Kapitel 34 In der Falle
Tageslicht! Nach der Dunkelheit in den Bibliothekssälen blendete es Simon fast, als sie endlich die Haupttore erreichten. Die große Eingangshalle der Bibliotheken Varas unterschied sich deutlich von den überfüllten Räumen der übrigen Bauten. Eine hohe, von schweren Sandsteinsäulen getragene, Decke erzeugte beinahe das Gefühl, sich unter freiem Himmel zu befinden. Während das allgegenwärtige Wasser der Stadt mehrere kleine Zimmerbrunnen speiste. Manche davon waren sogar in
die Wände der Halle selbst integriert und vielen über Stufen oder Miniaturalkoven zu fadendünnen Wasserfällen ab, die irgendwo am Boden des Raums in Abflüssen mündeten.
Das ständige Plätschern wurde nur vom Geräusch ihrer eigenen Schritte übertönt. Simon wagte es jedoch nicht, anzuhalten und zurückzublicken. Roderick hatte ganz sicher nicht aufgegeben…. Nach all der Zeit hatte der Attentäter, den Erik auf ihn gehetzt hatte, sie also endlich wiedergefunden.
Simon, Kiris und Alastor stolperten durch die offen stehenden Tore der Halle hinaus ins Freie. Einen Moment, glaubte er tatsächlich, sie hätten es geschafft.
Vor dem Tor lag ein kleiner Platz, kaum größer als die Absätze auf der großen Treppe, die nach unten führte. Das Licht der Sonne brach sich in einem kleinen Teich, der die Mitte der kreisrunden Steinfläche einnahm. Die Parkanlagen darum herum jedoch, wurden von einer Mauer aus bewaffneten Männern versperrt. Simon wurde langsamer, als sich Dutzende von Gewehrläufen auf ihn und die Anderen richteten und auch von der Treppe her tauchten nun Soldaten auf, alle das Sternenwappen Varas aus ihrer Kleidung tragend.
Wenn sie das nicht Roderick zu verdanken hatten….
Simon merkte, wie Alastor sich neben
ihm anspannte. Er schüttelte den Kopf. Das würde nichts werden. Sein alter Lehrmeister war kein Kämpfer und selbst mit Magie…. Es reichte, wenn eine einzige Kugel sie erreichte.
„Lasst gut sein.“, murmelte Simon leise.
„Was machen wir jetzt?“ , wollte Kiris wissen.
„Ich habe keine Ahnung.“, gab er zu, während er verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Vielleicht wenn sie schnell waren und sich wieder in die Bibliothek zurückzogen? Aber das würden sie niemals Alle schaffen. Und er war nicht bereit, Alastor oder Kiris zu opfern um zu entkommen. Sie saßen in
der Falle.
Hinter ihnen erklangen nun erneut eilige Schritte. Als Simon den Kopf drehte, erkannte er Roderick, der mit gezückter Waffe aus der Eingangshalle gerannt kam. Der Meuchelmörder wurde langsamer, als ihm klar wurde, dass etwas nicht stimmte und seltsamerweise entdeckte er so etwas wie…. Ärger auf seinem Gesicht ? Sie waren ihm doch direkt in die Falle gelaufen, dachte Simon.
„Simon Belfare.“ Ein einzelner Mann, der einen schweren Stahlkürass trug, drängte sich durch die Reihen der Schützen. Auch im Metall der Rüstung prangte das Wappen Varas.
„Ihr wurdet des Verrats an Kaiser Tiberius Ordeal für schuldig befunden. Und in Anbetracht der Umstände, dass Ihr eurer Strafe schon mehrmals entflohen seid… wird sie sofort vollstreckt.“
Simons Gedanken rasten. Was sollte er tun? Hinter ihnen versperrte Roderick den Weg, vor ihnen die Stadtwache. Und jetzt schien es, hatte das gegen ihn erlassene Todesurteil nicht einmal mehr einen Aufschub…. Er atmete tief durch. Sie könnten Kämpfen. Und vielleicht würde einer von ihnen entkommen. Und dann gab es noch eine andere Möglichkeit. Simon trat, die Arme erhoben vor.
„Junge, was tust Du?“, fragte Alastor und versuchte ihn, am Arm zurückzuhalten.
„Zur Abwechslung einmal das Richtige…“, erklärte er und es überraschte ihn selbst, das seine Stimme nicht zitterte. Vielleicht gab es für ihn keinen Ausweg. Das hieß aber nicht, dass das gleiche auch auf Alastor oder Kiris zutraf. „Ja ich bin weggelaufen. Aber jetzt nicht mehr. Tut was Ihr tun müsst, aber meine beiden Begleiter hier lasst gehen. Sie haben damit nichts zu tun. Einer ist ein angesehener Zauberer dieser Stadt.“
Der Mann im Kürass nickte.
„Ich erkenne Meister Alastor.“ Und
an seine Männer gerichtet fügte er hinzu: „Lasst sie durch. Sie müssen das nicht mit ansehen.“
Zwei der Männer nickten und bildeten einen schmalen Durchgang, blieben jedoch angespannt, sollte Simon versuchen, zu fliehen. Das, dachte dieser, könnten sie sich sparen. Er würde das Leben der anderen nicht gefährden.
„Simon…“ weder Alastor noch Kiris machten Anstalten, sich zu rühren, aber es war Kiris, die ihre Stimme als erste wiederfand.
„Geht, jetzt. Sie werden Euch keine zweite Gelegenheit geben.“
„Du bist verrückt, das weißt Du?“, fragte Alastor.
„Im Gegenteil.“ Oder vielleicht war es tatsächlich Wahnsinn, wie sollte er das wissen? „Und jetzt geht endlich.“ Alastor seufzte, dann setzte er sich jedoch langsam in Bewegung. Kiris jedoch, blieb stehen, wo sie war. Simon fürchtete, sie würde nicht auf ihn hören, dass sie vielleicht zu stur sein könnte. Wenn nötig, würde er den Hauptmann der Stadtwache eben bitten, sie wegzuschaffen….
„Wartet!“
Die Stimme, die ihn, sowie die wartenden Gardisten aufschrecken ließ, kam aus dem Inneren der Bibliothek. Roderick trat unter dem hohen Torbogen heraus, nach wie vor das Schwert in der
Hand. Der Zauber, mit dem Alastor ihn angegriffen hatte, hatte den Stahl leicht verbogen. Götter, das Letzte was er jetzt gebrauchen konnte, war, das Roderick und die Gardisten sich darum stritten, wer ihm umbringen durfte. Doch die Worte des Attentäters ließen einen Moment wieder so etwas wie Hoffnung in ihm aufkommen.
„Ich brauche ihn lebend.“
Der Anführer der Stadtwache, wendete sich dem Neuankömmling scheinbar entspannt zu. Ein schwaches Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Offenbar hielt er Roderick nicht wirklich für eine Bedrohung.
„Und wer seid Ihr, das von mir zu
fordern?“ Roderick antwortete nicht, doch Simon konnte sehen, wie der Mann sein Gegenüber musterte. Der Blick des Attentäters wanderte ohne jede Hast zwischen den Stadtwachen, Simon, Kiris und Alastor hin und her. „Das werdet Ihr erfahren…“
Ordt war außer Atem, als er und Tiege den Brunnenplatz vor der Bibliothek erreichten. Zwar war es ein Leichtes gewesen, der Stadtwache zu folgen, aber die Männer hatten es ganz offenbar eilig. Und sie wiederum durften nicht entdeckt werden. Die graden
Straßen Varas erlaubten es ihnen, genug Abstand zu halten und ihr Ziel trotzdem nicht aus den Augen zu verlieren. Das hieß, bis der gesamte Wachtrupp vor einer halben Stunde einfach verschwunden war. Jetzt, wurde dem Wolf auch klar, wieso. Die Männer hatten die Straße verlassen und die große Treppe am anderen Ende des Platzes erklommen, doch wagten sie sich offenbar nicht weiter vor, sondern bildeten lediglich einen Halbkreis vor dem Zugang zur Bibliothek. Wenn Simon und Kiris schon dort waren, saßen sie jetzt in der Falle, dachte Ordt.
Tiege dachte offenbar dasselbe, denn der Fuchs überprüfte bereits sein
Schwert.
„Wir müssen etwas tun.“, erklärte er lediglich.
Ordt nickte.
„Ihr seid der Einzige von uns mit einer Waffe.“
„Das, lässt sich ändern.“ Der Gesichtsausdruck des Paladins verdüsterte sich. „Folgt mir.“
Ohne darauf zu achten, ob der Wolf ihm auch wirklich nachging, setzte der Fuchs sich in Bewegung und hastete die Stufen der Treppe hinauf. Ordt sah ihm einen Moment unentschlossen nach. Geister, was glaubte er alleine gegen eine ganze Abteilung Soldaten auszurichten? Vor allem, wo diese mit
Gewehren bewaffnet waren? Wenn sie jemand kommen hörte. Ordt wischte die Gedanken beiseite. Er würde nicht hier herum stehen und abwarten, was passierte….
Die Gärten, die sie auf dem Weg nach oben passierten, bildeten einen krassen Gegensatz zu der Anspannung, die in der Luft lag. Außer ihren eigenen Schritten und den leisen Geräuschen, die von der Stadt heraufdrangen, war es absolut ruhig. Zu ruhig. Eigentlich hätten die blühenden Beete und Bäume vor Leben summen müssen, doch nicht einmal die Insekten zeigten sich und die Vögel schienen ihre Stimme verloren zu haben. Ordt blickte die Treppe hinauf und sah,
das sie es so gut wie geschafft hatten. Im gleichen Moment jedoch, legten plötzlich sämtliche der am Tor wartenden Schützen an. Er konnte durch die Reihen der Männer nicht genau erkennen, was vor sich ging, aber eines war klar, sie hatten keine Zeit mehr. Und genau in diesem Augenblick geriet alles außer Kontrolle.
Mit einem letzten Satz erreichte Tiege einem Augenblick vor ihm die letzte Stufe und hechtete auf den Platz vor dem Bibliothekstor hinaus. Der Fuchs wurde erst gar nicht langsamer. Die Klinge des Paladins beschrieb einen Bogen, während er mitten unter die wartenden Schützen rauschte. Ordt sah,
wie die erste Stadtwache mit einer klaffenden Wunde im Rücken zu Boden ging. Die übrigen Männer waren über das plötzliche Auftauchen des Gejarn zu überrascht, um sich schnell verteidigen und die schweren Feuerwaffen kamen ihnen jetzt eher in die Quere, als das sie einen Vorteil boten. Nur wenige Schüsse lösten sich, die Kugeln surrten harmlos an ihnen vorbei. Rasch zog der Fuchs den Degen des Soldaten, den er zuvor gefällt hatte und warf Ordt die Klinge zu. Jetzt, dachte der Wolf, sah die Sache schon anders aus. Die eben noch dichte Formation aus Schützen begann sich aufzulösen, als sich mehr und mehr der Männer ihren neuen Gegnern zuwandten.
Inmitten des lichter werdenden Kreises jedoch, erkannte Ordt nun auch Simon und Kiris… und einen dritten Mann, den er nicht kannte. Trotzdem spürte er auf Anhieb ein vertrautes, bedrohliches Kribbeln am ganzen Körper, als er ihn erblickte. Magie… lange Zeit, darüber nachzudenken, hatte er jedoch nicht, als sich ein Stadtwächter in der Uniform eines Offiziers auf ihn stürzte. Ordt entkam grade noch einem Schwerthieb, der auf seine Rippen zielte, konnte aber nicht ganz verhindern, dass er getroffen wurde. Ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Seite folgte, als das Schwert des Offiziers seinen Körper streifte. Ein Krater, mehr nicht, aber er würde ihn
langsamer machen….
Rasch riss der Wolf das Schwert hoch um den nächsten Hieb seines Gegners zu parieren, als dieser ohne Vorwarnung von den Beinen gerissen wurde. Ordt spürte die Druckwelle, die den Mann davontrug und die Treppe hinab stieß. Sein Blick wanderte zu dem alten Magier an Simons Seite. Dieser ließ die Hände langsam sinken und nickte ihn einen Moment zu.
Kiris hatte derweil einer der gefallenen Stadtwachen ebenfalls eine Waffe abgenommen und reichte sie an Simon weiter. Im gleichen Moment sank einer der Wachmänner zu Ordts rechter Seite in sich zusammen, als ihn ein
Wurfmesser in den Hals traf. Der Wolf sah auf. Eine einzelne Gestalt, halb in den Schatten des Torbogens der Bibliothek verborgen, zog bereits ein zweites Messer aus ihrem Stiefel. Die dunkle Kleidung machte es nicht unbedingt leichter, etwas zu erkennen, aber irgendetwas an ihr kam ihm beunruhigend vertraut vor. Die Art, halb auf den Knien dazusitzen, während sie nach den Waffen griff… beinahe so, als wollte sie sich ergeben. Er hatte das schon einmal gesehen….
„Und ich hatte schon gedacht, ich sehe Euch nie wieder.“ Simon war an seiner Seite aufgetaucht, ebenfalls ein Schwert haltend. „Was haltet Ihr davon,
wenn wir die Beine in die Hand nehmen, bevor jemand klar wird, das wir nur zu fünft sind?“
„Klingt nach einem Plan.“, rief Tiege zurück, der sich eines weiteren Gegners entledigte, der versucht hatte, in seinen Rücken zu kommen.
Mit einer fließenden Bewegung wirbelte der Fuchs herum und schlitzte dem Mann die Kehle auf.
Ordt nickte und spähte in Richtung Treppe. Von den ursprünglich knapp zwanzig Stadtwachen lagen nun fünf Tod am Boden, während die übrigen versuchten, sich gegen einen Angriff zu verteidigen, der für sie aus jeder Richtung gleichzeitig zu kommen schien.
Wenn sie hier wegwollten, dann bevor es jemanden gelang, die Truppe wieder zu organisieren. Der Wolf ließ die Waffe sinken und gab den anderen ein Zeichen ihm zu folgen. Zwei weitere Soldaten versuchten sich ihm in den Weg zu stellen, bevor sie die Stufen nach unten erreichten. Den Ersten ließ er nahe genug für einen Angriff herankommen. Noch während der Mann das Schwert hob, war Ordt bereits an ihm vorbei und versetzte ihm einen Schlag mit dem Degenknauf gegen den Kopf. Für heute war genug Blut geflossen, dachte er, während der Soldat in sich zusammensank. Der Zweite, bekam es mit dem für Ordt immer noch
namenlosen Zauberer zu tun. Der alte Mann brauchte nicht einmal mehr einen Zauber wirken. Einen Moment, blieb der Wächter nur reglos stehen, bis sein gegenüber Anstalten machte, die Hand zu heben, dann suchte er das weite.
Der Weg war frei…
Ordt wartete an den Stufen, bis Simon und die anderen an ihm vorbei waren. Sie hatten Glück gehabt, dachte er, während er ihnen folgte. Und das auf mehr als eine Weise. Er dachte wieder an den Schatten zurück, der ihnen eben scheinbar zur Hilfe gekommen war. Und jetzt wurde ihm auch klar, woher er diese Art zu kämpfen, kannte. Roderick… aber warum bei allen
Geistern bekämpfte der Mann die Stadtwache? Vielleicht wollte er seine Beute ganz einfach nicht teilen. So oder so, mit etwas Glück, würden die restlichen Soldaten ihn erledigen…. Jetzt mussten sie nur noch aus Vara entkommen.