Kurzgeschichte
Der Hochzeitstag

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"Der Hochzeitstag"
Veröffentlicht am 15. Juni 2015, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Tatiana Navrotskaya - Fotolia.com
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Über den Autor:

Ich schreibe, male, tanze, spiele Theater um mich auszudrücken, um ein Ventil zu finden meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Der Hochzeitstag

Der Hochzeitstag

„Weißt du eigentlich was heute für ein Tag ist?“ Ernst hält inne und blickt seine Frau über den Rand seiner Zeitung hinweg an. „Überrasche mich“, sagt er und legt seine Zeitung weg um einen Schluck Tee zu trinken. „Unser Hochzeitstag“, sie sieht ihn erwartungsvoll an und fährt sich nervös mit der Hand durch die Haare. „Ach, dann sollten wir heute Abend etwas besonderes kochen.“ Er lächelt sie an. Er wirkt etwas gestresst, denn er ist in Eile. Heute ist ein wichtiger Tag in seiner Firma. Wie eigentlich fast jeder Tag. „Musst du denn heute wirklich den ganzen Tag arbeiten?“ Er hat seinen Tee ausgetrunken und steht auf. „Tut mir

Leid ich muss los“, sagt er und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. „Wir reden heute Abend.“ Er ist weg und sie sitzt alleine am Tisch. Sie blickt in ihre halbleere Tasse Tee. Sie mag ihn nicht mehr. Sie braucht jetzt einen Kaffee. Am besten einen richtig starken mit einem Schuss Rum drin. In der Stadt wird sie sich einen holen. Dafür hat sie Zeit. Sie hat sich  den ganzen Tag frei genommen.

Ihr Mann hasst Kaffee. Und er hasst Alkohol und Zigaretten. Sie hat sich auf eine Bank gesetzt, in der einen Hand ihren Kaffee, in der anderen eine qualmende Zigarette. Sie hat das seit Jahren nicht mehr getan. Für eine Weile

bleibt sie hier sitzen. Ein Augenblick der Genugtuung. Trotzdem wird er nichts davon erfahren. Dafür wird sie schon sorgen. Es nicht gut für die Gesundheit, sagt er. Er hat Recht, (das weiß sie). Doch sie genießt es trotzdem. Stress ist auch nicht gut für die Gesundheit, aber das sagt sie ihm nicht. (Er würde sie nicht hören.) Danach geht sie für einige Zeit spazieren. Viele Menschen kommen an ihr vorbei. Glückliche Menschen, Menschen die sich gegenseitig Blumen schenken, die Arm in Arm nebeneinander sitzen, die sich küssen, die nicht ihren Hochzeitstag vergessen, die ihren Hochzeitstag feiern. „Mathilde“, ruft

jemand ihren Namen. Ist sie gemeint? Kennt sie die Stimme? Sie dreht sich um. Ja, sie kennt die Stimme. Es ist Alex, der Sohn ihres Mannes aus einer früheren Ehe. Mit beschwingtem Schritt kommt er auf sie zu. Mittlerweile ist er 23, ein sympathisch aussehender junger Mann. Als sie damals Ernst kennengelernt hatte war er gerade 15, probierte sich im Zeichnen von Comics und trug eine Zahnspange. Jetzt will er Künstler werden. „Was machst du denn hier in der Stadt, so alleine? Feiert ihr nicht heute euren Hochzeitstag?“, fragt er. „ Dein Vater muss arbeiten“, erwidert sie. Sie hofft, dass er nicht näher heran kommt, sonst würde er den

Rauch riechen. „Oh, warum hat er sich nicht freigenommen?“ „Es ging wohl nicht. Zu viel zu tun.“ Sie zuckt mit den Achseln und sieht weg. „Wie geht es eigentlich deiner Mutter? Möchte sie immer noch nach Kanada auswandern?“ Sie weiß eigentlich nicht so recht warum sie das jetzt fragt. Vorher hat es sie nie wirklich interessiert. „Ja, den Plan hat sie tatsächlich schon ausgeführt. Ich hätte sie nie für jemanden gehalten, der so etwas tut. Aber sie wohnt dort jetzt schon seit ein paar  Wochen.“

Sie ist erstaunt. „Wie kommt es, dass ich nichts davon weiß?“ Aber im selben Moment wo sie das fragt wird es ihr wieder klar. Eine dumme Frage. „Ach es

war recht spontan.“, antwortet er. Doch das ist nicht die eigentliche Antwort. Es wäre so gewesen, als hätte sie gefragt, ob sein Vater davon weiß. „Soll ich deinen Vater von dir grüßen?“ „Ja, mach's ruhig.“ „Hoffentlich sehen wir uns mal wieder“, sagt sie. „Ja, hoffentlich. Noch einen schönen Hochzeitstag“, wünscht er. Sie sieht ihm nach, wie er den Bürgersteig entlang schlendert. Sie muss daran denken, was für ein gutes Gedächtnis die Jugend hat. (Sie denkt, früher war sie auch einmal so dynamisch.)

Am Abend kommt Ernst gewohnt spät nach Hause. Er hat Überstunden gemacht.

Das war wirklich wichtig. (Das war nötig). Sie hat schon gegessen. Essen vom Asiaten. Als er kommt, ist sie gerade ins Bett gegangen. Aber sie ist noch wach. Sie recherchiert. Nach Jobangeboten in Frankreich. Nur mal so, um zu sehen was möglich wäre. Ein alter Traum aus ihrer Jugend, der wieder Gestalt angenommen hat. Als er zu ihr ins Bett kommt, klappt sie den Laptop zu. Er fragt, was sie gemacht hat, sie antwortet, nach ihren E-Mails gesehen. Er muss es ja nicht wissen. Er würde es nicht verstehen. Erschöpft streckt er sich auf dem Bett aus. Er entschuldigt sich dass er nicht früher kommen konnte. Sie versteht es. Sie versucht es

jedenfalls. Nachdem er ihr versprochen hat, dass sie ihren Hochzeitstag am Wochenende nachholen, legt er sich schlafen.  Kurz darauf hört sie ihn schnaufend ein und aus atmen. Aber sie selbst bleibt noch eine Weile wach. Sie denkt nach, über all die unausgesprochenen Worte zwischen ihrem Mann und ihr. Schlafen kann sie nicht, auch wenn sie es versucht. Schließlich steht sie auf. Im Wohnzimmer geht sie unruhig auf und ab. Sie weiß, dass sich etwas verändern muss, aber sie ist sich unsicher, was sie machen soll. Sie fühlt, dass sie sich nach sich selbst sehnt. Nach der, die sie einmal war. Nach ihrem jüngeren Ich.

Am morgen sieht ihr Mann sie auf dem Sofa liegen. Wie eine einsame Seele liegt da. Er spürt wie fremd sie ihm geworden ist.

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Gedankensalat
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FabiusM Deine Geschichte hat mich echt berührt.
Ich denke es gibt einige solcher Beziehungen.
Vor langer Zeit - Antworten
Gedankensalat Ja, Ich habe versucht mich ein bisschen da hinein zu versetzen
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Manchmal bedarf es keiner Worte um sich zu verstehen, manchmal sind Worte notwendig um zu verstehen ... wenn beides nicht möglich ist, sollte Bilanz gezogen werden.
Deine Geschichte gefällt mir. Gern gelesen!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Gedankensalat Danke:)
Vor langer Zeit - Antworten
Gaenseblume Gern gelesen. LG Marina Gaenseblume
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Gedankensalat Dank dir für deinen Kommentar!
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