Fantasy & Horror
Ignis

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"Ignis"
Veröffentlicht am 28. Juni 2015, 24 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Ignis

Ignis

Prolog

Am Tag meiner Hinrichtung war das Wetter perfekt.

Die Sonne schien mir sanft auf das dreckige, zerkratzte Gesicht und kein Wölkchen trübte den Himmel. Ein sanfter Windstoß liebkoste meine Arme und Vögel zwitscherten fröhlich dem Mittag entgegen.

Ich erlaubte mir, die Augen zu schließen und den Tag zu genießen. Ich saugte den Duft der bunten Blüten ein und spürte die klare Luft.

„Lauf weiter!“, bellte der Soldat hinter mir und stieß mir grob den Lauf seiner

Pistole in den Rücken. Ich zuckte zusammen und stolperte nach vorne, bis ich wieder hinter dem Mädchen vor mir in der Reihe stand. Drei Leute, sechs Minuten, 25 Meter. Das war alles, was mich noch von meinem Tod trennte.

Mit jedem Atemzug spürte ich das Brennen an meinen Handgelenken mehr. Die Handschellen schnitten mir seit Stunden ins Fleisch, und nun flossen mir ein paar Tropfen Blut über die Hand.

Heute würde noch so viel mehr Blut von mir fließen.

Ich schluckte, doch auch das vertrieb nicht die Angst, die sich in meine Brust geschlichen hatte und immer mehr stieg. Mein Atem wurde schneller, meine Knie

weicher. Die Zeit zog sich wie Kaugummi.

Ich wusste nicht, ob ich darüber froh oder unglücklich sein sollte. "Bald ist es vorbei", dachte ich.

In der Ferne hörte ich eine selbstbewusste Männerstimme über den Marktplatz hallen. Heute hatten sich Tausende von Menschen am Platz versammelt, um uns beim Sterben zuzusehen. Mit „Wir“ waren drei Jungen und zwei Mädchen gemeint. Naja, jetzt waren es nur noch zwei Jungen. Diese Erkenntnis fühlte sich an, als würde jemand einen tonnenschweren Stein auf meine Brust setzen.

Ich war die Letzte in der Reihe. Bald war

es vorbei.

Ich dachte daran, wie ich gefangen genommen wurde.

Ich war mit Jessica in der Stadt gewesen, um von unserem wenigen Geld ein wenig Essen zu kaufen. Als wir wieder nach Hause liefen, kamen wir an einem weinenden Kind vorbei.

Ich beugte mich zu dem geschätzt siebenjährigen Mädchen hinunter. „Wieso weinst du denn?“, fragte ich sie besorgt.

Sie sah mich traurig an, ihre hübschen braunen Augen funkelten in der Dämmerung.

„Weil ich nicht weiß, wo ich schlafen soll.“ Das Mädchen wurde noch

trauriger. „Meine Eltern sind heute früh gegangen und jetzt kommen sie nicht mehr.“

Eine eisige Faust schloss sich um mein Herz. Kein Kind sollte nachts ohne einen Platz zum Schlafen sein, ohne ein Stück Brot zu essen und eine Mutter, um es zu wärmen.

Ich musterte das hübsche Mädchen. Sie war ziemlich dreckig und ihre Kleidung zerlumpt. Sie musste schon seit Monaten auf der Straße leben.

„Wie heißt du?“, fragte ich sie.

„Melina“, antwortete sie, ein zartes Lächeln auf den Lippen. Ich wusste, dass es verboten war. Und trotzdem schrie alles in mir danach, dieses arme

Kind mit unter mein Dach zu nehmen. Ich traf meine Entscheidung.

„Ich bin Vanessa“, stellte ich mich vor und hielt ihr die Hand hin. „Willst du mit zu mir kommen?“

Zuhause sahen meine Eltern traurig Melina an. „Schatz, wir wissen, dass du es gut meinst“, sagten sie, „aber du weißt, dass es verboten ist. Wenn sie dich erwischen würden…das würden wir nicht ertragen.“

Daraufhin brach ein heftiger Streit los.

„Ich weiß, dass es das Richtige ist, Nessie, aber wir können-sie-nicht-aufnehmen!“ Meiner Mutter strömten Tränen übers Gesicht.

„HALT DIE KLAPPE UND HÖR AUF,

MIR ZU SAGEN, WELCHES RISIKO ICH EINGEHEN DARF-DENN ES IST MEINE ENTSCHEIDUNG, MUM, GANZ ALLEIN MEINE!“

Dann kehrte ich zu Melina in mein Zimmer zurück und sperrte ab.

Und zehn Stunden später kamen die Soldaten in unser Haus und nahmen mich mit, während mein Vater die Wächter anschrie und meine Mutter weinte, als würde sie nie wieder aufhören können.

Allein bei der Erinnerung an den Kerker, in den sie mich geworfen haben, begann ich zu zittern. Es war so kalt dort unten gewesen, der Steinboden war hart und kantig und ich war

mutterseelenallein, tausende Meter unter der Erdoberfläche.

Ein lauter Knall riss mich aus meinen Gedanken und ich erstarrte. Der Schuss der Pistole war unverkennbar gewesen. Junge Nr.2, zählte ich mit und mir wurde plötzlich schlecht. Über die Köpfe der anderen hinweg sah ich, wie der Leichnam unsanft weggezerrt wurde, Richtung Scheiterhaufen, wo die Toten verbrannt werden würden. Wo ich bald brennen würde.

2 Leute, 4 Minuten, 23 Meter.

In unserem Land, Titania, wurde Gerechtigkeit so klein geschrieben, dass man eine ziemlich starke Lupe bräuchte, um überhaupt einen Schimmer davon zu

erkennen.

Die Magier herrschten über Titania, durch sie war das Land reich und angesehen. Genauer gesagt war Titania das Zentrum der weltlichen Macht. Wer berühmt werden wollte, startete hier.

Doch die Leute, die die hohen Steuern nicht bezahlen können, verloren alles. Geld, Job, Ruf. Sie waren nur noch die zusammengesunkenen Schatten am Straßenrand, die nach einigen Monaten verhungern. Und wer sie auch nur ansprach, wurde bestraft. Wer ihnen Essen oder Unterkunft gab, musste mit dem Tode bezahlen.

Es war ein großes Land, mit einer Hauptstadt namens Stella - der Stadt, die

heller strahlt als die Sterne. Das erzählt man sich zumindest, denn dort gewesen waren die wenigsten. Stattdessen kannte ich tausende Geschichten, die sich um das Zentrum rankten. Von Magiern, die angeblich für die Drehung der Erdkugel verantwortlich waren; von Sternestaub, den es dort anstatt Wasser regnen würde; von Brunnen, dessen Wasser Unsterblichkeit verlieh und noch viel mehr.

Ich stellte mir die Hauptstadt vor als riesige Ansammlung von Häusern, so viele, dass man das Ende nicht sehen konnte. Ich stellte mir fröhliche Menschen vor, die in wunderschönen, bunten Häusern lebten und in riesigen

Hochhäusern aus Glas arbeiteten. Und nachts erhellten tausende Lichter die Straßen-wie kleine Sterne, die sich die Menschen selbst gebastelt hatten. Auf den Dächern der riesigen Gebäude standen die Magier, webten unbesiegbare Schutzschilder um die Stadt oder erschufen kleine Vögel aus Licht, die einmal über die Stadt flogen und dann in eine Million Funken zersplitterten.

Stella war keine Stadt, sie war in meinen Gedanken ein Paradies.

Ich war traurig, dass ich sie niemals erblicken würde.

Ich hörte ein Keuchen von der Bühne und sah, wie Junge Nr.3 erstickte, das

Seil um seinen Hals gelegt wie eine tödliche Kette.

Das Mädchen vor mir wurde von dem Soldaten Richtung Bühne gestoßen. Wimmernd lief sie los, der Rücken gebeugt, das Gesicht verzerrt. Obwohl ich sie kaum kannte, hatte ich Mitleid mit ihr.

Ein Mädchen, 2 Minuten, 20 Meter.

Ich sah mich das erste Mal richtig um. Ich stand auf einem geteerten Weg inmitten einer Blumenwiese, hinter mir mussten irgendwo die Kerker sein. Vor mir führte die Straße zu der großen Bühne, auf der ein Richter und ein Vollzieher standen. Vor der Bühne stand eine riesige Menschenmasse, bestimmt

fast die ganze Stadt Peisis. Ich kannte viele von ihnen.

Ich wandte meinen Blick ab, als ich das Mädchen schreien hörte. Aus dem Augenwinkel sah ich dennoch, wie der Vollzieher ihr ein Bein abhackte. Meine Unterlippe begann hysterisch zu zittern und schwarze Punkte störten meine Sicht. Ich versuchte, tief durchzuatmen, doch mein Puls raste und mir brach der Schweiß aus. Wieder schrie das Mädchen schmerzerfüllt und in Gedanken malte ich mir aus, wie jemand ihr den Arm abschnitt. Zum Glück hatte ich nichts gegessen, denn ein Würgereiz erfasste mich plötzlich.

Ich sah, wie das tote Mädchen vom

Podium geschleift wurde, in seiner Brust steckte noch immer ein langes Messer.

Meine Zeit war um.

„Beweg dich!“, befahl der Soldat hinter mir und schubste mich nach vorne, sodass ich umfiel und hilflos auf den Asphalt knallte, mit dem Gesicht voran. Meine Hände waren noch immer an meinen Rücken gefesselt.

Der Mann zerrte mich wieder auf die Beine und setzte seine Waffe an meinen Hinterkopf. „Beweg dich!“, wiederholte er energischer. Ich spürte, wie Blut aus einer Schürfwunde über meinem rechten Auge floss. Obwohl ich vor Schmerzen aufstöhnen musste, machte ich einen Schritt vorwärts. Noch einen. Einen Fuß

vor den anderen, immer wieder, während meine Lebenszeit immer geringer wurde.

Ich hob mein Kinn und versuchte, mich möglichst würdevoll zu verhalten-so würdevoll, wie es eben möglich ist, mit meinem zerschundenen Gesicht und den zerrissenen Klamotten, die noch immer nach Kerker stanken.

Langsam stieg ich die vier Stufen zum Podium hinauf. Die Augen aller waren auf mich gerichtet, doch ich registrierte sie kaum. Ich sah nur meine Eltern, die sich an den Händen hielten und weinten. Ich sah Jessica, die aussah, als wolle sie nichts als weg von hier, heraus aus diesem Alptraum. "Ich auch", wollte ich ihr sagen. "Nimm mich mit."

Aber es gab kein Entkommen.

Ich stellte mich auf die Bühne, den Kopf hoch erhoben, der Rücken gerade. "Bis zum Schluss", schwor ich mir. Bis zum Schluss werde ich erhobenen Hauptes gehen und nicht einmal mit der Wimper zucken. Ich bereue meine Tat nicht.

Der Richter ging zum Mikrofon und ich drehte der Menge den Rücken zu, um ihn anzusehen.

„Wir haben uns heute versammelt“, meinte er, „um die Strafe von Vanessa Rebecca Black zu vollziehen. Sie wird wegen dem Aufnehmen der Ausgestoßenen Melina Clarkson angeklagt. Miss Black, bestätigen Sie diese Aussage?“ Der Richter sah mich

an. Es war ganz still, sodass man eine Stecknadel hätte fallen hören.

„Ja“, sagte ich leise, wie zu mir selbst. „Ja!“, sagte ich nochmal, diesmal so laut, dass das Wort über den gesamten Platz hallte.

Der Richter setzte seine Rede fort.

„Dann verurteile ich Sie, Miss Black, im Namen des Gesetzes von Titania, zum Tod durch den Strang.“

Ich atmete ein und genoss es mit jeder Zelle meines Körpers, im Wissen, dass ich bald keinen Atemzug mehr tun würde.

Der Vollzieher führte mich zum Galgen. Meine Knie fühlten sich an wie Wackelpudding, als ich auf den Stuhl

stieg und meinen Hals durch die Schlinge steckte. Als ich in die Menge schaute, starrten mich tausende Augenpaare wie gebannt an.

Dass ich ersticken würde, schien mir wie die grausame Ironie des Schicksals. Schließlich musste ich schon jetzt nach Luft schnappen, um nicht an meiner Angst zu ersticken. Die Angst hatte sich in meinem Herz eingenistet, sie war mein treuer Wegbegleiter, und sie würde nicht von meiner Seite weichen, bevor mein Herz nicht stehenblieb.

Und dann ging alles so schnell.

Ich spürte, wie mein Herz zu explodieren schien vor Angst. Und mit

meinem Herz explodierte die gesamte Welt, sie zersplitterte vor meinen Augen in tausend Teile, ging in Flammen auf, während Menschen schrien, Steine auf die Erde niederprasselten und alles zu Chaos wurde.

Und ich stand in der Mitte des Spektakels, wie eine Königin, noch immer auf dem Stuhl, der mir nun wie ein Thron erschien.

Ich war unbeschädigt, doch langsam wurde es still. Der ganze Platz war voll von Rauch, und es dauerte eine Minute, bis ich wieder klar sehen konnte. Bis heute wünsche ich, der Rauch hätte sich niemals verzogen, um mir diesen grauenhaften Anblick zu offenbaren.

Auf dem gesamten Platz stapelten sich förmlich die Leichen der Menschen, als wäre der Rauch der Tod gewesen, der alle mitgenommen hatte. Sie waren zerfetzt-hier ein paar Arme, da ein Fuß oder ein Kopf-und Bäche aus Blut flossen über den gesamten Platz. Kein Lebender weit und breit-ich sah nur abertausende von zerfetzten Leichen, vor mir, hinter mir, neben mir. Überall Tote. Und Blut. So viel Blut.

Sprengstoff.

Ich begann zu schreien, ich schrie und schrie und schrie. Mum. Dad. Jessica. Ich konnte keinen von ihnen auf dem riesigen Schauplatz des Todes erkennen. Tränen strömten mir über die Wangen,

als ich von der Bühne krabbelte, meine Beine zu wacklig um zu stehen. Nach wenigen Sekunden war ich blutbeschmiert. Ich war ein kleines Mädchen, das in einem Stapel von Leichen nach den Leuten suchte, die sie liebte, den Leuten, die für immer verloren waren.

Ich rappelte mich auf, nur um einige Schritte später wieder zu fallen. Ich hörte Knochen brechen, als ich auf einer Leiche landete. Ich öffnete die Augen und starrte in das Gesicht der Frau, die mich vor dem Tod beschützen wollte.

Mum. Ihre Gesichtszüge waren erstarrt, ihre Augen zu einem stummen Schrei des Entsetzens geöffnet. Ihr fehlten die

Beine und ein Arm, und selbst der am wenigsten talentierte Mensch der Welt hätte erkannt, dass sie tot war. Mitgenommen. Für immer verloren an einem Ort, der für mich unerreichbar war.

„Mum“, stieß ich erstickt hervor, und schluchzend umarmte ich den Rest ihres toten Körpers. „Ich liebe dich“, flüsterte ich. „Komm zurück.“

Doch sie starrte noch immer in die Ferne, an einen Ort, den ich nicht kannte.

In diesem Moment schwor ich mir, den zu töten, der für dieses Massengemetzel verantwortlich war. Der die Bomben gelegt hatte.

„Gute Reise“, flüsterte ich und schloss meiner liebevollen Mutter sanft die Augen.

Und dann stand ich auf, meine Wut trieb mich an wie ein Motor und ich lief zu der idyllischen Blumenwiese, die nichts von dem Massengemetzel erkennen ließ, dass mich dahinter erwartet hatte.

Doch trotz der gewaltigen Rachsucht in meinem Herzen gaben meine Knie bald nach, und alles wurde schwarz.

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Gillegan Das ist ein starkes Stück Story. Ja, vielleicht kommt die Rachlust etwas übereilt, aber ganz ehrlich: ich wollte nur kurz reinlesen und bin dann von einem Satz zum nächsten gehechtet. Du hast einen sehr sauberen und flüssigen Schreibstil, das allein macht schon Spaß. Dazu kommt eine tolle Einführung und greifbare Darstellung. Nicht zu viele und nicht wenig Details und das Tempo stimmt. Ich bin auf die nächsten Kapitel gespannt.
LG
Gillegan
Vor langer Zeit - Antworten
LunaBielle hmm... ich frage mich inständig, was das zu bedeuten hat! Bin einmal gespannt wie du die Geschichte weiterführst! Ob die Rachsucht nicht vielleicht ein bisschen zu früh einsetzt. Ich wär als erstes vielleicht einmal geschockt und würde mich frage, was da gerade passiert wäre und nicht gleich nach Rache aus. Hätte jetzt auch nicht so nach der Vorgeschichte mit Jessica, Vanessa so eingeschätzt, dass sie gleich denkt, ich muss den töten, der das angestellt hat.. aber wie gesagt, bin gespannt auf die Weiterführung!
Liebe Grüße
*Luna
Vor langer Zeit - Antworten
09876 Ja, wahrscheinlich hast du recht-ich bin leider noch ziemlich unerfahren...;)
Aber deswegen stelle ich ja die Story ein-um mal ein paar gute Ratschläge zu bekommen. Danke für die Rückmeldung!
LG 09876
Vor langer Zeit - Antworten
LunaBielle Ich hab das auch nicht böse gemeint :) aber das hat mich irgendwie stutzig gemacht. Sonst find ich deinen schreibstil nämlich Super! :)
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09876 Dankeschön
Vor langer Zeit - Antworten
adventor89 
... ein interessanter Text. Wenige wagen sich an diese thematische Schnittstelle. Von daher ist es eigentlich immer faszinierend, wie sich jemand in diese Gedankenwelt so vieler Geschundenen begibt.

Viele Grüße
Michael
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