Aber selbst wenn nur die Hälfte davon zutrifft ist er gefährlich. Aber das sind alle Zauberer. Ich habe diesen Bastarden vom Orden schon vor diesem ganzen Irrsinn nicht getraut.“
,, Er ist ein Zauberer ?“ , fragte Armell erneut, diesmal etwas
mutiger.
,, Und ein mächtiger noch dazu, wie man hört. Angeblich mehr Gott als Mensch.“
Die Kutsche passierte mittlerweile die Außenbezirke der Stadt und näherte sich einer großen Treppe, die zum Anwesen hinauf führte. Die Stufen waren offenbar direkt aus dem Gestein des Berges geschlagen worden. Ihr Wagenlenker brachte die Kutsche ein Stück vor dem Beginn der Stufen zum Stehen und kletterte von seinem Platz um ihnen die Tür zu öffnen.
Kalter Wind schlug Armell entgegen, als sie aus der Kutsche kletterte und wehte Schnee über den kleinen Platz. Ihre Füße versanken halb darin und die dünnen
Schuhe, die sie trug, boten kaum Schutz.
Neben ihrer eigenen standen bereits ein Dutzend weitere Kutschen in einem Halbkreis um den Platz verteilt. Offenbar waren sie doch später eingetroffen, als gedacht… Ihre Eltern und Obarts nahmen es mit einer säuerlichen Mine zur Kenntnis, während sie sich gegen den Wind zur Treppe kämpften. Im Licht mehrerer Laternen konnte Armell mehrere, in blau-goldene Uniformen gekleidete Gestalten erkennen, die am Beginn des Aufgangs Wache hielten. Die Gardisten des Kaisers… Obwohl ihre Kleidung ebenfalls kaum für die Witterungsbedingungen gemacht schien,
zitterte nicht einer der Männer, im Gegenteil. Hätte sie nicht gewusst, das, durchaus lebendige Menschen in diesen Uniformen steckte, sie hätte Gedacht es mit Statuen zu tun zu haben. Vielleicht waren sie auch nur festgefroren. Der Gedanke brachte sie leise zum Kichern, worauf ihre Mutter sich mit einem bösen Zischen zu ihr umdrehte. Armell verstummte sofort.
Als sie sich der Postenkette näherten, kam einer der Gardisten mit raschen Schritten auf sie zu. Auf die Entfernung hatte Armell es nicht bemerkt, aber der Mann überragte seine Gefährten um mindestens einen Kopf und während er auf sie zukam, schien er noch etwas zu
wachsen. Die Offiziersuniform, die er trug schien ihm ein Stück zu klein zu sein, das nahm der Gestalt jedoch nur wenig von ihrer Bedrohlichen Ausstrahlung. Unter einem mit Federn besetzten Hut lugte ein mit braunem Fell bedecktes Gesicht hervor. Im Zwielicht der einbrechenden Abenddämmerung leicht gelblich schimmernde Augen musterten die kleine Reisegruppe ohne sichtliche Eile, während der Bär sich ihnen in den Weg stellte.
,, Halt.“ Der Gejarn hätte nichts zu sagen gebraucht. Schon beim nährkommen waren Armells Eltern und ihr Onkel stehen geblieben. ,, Wer seid ihr
?“
,, Geht euch das etwas an ?“ , fragte ihr Vater ungehalten. Immerhin es passierte nicht alle Tage das sich ihnen irgendein… Niemand in den Weg stellte und schon gar nicht, wenn es hier draußen kalt genug war, das ein Drache Schnupfen bekommen würde
,, Das tut es sehr wohl.“ Der Bär hielt eine Pranke hoch, groß genug, als das er damit den Kopf eines Menschen umfassen und einfach zerquetschen könnte. Doch irgendwie bekam er es hin, dass die Geste beinahe… sanftmütig wirkte, während er einen Siegelring an einem seiner Finger vorzeigte. Das in Gold und Silber gehaltene Wappen
darauf zeigte einen Adler und einen Löwen, die sich gegenüberstanden, die große Raubkatze die Pranken zum Schlag erhoben. Das Wappen der Belfare-Kaiser. Selbst Armell wusste, was der Ring bedeutete. Dieser Mann war im Besitz einer kaiserlichen Vollmacht. Solange der Kaiser nicht selbst hier auftauchte und etwas anderes Befahl , würde sich jeder einzelne Soldat hier den Worten des Bären unterordnen müssen.
,, Mein Name ist Syle, Hochgeneral von Kaiser Kellvian Belfare. Und meine Aufgabe ist es hier für die Sicherheit aller zu Sorgen. Auf persönliche Anweisung seiner Majestät. Also noch
einmal, wer seid ihr?“
,,D'Ambois.“ , antwortete ihr Onkel schließlich. ,, Können wir jetzt durch ?“
Der Gejarn nickte und trat schließlich Beiseite.
Der Weg die Stufen hinauf, war ein langer und Kalter. Ohne den Schutz, den die Häuser weiter unten noch geboten hatten, war der Wind hier nicht mehr nur kalt, sondern schneidend. Ihre Kleidung hätte genauso gut nicht existent sein können, dachte das Mädchen, während vor ihnen endlich die ersten Balken des Herrenhauses in Sicht kamen. Das Gebäude wirkte aus der Nähe nicht unbedingt einladender, befand Armell. Schwere Säulen trugen ein großes
Vordach unter dem sich ein offen stehendes Tor befand. Von drinnen drangen gedämpfte Gespräche und Licht heraus. Offenbar waren sie tatsächlich spät, aber noch nicht zu spät. Wenn der Herr von Silberstedt die Entscheidung des Kaisers schon verkündet hätte, wäre den Leuten kaum mehr nach Gesprächen zumute… das spürte sie. Das ganze Verhalten ihrer Eltern sprach Bände darüber, was sie und alle, die Andre de Immersons Aufstand unterstützen zu erwarten hatten.
Kohlefeuer brannten in mehreren Becken vor dem Eingang und wärmten zumindest etwas, als sie sie passierten. Hier oben gab es scheinbar keine Wachen mehr,
zumindest nicht außerhalb des Gebäudes. Als sie die große Halle schließlich betraten, warteten dort bereits Dutzende weitere Adelige, manche alleine, andere in kleinen Gruppen um weitere Feuer zusammenstehend. Alle schienen den gleichen Fehler gemacht zu haben wie sie und trugen prachtvolle Seiden und Brokatkleider, die jedoch kaum ausreichenden Schutz vor der Witterung boten. Und so war es kaum verwunderlich, das sich die meisten an den im Raum verteilten Feuerbecken die Hände wärmten.
Armell sah sich langsam im Raum um. Vier große, zu einem Rechteck angeordnete Säulen trugen die Hohe
Decke. Schwere Teppiche auf dem Boden und an den Wänden , viele davon mit dem Wappen Silberstedts, einer silbernen Spinne auf violettem Grund, isolierten das Holz zusätzlich gegen die unangenehmen Temperaturen.
Ihren Gastgeber jedoch, konnte sie nirgends entdecken.
Und nach dem was ihr Onkel über diesem Mann, Zachary de Immerson, erzählt hatte, konnte sie auch darauf verzichten. Das ungute Gefühl das sich in ihrem Magen eingenistet hatte, war, seit sie diesen Ort das erste Mal gesehen hatte nicht mehr gewichen. Was für eine Art Mensch fühlte sich hier wohl, isoliert von allem auf einem
Berggipfel?
,, Wenn das eine Falle ist…“ , hörte sie jemandem im Vorbeigehen Flüstern, während sie ebenfalls an eines der feuertrat um sich zu wärmen. Ihre Eltern hatten sich längst irgendwo im Gedränge verloren, begrüßten alte Bekannte… oder stellten vielleicht die gleiche Frage. Sie war vielleicht jung, dachte Armell, aber sie wusste auch, was hier auf dem Spiel stand. Sie hatten, wie Vater es genannt hatte, auf das falsche Pferd gesetzt. Und jetzt würden sie einen Preis dafür bezahlen, den der Sieger, in diesem Fall der Kaiser, festlegen würde.
Plötzlich jedoch kam Unruhe in den Saal, als sich eine Tür am anderen Ende
öffnete. Hatte eben noch so etwas wie eine lockere, wenn auch vorsichtige Atmosphäre geherrscht, schlug das nun sofort um. Die Gespräche verstummten, während die Leute zum anderen Ende der Halle strömten, wo grade eine neue Gestalt auftauchte. Armell konnte jedoch nicht viel erkennen, als all die Erwachsenen an ihr vorbei nach vorne drängten. Dem Mädchen blieb nur Mitzulaufen um nicht ausversehen zertrampelt zu werden. Die Leute hier schienen sich wenig darum zu scheren. Mehrmals stolperte sie fast über Füße und Beine, die sich ihr in den Weg schoben… Dann jedoch war sie ohne es zu wollen aus der Menge heraus. Armell
stand plötzlich ganz vorne, keine zwanzig Schritte von der Stele entfernt, an der Boden des Raums zu drei Treppenstufen anstieg, wie bei einer Tribüne. Zwischen ihr und dem Ort, an dem Zachary de Immerson stand, lag nur noch Luft…