Kapitel 32 Alte Bekannte
Simon stand einem Geist gegenüber. Der Mann schien in den letzten Jahren kaum gealtert zu sein.
Die grauen Haare waren wie eh und je im Nacken zusammengebunden und ließen ein kantiges, von der Sonne und dem Alter zerfurchtes, Gesicht erkennen, das teilweise unter einem sauber gestutzten Bart verborgen war. Das einzige, was sich an der Gestalt
verändert hatte, waren mehrere deutlich sichtbare Narben, die sich über die linke Gesichtshälfte bis über den Hals hinab zogen und unter seiner Kleidung verschwanden. Die dunkelgrüne, mit braunen Ziernähten versehene, Robe des Mannes ließ ihn größer erscheinen, als er eigentlich war. Zwar stützte er sich mit der linken behandschuhten Hand auf einen Stab ab und ging leicht gebeugt, doch Simon wusste, dass er ihm selbst aufgerichtet grade bis zur Brust reichte.
„Nein… Alastor. Das hatte ich tatsächlich nicht erwartet.“, antwortete er kalt. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, während er darauf wartete, dass der Mann etwas tat. Aber sein alter
Lehrmeister rührte sich nicht, wie er dort auf dem Treppenabsatz stand. „Ihr wart immerhin tot.“
„Zumindest, hast Du das geglaubt.“ Alastor verlagerte sein Gewicht etwas, als bereite es ihm Schmerzen, länger stillzuhalten.„Ich habe Dir alles beigebracht, was Du damals wusstest. Das heißt aber nicht, dass Du auch schon alles wusstest, was ich weiß.“
„Wie habt Ihr überlebt?“ , wollte Simon nur wissen und verfluchte sich, dass er keine Waffe dabei hatte. Warum war Alastor hierhergekommen? Wusste er bereits, dass seine Kräfte geschwunden waren und suchte Rache? Alles andere schien wie Selbstmord. Wäre dieser
Mann ihm vor ein paar Monaten über den Weg gelaufen, er wäre wohl kaum dazu gekommen, auch nur den Mund aufzumachen. Jetzt jedoch…. „Und wichtiger, was wollt Ihr?“
„Vielleicht nur mit Dir reden.“ Alastors Stimme zeigte zum ersten Mal so etwas wie Emotion. „Es ist lange her. Und ich habe, trotz allem, verfolgt was Du getan hast. Du warst immerhin mein vielversprechendster Schüler.“
Er klang beinahe… besorgt? War es das? Aber um was sollte dieser Bastard sich Sorgen machen? Höchstens darüber, das Simon eben mit bloßen Händen zu Ende brachte, was ihm beim letzten Mal offenbar nicht gelungen war. Nein… er
konnte spüren, dass die alte Wut auf seinen ehemaligen Meister nach wie vor da war. Aber das flammende Inferno, das Alastor einst verzehrt hatte, war zu Glut geworden. Simon würde sie nicht wieder anheizen. Gleichzeitig wollte er den Mann aber auch so schnell wie möglich loswerden. Er hatte genug Probleme….
„Ich allerdings habe nichts mit Euch zu bereden.“, erklärte er und drehte sich in Richtung Bibliothek um. Je eher er fand, was er suchte, desto schneller könnte er auch wieder hier verschwinden.
Kiris, die das Gespräch bisher schweigend verfolgt hatte, sah einen Moment zwischen dem entstellten
Zauberer und Simon hin und her. Dieser hatte bereits die Hälfte der Stufen hinauf zur Bibliothek hinter sich gebracht.
„Wartet. Nur einen Moment.“
Obwohl er es nicht wollte, hielt Simon an. Allerdings, wagte er es nicht, sich erneut zu Alastor und ihr umzudrehen. Er fürchtete, was er sonst tun könnte. Verdammt, seit wann nimmst du Rücksicht auf Leute, die du verabscheust? , fragte ihn eine sarkastische Stimme in seinem Kopf. Seit Neuestem, kam die Antwort.
„Ich habe mit diesem Mann nichts mehr zu schaffen Kiris. Wenn ihr mich sucht, ich warte in der Bibliothek.“ Mit diesen Worten ging er weiter, eine Stufe
nach der anderen, während der alte Zauberer und Kiris alleine auf dem Treppenabsatz zurückblieben.
Kiris sah ihm nach, bis er durch die offenen Tore der Bibliotheksgebäude verschwunden war. Nur schwer konnte sie sich davon abhalten, ihm zu Folgen. Sie hatte diesen seltsamen, verwirrten Mann nun schon in fast allen denkbaren Situationen erlebt. Wütend, resigniert, sogar so etwas wie glücklich. Aber noch nie derart… verbittert und kalt. Langsam wandte sie sich wieder Alastor zu. Simon hatte ihr zwar von diesem Mann erzählt… aber ihn jetzt vor sich zu haben, war doch etwas anderes. Es
wollte schlicht nicht zu der grenzenlosen Ablehnung passen, die der einstige Ordensoberste für seinen Lehrmeister reserviert hatte. Allerdings, schien bei Simon selten etwas ihren Erwartungen zu entsprechen, dachte Kiris.
„Wie ich sehe hat er sich in all den Jahren kein bisschen verändert.“, meinte Alastor seufzend und ließ sich auf dem Treppenabsatz nieder, das linke Bein von sich gestreckt und den Gehstock über die Beine gelegt.
„Ich glaube, das wäre das Letzte, was ich behaupten würde.“ Die letzten Wochen, die der Zauberer sie nun begleitete, hatte sie mehr Überraschungen erlebt, als in den
Monaten davor. Und nicht alle davon waren negativ, oder? „Ich… kenne ihn vielleicht nicht so wie ihr, aber… ich habe gesehen, wie dieser Mann sein Leben riskiert hat um andere zu retten.“ Und gleichzeitig hatte sie gesehen, wie er Hunderte Leben auslöschte, die ihm im Weg standen. Wie konnte ein Mensch eine derart zwiespältige Persönlichkeit haben… und dabei nicht wahnsinnig werden? Gedankenverloren ließ Kiris die Kette an ihrem Hals durch die Finger gleiten. Die Waage daran glitzerte im Sonnenlicht, das durch die Zweige der Bäume am Rand der Treppe fiel. Schwarz und Weiß, Richtig und Falsch, das, hatte man ihr einmal beigebracht,
waren zwei Seiten einer Medaille, einer flachen Münze. Es gab keine Zwischenstufen. Und sie hatte es immer als Wegweiser genutzt, wenn es darum ging, das Beste für Stillforn zu erreichen. Das Beste… und es hatte im Feuer geendet, nicht?
Vielleicht gab es letztlich Graustufen dazwischen. Jede Münze, hatte einen Rand. Und Simon schien eine Gradwanderung darauf zu vollführen. „Und er hat mir auch von euch erzählt. Und doch… kenne ich nur eine Version der Geschichte. Was ist damals passiert?“
„Ich fürchte, zu meiner Schande muss ich gestehen, das was er euch erzählt hat, größtenteils der Wahrheit
entsprechen dürfte. Er war noch ein Kind, als er zu mir kam.“, meinte Alastor. „Aber selbst damals wusste ich schon, über welche Macht er gebot. Ich denke, manchmal… hatte ich Angst vor ihm. Vor dem, was aus ihm werden könnte.“
„Ihr habt ihn gefoltert.“, erwiderte Kiris. Sie konnte nicht anders, als den Kopf zu schütteln, wenn sie darüber nachdachte. „Er mag genau das geworden sein, was ihr befürchtet habt, aber damals war er ein halbes Kind. Glaubt ihr wirklich, das wäre irgendwie zu entschuldigen? Weil ihr… Angst hattet? Ihr hättet ihn einfach nicht weiter Unterweisen können.“
„Dann hätte es jemand anderes getan. Und ich habe nicht vor, mich dafür zu entschuldigen, das ich getan habe, was nötig war um die Welt zu schützen.“
„Es hat nicht funktioniert.“
„Nein… an jenem Tag… meine Furcht stand meinem gesunden Menschenverstand im Weg. Ich habe erst sehr spät erfahren, dass Simon letztendlich keine Schuld traf. Nicht daran zumindest. Er hat sich nur verteidigt. Aber ihr müsst verstehen, wie Magie funktioniert. Zauberei ist Macht. Und je mehr Macht das Individuum bekommt… desto leichter wird es korrumpiert. Manche machen sogar den Fehler, sich für allmächtig zu halten.
Meist mit tödlichen Folgen, nicht nur für sie. Ich wollte lediglich nicht der Schöpfer eines weiteren Monsters sein.“
Kiris musterte den sichtlich in sich zusammengesunkenen Magier schweigend. Erneut, das war nicht, was sie erwartet hatte. Alastor empfand Reue, das konnte sie spüren. Und bisher hatte sie sich doch auf ihr Gespür immer verlassen können. Und doch war der Mann mindestens so stur wie Simon. Götter, wo geriet sie hier nur wieder rein?
„Nun… Simon ist davon jetzt zumindest weit entfernt.“, erklärte sie schließlich. Nur ob es der Wahrheit entsprach? Sie sah zur Bibliothek hinauf.
Was würde geschehen, wenn er hier die Antworten fand, die er suchte, wenn er seine Fähigkeiten zurück gewann? Es schien Wahnsinn ihm auch nur den Rücken zuzukehren. Und doch… ich glaube er hat sich in den letzten Wochen sehr verändert, Alastor. Nicht nur, weil ihm offenbar seine gesamte Magie… abhanden gekommen ist.“
„Wie?“ Nun trat statt Trotz, verhohlene Neugier in die Stimme des alten Zauberers. „Verzeiht, aber das wäre das erste Mal, dass ich davon höre, dass ein Magier seine Begabung einfach… verlieren kann. Sicher wir könnten vergessen, wie man sie nutzt, aber was Ihr sagt wäre so ähnlich, als wenn Ihr
behauptet, er hätte seinen Kopf verloren.“
„Das offenbar auch.“, meinte Kiris und musste kurz grinsen. „Aber ich mag diese neue Seite von ihm. Jedenfalls mehr als die Alte, die ich erlebt habe.“
„Dieser Junge…“ Alastor schüttelte den Kopf und die Art, wie er die Worte betonte…. Nein, Simon war weit davon entfernt, noch ein Kind zu sein, aber für diesen Mann war er es wohl weiterhin. Scheinbar ins Nichts starrend, hob Alastor die linke Hand und Streifte den Handschuh daran ab. Die Haut, die darunter zum Vorschein kam, war genauso von Kreuz und Quer verlaufenden Narben gekennzeichnet,
wie sein Gesicht… und vermutlich auch der Rest einer Körperhälfte. Er hatte zwar gemeint, dem Angriff Simons entkommen zu sein, aber offenbar hatte er dafür keinen geringen Preis gezahlt. „Das war er… und trotzdem sorge ich mich um ihn. Und vielleicht möchte ich um Verzeihung bitten…“
„Dann tut es.“
„Er hört mir nicht zu, das habt ihr doch eben selbst erlebt… Kiris, oder?“
„Das wohl nicht…“ Kiris zögerte einen Moment. „Aber, ich glaube, mir hört er für gewöhnlich zu.“
„Dann wärt ihr die Erste.“, erwiderte Alastor und lachte kurz auf. Ein trockener, ungesund klingender Laut.
„Er mag euch, oder?“
„Ich… weiß es nicht.“, antwortete sie.
Die Frage des Zauberers brachte sie aus dem Konzept. Es ging hierbei nicht um sie… oder zumindest, dachte Kiris, hatte es das bis grade eben nicht getan.
Alastor nickte nur, als würde das bereits alles beantworten, bevor er aufstand.
„In diesem Fall… Gehen wir ihm nach.“, meinte er und machte sich auf den Weg die Stufen hinauf. Kiris blieb einen Moment ratlos stehen, bevor sie sich daran machte, ihm zu folgen. Hätte sie sich jedoch in diesem Moment umgedreht, wäre erneut vielleicht alles
anders gekommen. So jedoch entging ihr der schwarz gekleidete Mann, der hinter einem der Brunnen auftauchte und die beiden Gestalten auf der Treppe genau beobachtete.
Roderick wartete, bis auch die Frau und der alte Mann in den Gebäuden auf dem Hügel verschwunden waren. Es wäre ein leichtes gewesen, sie hier draußen zu stellen, aber wie sich herausstellte, war es klug gewesen, zu warten. Mit Simon und seiner Begleiterin hatte er gerechnet, aber nicht, mit dem dritten Mann, der sie auf ihrem Weg aufgehalten hatte. Und auch wenn dieser gebrechlich
wirkte… er konnte die Magie, die von ihm ausging beinahe riechen. Zwei Zauberer waren einer zu viel, zumindest wenn er einen von ihnen lebend gefangen nehmen musste. Und was mit den anderen beiden Begleitern Simons war, wusste er ebenfalls noch nicht. Vor allem einer, machte ihm dabei Sorgen. Tiege… er hätte nie gedacht, seinem alten Schüler noch einmal über den Weg zu laufen. Schon gar nicht so. Was immer der Fuchs hier wollte, er würde es noch herausfinden, dachte Roderick. So oder so, seine Pläne verzögerten sich nur geringfügig. Roderick zog langsam ein Messer aus seinem Gürtel. Er durfte ihn nicht töten, erinnerte er sich. Das hieß
aber nicht, dass er ein Risiko eingehen würde. Zusammen mit dem Messer, zog er ebenfalls eine kleine Glasphiole aus einer Schlaufe daneben. Darin befand sich eine klare, leicht gelbliche Flüssigkeit. Vorsichtig und darauf bedacht, auf keinen Fall einen Tropfen des Inhalts zu verschütten, entfernte Roderick den Korken auf der Phiole. Das Gift kostete ein kleines Vermögen, aber wenn es seinen Zweck erfüllte, wäre es seinen Preis wert. Vorsichtig trug er es in einer dünnen Schicht auf die Messerklinge auf, wo es sofort trocknete und eine glasartige Patina bildete. Ein einziger Schnitt damit wäre lähmend. Und wenn der Zauberer zu viel
Widerstand leistete, wäre eine größere Wunde auch tödlich….
Schritte, die sich rasch näherten, rissen ihn jedoch aus seinen Gedanken. Rasch ließ er die Klinge wieder verschwinden, während er sich zu dem Geräusch umdrehte. Ein Dutzend, wenn nicht mehr, Männer mit dem Emblem der Stadt Vara auf ihrer Kleidung, kamen auf den Brunnenplatz hinaus gestürmt. Roderick wich langsam etwas zurück. Das allerdings, dachte er, gehörte nicht zum Plan. Irgendjemand außer ihm musste Simon noch erkannt haben…