Kapitel 41 Glück
Als Simon zum letzten Mal hier gewesen war, war es bereits dunkel, doch selbst jetzt mitten am Tag, lag das Innere des großen Zelts im Zwielicht. Einzelne Lichtbahnen fielen durch die groben Nähte der Dachplanen und zeichneten ein Mandala aus hellen Linien und Punkten, die sich um das Feuer herum anordneten. In dem Steinrund in der Raummitte, brannten heute keine Flammen, lediglich einige verkohlte Äste deuteten darauf an, dass hier in den
vergangenen Stunden jemand gewesen war. Das und die drei Gestalten, die auf ihren Lehnstühlen um die Feuerstelle herum saßen. Simon bezweifelte, dass die Ältesten sich selbst um viel kümmern mussten, schon gar nicht um solche Kleinigkeiten wie Feuer zu machen. Nein, diese Drei repräsentierten das Beste ihres Volks. Oder besser, sie sollten es zumindest. Vielleicht waren die Unterschiede zwischen der Politik der Menschen und der der Gejarn gar nicht so groß. Nur die Maßstäbe waren anders….
„Ihr wolltet uns sprechen?“
Er nickte. „Ich nehme an, Maen wird nicht zu uns stoßen?“, fragte er mit
einem Blick auf den leeren Platz.
„Nein.“, antwortete eine der Gestalten kurz angebunden, aber ein wenig zu hektisch. Sie mochten grade versuchen völlig ruhig zu erscheinen, aber Simon bemerkte ihre Nervosität trotzdem. Er hatte jahrelange Übung darin. Und er hatte auch gelernt, sich diese Furcht zunutze zu machen. Aber nicht Heute, ermahnte er sich. Und nie wieder, wenn er die Wahl hatte.
„Ich will es kurz machen, ich suche nach etwas… recht Speziellen könnte man sagen. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht einmal, worum es sich genau handelt. Aber es wurde mir als ein aus Schatten wiedergeborenes Juwel
beschrieben.“ Nun musste er zum Punkt kommen, dachte er. Aber er wollte Fadrin hier heraushalten. Simon wusste nicht, ob die Ältesten es ihm nicht übel nehmen könnten, wenn er erzählte, wo er den Reim aufgeschnappt hatte, der seine letzte Hoffnung darstellte.
„Mir ist ein Gedicht zu Ohren gekommen, das dem was ich suche, recht ähnlich klingt. Ein Stein, aus Schatten geboren und in seinem Kiel folgt der Sturm. Mich würde sein Ursprung interessieren.“
„Es ist kein vollständiges Gedicht.“, meinte einer der Ältesten, „Diese Worte stammen aus einer Erzählung meines Volkes, die von einem unserer größten
Anführer handelt. Aber die spezielle Stelle, die Ihr erwähnt habt, spricht vom einzigen Rückschlag, den er je hinnehmen musste. Er war mit einer Expedition des damaligen Kaisers weit über die Grenzen unseres Gebiets hinaus gewandert, bis über die Berge und in das ewige Eis des Nordens. Dort schließlich, fand er die Überreste einer Stadt, eine, die einstmals vom alten Volk erbaut worden war.“
„Und was geschah dann?“ Auf Ruinen, die das alte Volk bei seinem Verschwinden hinterlassen hatte, konnte man fast in ganz Canton und sogar darüber hinaus treffen. Nur irgendetwas hier musste anders sein. Etwas, das ihm
einen Hinweis gab.
„Es war nicht viel übrig, nur einige Säulen und Grundmauern, aber nach einigen Tagen der Suche, fanden sie einen Eingang, der zu einem unterirdischen Teil der Anlage führte. Der Ahne und einige seiner Gefährten stiegen in die Tiefe hinab und was sie dort fanden, muss sie noch bis ins hohe Alter verfolgt haben. Sie gelangten in eine Art Labyrinth, in dem sie scheinbar Stunden lang umherirrten. Und durch die uralten Felsgänge drang ein unwirtliches Licht, das sie vorantrieb, ein Licht, das von einem Stein in der Dunkelheit ausging, einem Kristall. Ihr wisst, dass das alte Volk seine Macht in diesen
Steinen speichern konnte?“
Simon nickte. Er hatte selber mehr als einmal auf einen dieser Steine zurückgegriffen. Es war die einfachste Methode für einen Magier, seine eigenen Fähigkeiten zu erhöhen. Wenn auch nicht immer ganz ungefährlich, handelte es sich doch um Artefakte, deren wahrer Zweck teilweise völlig unbekannt war.
„Offenbar fanden sie genau das in den Tiefen. Es, verzeiht, ich schätzte, Ihr wisst mehr darüber als ich, aber es schien sie zu locken, zu rufen…. Irgendwann bemerkte der Ahne, dass etwas daran nicht stimmte und versuchte seine Gefährten zum Umkehren zu bewegen. Einige folgten ihm, zurück ins
Licht. Andere… gingen weiter. Von ihnen wurde nie wieder jemand gesehen und bevor jemand nachsehen konnte, wurde die Expedition angegriffen.“
„Angegriffen? Von was?“
Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Es wird nur als Feuer vom Himmel beschrieben.“
Simon schwieg eine Weile, nachdem der Älteste seine Geschichte beendet hatte. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Vielleicht, war über die Generationen einfach zu viel Legende hineingeraten und die Wahrheit sähe ganz anders aus. Aber, dachte er, das glaubst du doch selber nicht. Es konnte kein Zufall sein, dazu passte es zu gut.
„Und Ihr könnt mir auch verraten, wo genau sich dieser Ort befindet, den Euer Ahne besucht hat?“
„Ich kann Euch den Weg beschreiben, soweit wir ihn noch überliefert haben.“
„Ich bitte Euch darum.“
Als Simon das Zelt wieder verließ, wusste er, dass ihm erneut eine lange Reise bevorstehen würde. Wie die Ältesten gesagt hatten, der Ort, den er suchte, befand sich wirklich im äußersten Norden Cantons, noch weit hinter Silberstedt und den letzten bewohnten Außenposten. Wenn er wie geplant noch heute aufbrach, würde er Wochen brauchen, um auch nur in die
Nähe zu gelangen. Falls die Ruinen überhaupt noch existierten, hieß das. Aber zumindest, was das anging, war er mehr als zuversichtlich. Bisher war alles, jedes einzelne Teil des Rätsels, irgendwie zu ihm gekommen. Es würde sich wohl ergeben, wenn er sich auf den Weg machte, ob die vagen Beschreibungen der Ältesten ihn nun zu seinem Ziel brachten, oder nicht.
Er lenkte seine Schritte zum Rand der Siedlung, während er darüber nachdachte, wie es weitergehen sollte. Nach wie vor war nicht einmal sicher, ob er die Reise wirklich antreten sollte. Wenn dieser Ort wirklich eine Rolle in Delias Spiel spielte, dann würde ihr Plan
nicht aufgehen, wie auch immer dieser aussähe, wenn er nicht auch hingehen würde. Vielleicht, dachte Simon, hatte er eine Schwachstelle gefunden, einen Weg, diese ganze Prophezeiung anzuhalten. Götter, wenn dem so wäre… aber das hieße auch, jede Möglichkeit, seine Kräfte je zurückzugewinnen aufzugeben. Ein seltsamer Gedanke. Bisher hatte er sich derart darauf versteift, irgendwie voranzukommen, dass er einfach… vergessen hatte, wieso. Aber konnte er nach allem, was geschehen war, überhaupt noch einen anderen Weg einschlagen?
Ohne es zu merken, hatte er bereits den äußeren Rand des Nomaden-Dorfs
erreicht. Der Waldrand bildete hier eine dichte Mauer aus Baumstämmen und Zweigen und nur an einigen wenigen Stellen verrieten kaum ausgetretene Pfade, wo man sicher hindurch gelangen konnte. Simon betrat einen dieser halb verborgenen Wege. Er hatte in den letzten Wochen genug Zeit gehabt, sich die Umgebung anzusehen, und heute zog es ihm zu einem Platz, den er erst vor einigen Tagen entdeckt hatte. Angst davor, sich zu verirren, musste er keine haben. Die Gejarn patrouillierten die angrenzenden Wälder regelmäßig und es wäre schon ein Wunder nötig, um nicht früher oder später auf einen ihrer Spähtrupps zu stoßen.
Vorsichtig trat er über einen kaum sichtbaren Faden über den Weg hinweg. Hätte er nicht längst gewusst, dass er da war, er hätte ihn wohl übersehen. Und das war auch Sinn der Sache. Das System war so einfach wie narrensicher. Ein Stolperdraht, an dessen anderen Ende eine Glocke hing. Würde eine davon ausgelöst, wäre sofort die ganze Siedlung auf den Beinen, um nachzusehen, welche Fremden so nahe an ihre Häuser herangekommen waren… oder welcher ihrer eigenen Leute so in Eile war, dass er die Drähte ignorierte.
Simon hielt den Blick jetzt ständig zu Boden gerichtet, um den Weg nicht zu verlieren. Auf dem mit Blättern und
Zweigen bedeckten Boden war es schwierig der Spur zu folgen, aber nach einer Weile, lichtete sich der Wald etwas und gab den Blick auf eine breite Wasserfläche frei. Bis auf den schmalen Streifen Land, auf dem Simon sich nun wiederfand, war das restliche Ufer von dichtem Schilf umwuchert, sodass man das andere Ende des Sees nicht sehen konnte. Dafür jedoch zeigten sich ab und an ihm bereits vertraute Lichtpunkte, die zwischen den Schilfgürteln auftauchten und über das Wasser huschten.
Simon ließ sich einige Schritte vom Seeufer entfernt nieder und sah den glühenden Phantomen bei ihrem Tanz zu. Irrlichter, dachte er. Eigentlich
überraschte es ihn kaum, diesen Wesen erneut zu begegnen. Am Ende hatte ein wichtiger Teil seiner bisherigen Reise erst mit ihnen begonnen. Es schien nur passend, dass ein weiterer Abschnitt damit enden würde. Der Gedanke ließ ihn ungewohnt melancholisch werden.
„Wusste ich doch, dass ich Dich hier finde.“, meinte eine Stimme hinter ihm. Kiris trat zwischen einigen Sträuchern hinaus, welche die Waldgrenze bewuchsen. Ein einzelnes Blatt hatte sich in ihren Haaren verfangen, das sie achtlos beiseite wischte.
„Sag jetzt nur nicht, Du bist mir gefolgt.“ Simon sah erneut auf den See hinaus, hauptsächlich, damit Kiris nicht
bemerkte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.
„Ich habe vielleicht gesehen, wie Du nach dem Treffen mit dem Ältesten das Dorf verlassen hast.“, gab sie zu, während sie sich neben ihn setzte.
„Was ist passiert?“
„Grob gesagt, es wird noch einmal ein weiter Weg.“, antwortete er. „Und ich werde Ordt nicht mitnehmen.“
„Und nicht nur Ordt oder ? Du willst mich bitten, auch hierzubleiben.“ Er wusste bereits, dass ihr der Vorschlag nicht gefallen würde. Und dafür gab es zwei einfache Gründe. Welchen Fluch, dachte Simon, habe ich nur auf mich geladen, dass ich die Loyalität und Liebe
derer erhalte, die ich verletze?
„Es sind gute Leute hier, Kiris. Und Maen wird auf Euch achten. Fadrin auch.“
„Darum geht es Dir aber gar nicht.“ , stellte sie fest.
„Seit Fadrin diesen verfluchten Reim erwähnt hat… Du grenzt dich selbst aus Simon. Von uns allen.“
„Und welche Wahl habe ich, außer zuzusehen, wie doch noch jemand meinetwegen stirbt ? Tiege hatte Glück. Die einzige andere Möglichkeit wäre, meine Suche aufzugeben, Kiris. Ich weiß nicht, was besser ist.“
„Und ich kann Dir die Entscheidung nicht abnehmen.“, antwortete sie. „Nicht
einmal wenn ich es dürfte. Wenn Du mich darum bittest, werde ich mit Ordt und den anderen hierbleiben. Aber nur unter einer Bedingung.“
Die wäre?“ , fragte er, während er sich zu ihr umdrehte.
„Komm lebend wieder.“ Kiris klang todernst. Aber das, dachte er, wäre ein Versprechen, dass er nicht geben könnte. Allein der Weg bis in den Norden wäre gefährlich und was ihn dann dort erwartete… die alten Legenden der Ältesten enthielten sicher einen Funken Wahrheit. Es ging hier nur um eines, sagte Simon sich selbst. Was wollte er?
In seinem Kopf fand das reinste Tauziehen statt, zwischen dem
Verlangen, dem allen endlich einen Sinn zu geben, endlich zu beenden, was er vor Monaten begonnen hatte… und der schlichten Tatsache, dass es ihn nicht mehr interessierte. Es war zu viel Zeit vergangen. Seine Fähigkeiten waren dahin. Und er hatte längst gelernt, ohne sie zu leben. Doch er wusste auch, wen er nicht mehr missen wollte. Jeden seiner Gefährten, Ordt, Tiege… Kiris….
Er hob vorsichtig eine Hand und ließ sie hinauf zu ihrer Wange wandern. Die warme Haut unter seinen Fingern, der Blick in Kiris Augen, gab endgültig den Ausschlag. Er wusste, was er wollte. Simon lehnte sich vor und eher als gedacht, fanden sich ihre Lippen, als
Kiris ihm entgegenkam.
Sollte die Seherin doch bleiben wo sie wollte, dachte er, während sie umschlungen zu Boden sanken. Sie lachte, während sie sich auf seinen Schoß zog und erneut küsste. Das war, was er wollte. Er wollte Kiris, die Frau, der er so viel genommen hatte… und ihm vielleicht mehr gegeben hatte, als er ihr vielleicht je ganz klar machen könnte. Und nichts anderes. Vergessen war der Orden, vergessen die Worte düsterer Prophezeiungen und die Rufe des Schicksals. Es war gut, wie es war. Solange er sie hatte. Auf eine Art fühlte er sich zum ersten Mal vollends…
glücklich.