Romane & Erzählungen
Ardee

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"Ardee"
Veröffentlicht am 13. Juni 2015, 96 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Ardee

Ardee









.....................Für Valentin....................







1. Kapitel

Ich stand auf einer Insel. Und um mich herum flossen Ströme von Autos, Motorrädern und Lastwagen. Der Verkehr war ohrenbetäubend. Aber ich hörte ihn nicht. Ich drückte meine Kopfhörer so tief in meine Ohren, dass es wehtat. High Hopes von Kodaline erfüllte meinen gesamten Körper, auch wenn ich meine eigenen Hoffnungen schon lange aufgegeben hatte. Mein Blick war starr auf die rote Fußgängerampel auf der anderen Straßenseite gerichtet. Ich schob die Hände tiefer in die wärmenden Taschen meines viel zu großen Parkers. Sie

schützten meine Finger, meine Handgelenke. Wer gab mir diese Geborgenheit? Es war ein kalter Oktobermittwoch und ich fühlte mich verloren, fühlte mich allein. Die Ampel wurde grün, doch ich rührte mich nicht. Zwei Mädchen kicherten als sie an mir vorbei gingen. Es verletzte mich, aber ich verzog keine Miene. Starrte einfach weiter auf das inzwischen grüne Männchen. Nach einer Weile trat ich auf die Straße. Langsam. Ich machte kleine Schritte, die Ampel nicht aus den Augen lassend. Ich spielte auf Zeit. Wie jeden Tag. Wenn die Ampel auf rot sprang, während ich mich noch auf der Straße befand, würde das

Abendessen für mich an diesem Tag ausfallen. In Zeitlupe überquerte ich die Straße. Irgendwo hupte es. Es interessierte mich nicht. Einen Meter vor dem Gehweg atmete ich erleichtert auf. Die Ampel war wieder Rot geworden. Ich beschleunigte meinen Schritt und machte, dass ich wegkam. Es war ein lächerliches Spiel. Ich wusste schon bevor ich es begann, dass ich verlieren würde. Dass die Ampel schneller sein würde als ich. Und ich verlor jedes Mal, genau wie ich es wollte, wie ich es plante. Ich wollte einen Grund haben, eine Ausrede, nicht essen zu müssen. Ich hatte es nicht verdient. Also war ich die Siegerin.

Ich hatte die Kontrolle. Und so musste es sein. Ich heiße Ardee. Sechzehn. Magersucht, vielleicht seit einem Jahr. Ich hab aber ganz ehrlich nicht die Tage gezählt und hab auch kein melodramatisches Tagebuch mit einbruchssicherem Plastikschloss geführt, in dem ich es nachlesen könnte. Ist aber auch völlig egal, wann der ganze Mist angefangen hat. Scheiße ist nur, was sich daraus entwickelt hat. Keine schöne Sache. Echt beschissen, um ehrlich zu sein. Und auch wenn ich es niemals zugeben würde, ich brauche dringend

Hilfe. Obwohl meine Existenz und meine gesamte Erscheinung ein Witz waren, setzte ich einen Fuß vor den anderen. Auf dem Bürgersteig versuchte ich so nah wie es eben ging an der Hecke zu gehen und dabei möglichst weit von Fahrradweg und Straße entfernt zu bleiben. Von zu schnellen Bewegungen wurde mir schwindelig. Aus einem Fenster strömte der Duft nach fettigem Essen. Ich sog ihn ein, so tief ich konnte. Es war das einzige, das ich heute noch bekommen würde. Noch mehr Schritte. Ich spürte meine Beine nicht. Durch das Fell meiner Jacke kniff ich in meinen Bauch. Fest. Ich wollte ihn

spüren, den Schmerz. Spüren, dass ich doch noch da war. Mein Bauch war taub. Ich ging einfach weiter. Schneller, immer schneller. In meinem Kopf der ewige Rechner. Bei meiner Größe und meinem Gewicht konnte ich in dreißig Minuten zwischen 170 und 180 Kalorien schaffen, 200 wenn ich mich beeilte. Ich hatte keine Lust. Mein Kopf war zu müde zum denken und meine Beine zu schlapp zum gehen. Und doch hörte ich nicht auf. Ich lief immer weiter. Ich fror. Und noch einen Schritt schneller. Ich spürte wie mein Puls stieg. Die Adern pochten in meinem Hals. Es fühlte sich gut an. Häuser und Passanten flogen an mir vorbei, ohne dass ich sie

so recht wahrnahm. Die Welt konnte mich mal. Ich merkte, wie sich langsam der äußerste Kreis meines Blickfeldes verdunkelte. Ich musste husten, lief noch schneller. Mittlerweile rannte ich fast. Es war, als berührten meine Füße nicht mehr den Boden, als schwebte ich durch die Straßen. Es wurde immer dunkler. Ich stolperte. Und dann. Nichts. Ich wachte auf, starrte gegen eine Decke. Sie bestand aus quadratischen Platten mit lauter Punkten darin. Das Weiß war von der Zeit beinahe grau geworden. Ich vernahm ein stetiges Piepen ganz in der Nähe. Mein Puls? Durch das Fenster fiel helles Licht in das

sterile Zimmer. Ich war im Krankenhaus. Hastig wollte ich mich aufsetzen, doch mein Kopf tat weh. Ich sah mich um. Mein Bett stand am Fenster. Mir gegenüber befanden sich ein kleiner Fernseher und ein Tisch mit zwei Stühlen. Vermutlich für Besucher. Rechts neben mir stand noch ein Bett. Es war leer. Ich war allein. Was war passiert? Ich konnte mich noch an meinen Sieg über die Ampel erinnern, aber danach war alles weg. Ein Unfall? Ich griff unter der Decke an meine Beine, um mich zu vergewissern, dass sie noch dran waren. Waren sie. Auch sonst schien ich keine Verletzungen zu haben. Jemand hatte in

meiner Ellenbeuge einen Zugang gelegt. Und vom Infusionsständer neben meinem Bett floss irgendeine durchsichtige Flüssigkeit durch einen Schlauch in meine Adern. Was war das? Mein Herz schlug schneller. Mit zitternden Händen berührte ich meine Nase. Fuhr mit den Fingern ihre Konturen ab. Nichts. Keine Magensonde. Vor Erleichterung musste ich kurz auflachen. Ich schlug die grässlich grüne Decke zurück um meine Beine zu betrachten. Sie waren immer noch deutlich zu dick, schienen aber nicht an Umfang zugenommen zu haben, seit ich sie das letzte Mal angeguckt hatte. Langsam begann mir das Piepen

auf die Nerven zu gehen. Ich warf einen wütenden Blick auf den Monitor. Was war passiert? Plötzlich vernahm ich schnelle Schritte und laute, panische Rufe. Ich erkannte die Stimme meiner Mutter. Gott war die hysterisch. Ich starrte auf die gelb lackierte Tür und wartete, bis meine Mutter sie öffnen und mir in die Arme fallen würde. Ich musste nur wenige Sekunden warten. „Schätzchen, was machst du denn für Sachen?“ Mit schmerzhaftem Druck umklammerte sie meinen Torso. Ich versuchte mit all meiner Kraft ihre Umarmung zu erwidern, konnte aber nicht annähernd so viel aufbringen, wie eine liebende Mutter, krank vor Sorge um

ihr einziges Kind. „Mum, was ist passiert?“ Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und ihr verzerrter Blick bereitete mir ein schlechtes Gewissen. Waren das Tränen? „Sie haben mich angerufen. Du bist auf der Straße zusammengeklappt. Einfach so. Gott, Süße, ich hab mir so große Sorgen um dich gemacht!“ Zusammengeklappt. Verwirrt fragte ich, was dieser Aufstand solle. In meinem riesengroßen Unverständnis kam mir alles vor wie eine riesengroße Übertreibung. Mum musste ein Schluchzen unterdrücken. „Ardee, sie können dich nicht gehen lassen. Der Arzt sagt, deine Blutwerte

sind viel zu schlecht. Du bist zu dünn geworden, Mäuschen!“ Ich starrte sie an. Nein. Ich starrte durch sie hindurch. Ich durchbohrte sie. Zu dünn? War dieser Gott in Weiß denn blind? „Ich habe denen gesagt, dass wir es erst mal ohne Sonde probieren. Aber sie wollen dich noch hier behalten. Liebes, du musst, du musst wirklich essen!“ Sie presste die Finger gegen die Schläfen. „Wie konnten wir nur so blind sein? Wir haben es nicht bemerkt. Wie konnten wir nur…“ Bevor ich auch nur die Chance hatte, sie zu trösten, fing sie sich wieder. Sie atmete tief durch und lächelte mich an. Es war ein falsches

Lächeln. „Also Schatz“, sagte sie während sie sich von der Bettkante erhob, sie würde mal Bescheid sagen, dass ich aufgewacht war. Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, stellte meinen Rucksack neben das Bett und verließ dann, hektisch in ihrer Handtasche kramend, das Zimmer. Ich starrte die Tür an, die meine Mutter hinter sich geschlossen hatte. Sie war so hässlich, wie mein Leben. Einen Tag später ging es mir scheiße. Sie zwangen mich, zu essen. Und wie viel! Ich durfte nicht mal das Bett verlassen, außer, wenn ich aufs Klo musste. Magersucht. So meine Diagnose.

Die Ärzte kamen andauernd mit jeder Menge Werkzeug und Fragen. Es langweilte mich. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie viele Kalorien ich wegen dieser Parasiten zu mir nehmen musste. Und abtrainieren war natürlich auch nicht mehr drin. Keiner hier verstand mich und sie wollten es nicht mal. Klar, wenn man immer schon dünn war, hat man selber eben keine Ahnung, wie es ist, jede Hose zu sprengen und jeden Stuhl unter sich knarren zu hören. Ich konnte nicht schlafen, wegen der Stille in meinem Kopf. Ich redete mit niemandem. Nicht mal mit der netten Krankenschwester, die immer bei den Mahlzeiten bei mir saß und mich beim

Essen observierte. Ich nannte sie CIA. Ich konnte mich nicht gegen die Mahlzeiten wehren. Alles musste so hingenommen werden, wie die Ärzte es verordnet hatten. Mal ganz davon abgesehen, dass ich unter Sicherheitsvorkehrungen stand, wie ein scheiß Terrorist, hatte ich auch überhaupt nicht die Kraft, mich gegen irgendjemanden oder irgendetwas zu wehren. Ich wollte an nichts denken, nichts hören, mit niemandem reden. Meine Mutter hatte ich seit gestern nicht mehr gesehen. Sie war „terminlich verhindert.“ Wie immer. Sie arbeitete in der Marketing-Abteilung eines großen Handy-Konzerns, die Arbeit war ihr

Leben. Ein Meeting hier, ein Personalgespräch da, ein mehrtägiges Seminar dort. Ihren Schreibtisch sah sie fast dreizehn Stunden am Tag. Mich höchstens eine. Mein Vater war Bauingenieur bei einer internationalen Firma. Er reiste um die Welt und plante Flüsse, Staudämme und so Zeugs. Das letzte Mal hatte ich ihn in den Sommerferien letztes Jahr gesehen. Geschwister waren mir nie vergönnt gewesen. Nicht mal eine Schildkröte oder so. Dementsprechend gähnend langweilig war mein zu Hause. Hier im Kinderkrankenhaus war zwar mehr los, spannender war es aber trotzdem nicht. Schreiende Kinder,

überforderte Eltern, geschäftiges Personal. Ich saß in meinem Bett, die Beine angewinkelt und sah aus dem Fenster, das dringend nochmal eine Reinigung hätte vertragen können. Die Bäume, langweilig. Die Wolken, deprimierend. Der Himmel, nicht zum aushalten. Ich schwang meine Beine aus dem Bett und saß eine Weile auf der Kante, um meinen Kreislauf zu regulieren. Zum Glück hatte ich diese furchtbare Krankenhausuniform ausziehen, und mir dafür meine karierte Pyjama Hose und ein weites Sweatshirt meiner High School anziehen dürfen. Die Hose schlabberte überall. Vielleicht sah ich so

wenigstens dünner aus. Meine Lieblingsschuhe standen auf der Fensterbank. Rote Chucks. Langsam stand ich auf. Mein Ziel: die Schuhe. Uns trennte nur ein Schritt. Meine Beine zitterten. Sofort wurde mir schwindelig. Ich hielt mich am Vorhang fest und schloss die Augen. Das hatte ich oft in letzter Zeit. Während ich wartete, dass es besser wurde, zählte ich die ersten Primzahlen auf, bis ich wieder vernünftig gehen konnte. Ich brauchte vielleicht zehn Sekunden. Dann schnappte ich die Schuhe und schlüpfte hinein. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, sie zuzubinden.

Als ich mich in Richtung Tür bewegen wollte durchfuhr mich ein Schmerz an meinem linken Arm. Shit, der Zugang. Wütend sah ich den Infusionsständer an. Aber, irgendwie tat er mir leid. Er sah aus, als wollte er auch endlich mal dieses öde Zimmer verlassen. Deswegen, und weil ich dummerweise auf ihn angewiesen war, griff ich ihn mit der rechten Hand und führte ihn behutsam zum Spiegel neben der Badezimmertür. Ich sah aus wie geschlagen. Meine Haut war leichenblass und ich hatte dunkle Ringe unter meinen honigbraunen Augen. Ich war ungeschminkt, auch wenn das kaum einen Unterschied

machte, weil ich sonst auch nur Wimperntusche zum Verschleiern der Wahrheit benutzte. Die roten Locken hatte ich von meinem Dad, der blöde Ire. Aber sie waren schon lange nicht mehr so rot und so lockig wie früher. Sie waren dick und flossen hinab bis zur Mitte meines Rückens. Ich hatte keine Lust sie zu kämmen, für wen denn auch? So tief war ich dann doch noch nicht gesunken, dass ich einem zweijährigen Hosenscheißer schöne Augen machen musste. Der Infusionsständer gefiel mir besser als ich. Ich betrachtete uns im Spiegelbild. Ich hatte diesen Jungen in meiner Stufe, der etwa die gleiche

Schulterbreite hatte, wie mein Infusionsständer. Er hieß Larry. Ich beschloss, das wunderbare Geschöpf zu meiner Rechten ebenfalls Larry zu taufen. Ja, der Name erschien mir passend. Ich wusste, dass ich das Zimmer eigentlich nicht verlassen durfte, aber auf dem Flur schlug ich CIA mit den Schwächen, die ihr Beruf eben mit sich brachte. Mitleid und Kinderliebe. Also war ich frei, Larry und mich von Station 3 in einen großen Flur zu bugsieren. Zum Glück klapperte er nicht, wie viele andere alte Gestelle dieser Art, so dass ich nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf mich zog. Die Ärzte, die wichtig

aussahen, oder sich dafür hielten, würdigten mich sowieso keines Blickes. Das kannte ich schon. Im Zimmer waren sie nett zu dir, aber eigentlich warst du nur eine Zahl, eine Akte unter vielen, die sie nach der Visite sofort wieder vergaßen. Konnte man ihnen aber auch nicht übel nehmen. Die Bewegung tat gut, auch wenn sie für eine aktive Kalorienverbrennung bei weitem zu lahm war. Ich schlurfte also durch den breiten Gang des städtischen Kinderkrankenhauses, mit den Augen, die Muster des Teppichbodens verfolgend. Ich war so vertieft in die Verzweigungen, dass ich auf nichts anderes achtete. Auch nicht auf die

Glastür direkt vor meiner Nase. Ich, tollpatschig wie immer, lief genau dagegen. Ouch. Ich wurde rot und hoffte, dass das niemand gesehen hatte. Doch plötzlich hörte ich hinter mir ein Kichern. Ausgelacht zu werden war für mich schon lange nichts Neues mehr. Also drehte ich mich nicht um, sondern machte einen jämmerlichen Versuch, die schwere Tür zu öffnen. Ging natürlich nicht. Dieser ätzende Jemand hinter mir gluckste immer noch. „Du musst hier draufdrücken“. Die Stimme war tief. Und irgendwie warm. Aber auch nur irgendwie. Verlegen

drehte ich mich um. Da stand ein Junge, vielleicht ein bisschen älter als ich. Ziemlich groß, schlank, aber sicher sportlich. Auf jeden Fall hatte er breitere Schultern als Larry. Seine kurzen, hellbraunen Haare ragten senkrecht von seinem Kopf empor, wie die Skyline von New York. Sein Blick war offen, freundlich. Obwohl er immer noch über mein Fauxpas mit der Tür grinste. Ich konnte seine Augenfarbe auf die Entfernung nicht erkennen, aber sie waren groß und sahen ehrlich aus. Er sah mich fragend an und deutete auf den Türöffner neben ihm. Ich nickte. „Ja danke.“ Murmelte ich. Er sah weder besonders gut, noch besonders schlecht

aus. Einfach natürlich. Er war schlicht gekleidet. Jeans, graues T-Shirt, eine geöffnete Jacke, die aussah wie von einem Football Verein. Schnell wandte ich den Blick ab und trat ein paar Schritte in seine Richtung, um nicht auch noch von der gerade aufgehenden Tür erschlagen zu werden. Ich richtete meinen Blick wieder auf den Boden. Versuchte ihn zu ignorieren. Mein Blick fiel auf seine Schuhe. Dunkelblaue Chucks. Ich musste unwillkürlich Lächeln. Und obwohl ich ihn nicht sah, wusste ich, dass er diese Geste erwiderte. Als die Tür weit genug geöffnet war, dass ich mit Larry hindurch passte, versuchte ich möglichst

schnell das Feld zu räumen. Er schien mir zu folgen. „Hey“ rief er. „Scharfes Gerät“. Verdattert drehte ich mich um und starrte ihn ungläubig an. Sein Grinsen wurde breiter. „Also eigentlich mein‘ ich deinen rostigen Begleiter da mit dem Beutel drin.“ Erklärte er amüsiert und deutete auf Larry. „Infusionsständer“, korrigierte ich ihn. Irgendwie war sein Lachen ansteckend, ich hielt mich zurück. „Ja ziemlich heißes Teil. Und hey, ihr habt ungefähr die gleiche Statur“, er zwinkerte und fand wohl, dass er grade einen ganz besonders guten Witz gemacht

hatte. Ich erstarrte. Für ein paar Sekunden hatte er dafür gesorgt, dass ich meinen Körper und meine Gedanken ans Essen für eine Weile hatte vergessen können. Und jetzt gab mir dieser Dreckskerl alles doppelt zurück. Wieso hatte ich überhaupt angefangen mit ihm zu reden? Er war kein bisschen besser als alle anderen. Die großen Türen schwangen hinter uns wieder zu. „Idiot“, knurrte ich, bevor ich mich abwandte und mich davon machte. Tränen stiegen mir in die Augen. Wieso hatte er das bloß gesagt? „Warte doch mal! Hey, ich, ich wollte dich nicht verletzen.“ Er lief mir vor die

Füße und ging in meinem Tempo rückwärts, so dass ich ihn angucken musste. Ich antwortete nicht. Sein Grinsen war fast schon provokant. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund störte es mich nicht. Oh, wow, ich mochte das Grinsen eines Arschlochs. „Okay, okay, Mädchen mit dem scharfen Infusionsständer. Vielleicht hat sie doch ein paar mehr Muskeln als du.“ Er blieb stehen. Ich zwangsläufig auch. „Aber du“, er zeigte ausladend mit seiner großen Hand auf mich, „hast viel schönere Augen.“ Ich musste lachen. Der Typ hatte sie nicht mehr alle. Sein Lachen hatte etwas Warmes, Herzliches. Es machte mir Angst.

„Es ist ein Er“, berichtigte ich diesen seltsam anmutigen Kerl und sah gespielt beleidigt zu Larry. Er sah ungläubig von mir zu dem Ding, das mich mit Flüssigkeit vollpumpte, und wieder zu mir. „Oh ja, klar, selbstverständlich. Wie konnte ich das bloß übersehen." Ironie, glaubte ich. Auch wenn diese schon immer eine meiner größten Schwächen gewesen war. Seine Augen waren braun. Dunkelbraun, wie ein tiefer, überwachsener Wald an einem Herbstabend. Sie waren das schönste an ihm. Gleich nach seinem schiefen Lächeln.

"Wie heißt du?" Sein Interesse wirkte echt. Ich war unsicher. Sollte ich diesem ehrlich fragwürdigen Jungen, der mich innerhalb einer Minute verletzt und zum Lachen gebracht hatte, meinen Namen sagen? Ich verstand nicht, wieso ihn das überhaupt interessierte, Seit Monaten hatte mir kein Typ mehr einen anderen Blick als den voller Abscheu zugeworfen. Erwartungsvoll zog er die Augenbrauen hoch. Noch ein Lachen. "Ardee", entgegnete ich schließlich. Wir mussten ein Stück zur Seite gehen, weil grade ein ziemlich dicker Junge mit Problemhaut in einem Krankenhausbett vorbeigeschoben wurde. Ich blickte ihm

nach. Er sah krank aus. Ich bestimmt auch. Seine Stimme lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn, der mittlerweile lässig an der Wand lehnte. Einen Fuß an der Raufasertapete. "Ardee." Es war als würde er mit sich selber reden. Ich genoss wie er meinen Namen aussprach und hätte mein Gehirn dafür am liebsten geschlagen. Plötzlich wurde mir klar wie ich eigentlich aussah. Wenn ich Glück hatte ging ich als bessere Vogelscheuche durch. Und wenn schon. Wem sollte ich denn gefallen? Mister Ich-hab-einen-Lachnerv-eingeklemmt von der Geschlossenen etwa?

"Woher kommt der?" Fragte er mit neugierigem Blick. Er betrachtete meine Haare, die sicher in alle Richtungen abstanden. Naja, seine ja auch. Wenigstens ein kleiner Trost. Vom langen Stehen wurde mir schwindelig. Ich schüttelte den Kopf. Keine gute Idee. "Was?" Ich hatte vergessen worüber wir geredet hatten. Als wäre es das natürlichste auf der Welt wiederholte er seine Frage mit unübersehbarer Geduld. "Dein Name. Der ist schön. Woher kommt der?" "Oh. Das, das ist ein Dorf in Irland. Meine Eltern haben sich da

kennengelernt." Meine Stimme war fest und hart. Kalt. Tiefe Abneigung. Jeder Andere wäre schon längst wieder abgehauen. Normalerweise erfüllte meine ablehnende Art ihren Zweck, alleine gelassen zu werden. Aber der hier war ganz schön penetrant. Gut, dann eben härtere Geschütze auffahren. Ich räusperte mich und sah bedeutungsvoll zu seinem Fuß an der Wand. „Den solltest du vielleicht da runter nehmen. Die stehen hier nicht so auf willkürliche Beschmutzung von städtischem Eigentum.“ Er sah mich unverwandt an. Es wurde langsam unangenehm. Bestimmt wurde ich rot.

Ich sah zu Boden. Wie immer. Wieso ging er nicht einfach? Er sollte gehen, wie alle anderen es auch immer taten. „Wieso bist du eigentlich hier? Du wirkst nicht grade krank oder so.“ Desinteresse. Nicht, dass er noch dachte ich würde mich ernsthaft dafür interessieren. Er kam sowieso von der Psychiatrischen. Anders konnte ich mir seine vollkommen unpassende Anwesenheit an diesem deprimierenden Ort nicht erklären. Wie Obama in irgendeinem indischen Slum. „Mein Bruder hat sich den Oberschenkel angeknackst. Der liegt da drüben.“ Er deutete auf den vierten Flur, direkt neben meinem. Dabei strecke er seinen

Arm ziemlich schnell, ziemlich unerwartet und ziemlich nah an meinem Gesicht vorbei. Oh nein. Schnelle Bewegungen. Augen zu. 2, 3, 5, 7, 11. „Hey, alles okay?“ Besorgt. Ich klammerte mich am Infusionsständer fest. Vage spürte ich seine Hand auf meiner Schulter, hatte aber nicht die Kraft sie runter zu stoßen. 13, 17, 19. Es wurde besser. „Ja“, sagte ich leise, die Augen vorsichtshalber noch immer geschlossen, „schätze ich.“ Er nahm die Hand von meiner Schulter und verschränkte die langen Arme vor seiner Brust. Dabei warf seine Jacke Falten, so dass das M

vorne auf der linken Seite nun mehr aussah wie die Kinderzeichnung eines halben Hauses. „Und du? Was machst du hier?“ Er ließ mich also immer noch nicht gehen. Ich würde es ihm ganz sicher nicht erzählen. Das ging ihn überhaupt nichts an. Ich wand mich, spielte mit dem Gedanken einfach wegzugehen. Aber irgendwas hielt mich ab. Also log ich. „Ich häng' hier nur so ein bisschen rum“, antwortete ich ganz beiläufig. Er lächelte überlegen. Als hätte er mich durchschaut. Ich erwiderte seinen Blick. „Achso. Und den hier“, er deutete auf Larry, „ haben sie dir gratis mit dazu gegeben, was?“ Wir starrten uns an. Ich

würde nicht nachgeben. Mir war klar, dass er Bescheid wusste, auch wenn mir der Grund seines Interesses absolut unschlüssig war. Ich zog die Augenbrauen hoch. Er tat es mir gleich. Er wusste es. Und trotzdem sprach er es nicht aus. Oder vielleicht auch grade deswegen.

Ich stand auf einer Insel. Und um mich herum flossen Ströme von Autos, Motorrädern und Lastwagen. Der Verkehr war ohrenbetäubend. Aber ich hörte ihn nicht. Ich drückte meine Kopfhörer so tief in meine Ohren, dass es wehtat. High Hopes von Kodaline

erfüllte meinen gesamten Körper, auch wenn ich meine eigenen Hoffnungen schon lange aufgegeben hatte. Mein Blick war starr auf die rote Fußgängerampel auf der anderen Straßenseite gerichtet. Ich schob die Hände tiefer in die wärmenden Taschen meines viel zu großen Parkers. Sie schützten meine Finger, meine Handgelenke. Wer gab mir diese Geborgenheit? Es war ein kalter Oktobermittwoch und ich fühlte mich verloren, fühlte mich allein. Die Ampel wurde grün, doch ich rührte mich nicht. Zwei Mädchen kicherten als sie an mir vorbei gingen. Es verletzte mich, aber ich verzog keine

Miene. Starrte einfach weiter auf das inzwischen grüne Männchen. Nach einer Weile trat ich auf die Straße. Langsam. Ich machte kleine Schritte, die Ampel nicht aus den Augen lassend. Ich spielte auf Zeit. Wie jeden Tag. Wenn die Ampel auf rot sprang, während ich mich noch auf der Straße befand, würde das Abendessen für mich an diesem Tag ausfallen. In Zeitlupe überquerte ich die Straße. Irgendwo hupte es. Es interessierte mich nicht. Einen Meter vor dem Gehweg atmete ich erleichtert auf. Die Ampel war wieder Rot geworden. Ich beschleunigte meinen Schritt und machte, dass ich wegkam. Es war ein lächerliches Spiel. Ich wusste

schon bevor ich es begann, dass ich verlieren würde. Dass die Ampel schneller sein würde als ich. Und ich verlor jedes Mal, genau wie ich es wollte, wie ich es plante. Ich wollte einen Grund haben, eine Ausrede, nicht essen zu müssen. Ich hatte es nicht verdient. Also war ich die Siegerin. Ich hatte die Kontrolle. Und so musste es sein. Ich heiße Ardee. Sechzehn. Magersucht, vielleicht seit einem Jahr. Ich hab aber ganz ehrlich nicht die Tage gezählt und hab auch kein melodramatisches Tagebuch mit einbruchssicherem Plastikschloss geführt, in dem ich es

nachlesen könnte. Ist aber auch völlig egal, wann der ganze Mist angefangen hat. Scheiße ist nur, was sich daraus entwickelt hat. Keine schöne Sache. Echt beschissen, um ehrlich zu sein. Und auch wenn ich es niemals zugeben würde, ich brauche dringend Hilfe. Obwohl meine Existenz und meine gesamte Erscheinung ein Witz waren, setzte ich einen Fuß vor den anderen. Auf dem Bürgersteig versuchte ich so nah wie es eben ging an der Hecke zu gehen und dabei möglichst weit von Fahrradweg und Straße entfernt zu bleiben. Von zu schnellen Bewegungen wurde mir schwindelig. Aus einem Fenster strömte der Duft nach fettigem

Essen. Ich sog ihn ein, so tief ich konnte. Es war das einzige, das ich heute noch bekommen würde. Noch mehr Schritte. Ich spürte meine Beine nicht. Durch das Fell meiner Jacke kniff ich in meinen Bauch. Fest. Ich wollte ihn spüren, den Schmerz. Spüren, dass ich doch noch da war. Mein Bauch war taub. Ich ging einfach weiter. Schneller, immer schneller. In meinem Kopf der ewige Rechner. Bei meiner Größe und meinem Gewicht konnte ich in dreißig Minuten zwischen 170 und 180 Kalorien schaffen, 200 wenn ich mich beeilte. Ich hatte keine Lust. Mein Kopf war zu müde zum denken und meine Beine zu schlapp zum gehen. Und doch hörte ich

nicht auf. Ich lief immer weiter. Ich fror. Und noch einen Schritt schneller. Ich spürte wie mein Puls stieg. Die Adern pochten in meinem Hals. Es fühlte sich gut an. Häuser und Passanten flogen an mir vorbei, ohne dass ich sie so recht wahrnahm. Die Welt konnte mich mal. Ich merkte, wie sich langsam der äußerste Kreis meines Blickfeldes verdunkelte. Ich musste husten, lief noch schneller. Mittlerweile rannte ich fast. Es war, als berührten meine Füße nicht mehr den Boden, als schwebte ich durch die Straßen. Es wurde immer dunkler. Ich stolperte. Und dann. Nichts. Ich wachte auf, starrte gegen eine Decke.

Sie bestand aus quadratischen Platten mit lauter Punkten darin. Das Weiß war von der Zeit beinahe grau geworden. Ich vernahm ein stetiges Piepen ganz in der Nähe. Mein Puls? Durch das Fenster fiel helles Licht in das sterile Zimmer. Ich war im Krankenhaus. Hastig wollte ich mich aufsetzen, doch mein Kopf tat weh. Ich sah mich um. Mein Bett stand am Fenster. Mir gegenüber befanden sich ein kleiner Fernseher und ein Tisch mit zwei Stühlen. Vermutlich für Besucher. Rechts neben mir stand noch ein Bett. Es war leer. Ich war allein. Was war passiert? Ich konnte mich noch an meinen Sieg über die Ampel erinnern, aber danach war alles weg. Ein

Unfall? Ich griff unter der Decke an meine Beine, um mich zu vergewissern, dass sie noch dran waren. Waren sie. Auch sonst schien ich keine Verletzungen zu haben. Jemand hatte in meiner Ellenbeuge einen Zugang gelegt. Und vom Infusionsständer neben meinem Bett floss irgendeine durchsichtige Flüssigkeit durch einen Schlauch in meine Adern. Was war das? Mein Herz schlug schneller. Mit zitternden Händen berührte ich meine Nase. Fuhr mit den Fingern ihre Konturen ab. Nichts. Keine Magensonde. Vor Erleichterung musste ich kurz auflachen. Ich schlug die grässlich grüne Decke zurück um meine

Beine zu betrachten. Sie waren immer noch deutlich zu dick, schienen aber nicht an Umfang zugenommen zu haben, seit ich sie das letzte Mal angeguckt hatte. Langsam begann mir das Piepen auf die Nerven zu gehen. Ich warf einen wütenden Blick auf den Monitor. Was war passiert? Plötzlich vernahm ich schnelle Schritte und laute, panische Rufe. Ich erkannte die Stimme meiner Mutter. Gott war die hysterisch. Ich starrte auf die gelb lackierte Tür und wartete, bis meine Mutter sie öffnen und mir in die Arme fallen würde. Ich musste nur wenige Sekunden warten. „Schätzchen, was machst du denn für Sachen?“ Mit schmerzhaftem Druck

umklammerte sie meinen Torso. Ich versuchte mit all meiner Kraft ihre Umarmung zu erwidern, konnte aber nicht annähernd so viel aufbringen, wie eine liebende Mutter, krank vor Sorge um ihr einziges Kind. „Mum, was ist passiert?“ Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und ihr verzerrter Blick bereitete mir ein schlechtes Gewissen. Waren das Tränen? „Sie haben mich angerufen. Du bist auf der Straße zusammengeklappt. Einfach so. Gott, Süße, ich hab mir so große Sorgen um dich gemacht!“ Zusammengeklappt. Verwirrt fragte ich, was dieser Aufstand solle. In meinem riesengroßen Unverständnis kam mir

alles vor wie eine riesengroße Übertreibung. Mum musste ein Schluchzen unterdrücken. „Ardee, sie können dich nicht gehen lassen. Der Arzt sagt, deine Blutwerte sind viel zu schlecht. Du bist zu dünn geworden, Mäuschen!“ Ich starrte sie an. Nein. Ich starrte durch sie hindurch. Ich durchbohrte sie. Zu dünn? War dieser Gott in Weiß denn blind? „Ich habe denen gesagt, dass wir es erst mal ohne Sonde probieren. Aber sie wollen dich noch hier behalten. Liebes, du musst, du musst wirklich essen!“ Sie presste die Finger gegen die Schläfen. „Wie konnten wir nur so blind sein? Wir

haben es nicht bemerkt. Wie konnten wir nur…“ Bevor ich auch nur die Chance hatte, sie zu trösten, fing sie sich wieder. Sie atmete tief durch und lächelte mich an. Es war ein falsches Lächeln. „Also Schatz“, sagte sie während sie sich von der Bettkante erhob, sie würde mal Bescheid sagen, dass ich aufgewacht war. Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, stellte meinen Rucksack neben das Bett und verließ dann, hektisch in ihrer Handtasche kramend, das Zimmer. Ich starrte die Tür an, die meine Mutter hinter sich geschlossen hatte. Sie war so hässlich, wie mein

Leben. Einen Tag später ging es mir scheiße. Sie zwangen mich, zu essen. Und wie viel! Ich durfte nicht mal das Bett verlassen, außer, wenn ich aufs Klo musste. Magersucht. So meine Diagnose. Die Ärzte kamen andauernd mit jeder Menge Werkzeug und Fragen. Es langweilte mich. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie viele Kalorien ich wegen dieser Parasiten zu mir nehmen musste. Und abtrainieren war natürlich auch nicht mehr drin. Keiner hier verstand mich und sie wollten es nicht mal. Klar, wenn man immer schon dünn war, hat man selber eben keine Ahnung, wie es ist, jede Hose zu sprengen und

jeden Stuhl unter sich knarren zu hören. Ich konnte nicht schlafen, wegen der Stille in meinem Kopf. Ich redete mit niemandem. Nicht mal mit der netten Krankenschwester, die immer bei den Mahlzeiten bei mir saß und mich beim Essen observierte. Ich nannte sie CIA. Ich konnte mich nicht gegen die Mahlzeiten wehren. Alles musste so hingenommen werden, wie die Ärzte es verordnet hatten. Mal ganz davon abgesehen, dass ich unter Sicherheitsvorkehrungen stand, wie ein scheiß Terrorist, hatte ich auch überhaupt nicht die Kraft, mich gegen irgendjemanden oder irgendetwas zu wehren. Ich wollte an nichts denken,

nichts hören, mit niemandem reden. Meine Mutter hatte ich seit gestern nicht mehr gesehen. Sie war „terminlich verhindert.“ Wie immer. Sie arbeitete in der Marketing-Abteilung eines großen Handy-Konzerns, die Arbeit war ihr Leben. Ein Meeting hier, ein Personalgespräch da, ein mehrtägiges Seminar dort. Ihren Schreibtisch sah sie fast dreizehn Stunden am Tag. Mich höchstens eine. Mein Vater war Bauingenieur bei einer internationalen Firma. Er reiste um die Welt und plante Flüsse, Staudämme und so Zeugs. Das letzte Mal hatte ich ihn in den Sommerferien letztes Jahr gesehen. Geschwister waren mir nie vergönnt

gewesen. Nicht mal eine Schildkröte oder so. Dementsprechend gähnend langweilig war mein zu Hause. Hier im Kinderkrankenhaus war zwar mehr los, spannender war es aber trotzdem nicht. Schreiende Kinder, überforderte Eltern, geschäftiges Personal. Ich saß in meinem Bett, die Beine angewinkelt und sah aus dem Fenster, das dringend nochmal eine Reinigung hätte vertragen können. Die Bäume, langweilig. Die Wolken, deprimierend. Der Himmel, nicht zum aushalten. Ich schwang meine Beine aus dem Bett und saß eine Weile auf der Kante, um meinen Kreislauf zu regulieren. Zum

Glück hatte ich diese furchtbare Krankenhausuniform ausziehen, und mir dafür meine karierte Pyjama Hose und ein weites Sweatshirt meiner High School anziehen dürfen. Die Hose schlabberte überall. Vielleicht sah ich so wenigstens dünner aus. Meine Lieblingsschuhe standen auf der Fensterbank. Rote Chucks. Langsam stand ich auf. Mein Ziel: die Schuhe. Uns trennte nur ein Schritt. Meine Beine zitterten. Sofort wurde mir schwindelig. Ich hielt mich am Vorhang fest und schloss die Augen. Das hatte ich oft in letzter Zeit. Während ich wartete, dass es besser wurde, zählte ich die ersten

Primzahlen auf, bis ich wieder vernünftig gehen konnte. Ich brauchte vielleicht zehn Sekunden. Dann schnappte ich die Schuhe und schlüpfte hinein. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, sie zuzubinden. Als ich mich in Richtung Tür bewegen wollte durchfuhr mich ein Schmerz an meinem linken Arm. Shit, der Zugang. Wütend sah ich den Infusionsständer an. Aber, irgendwie tat er mir leid. Er sah aus, als wollte er auch endlich mal dieses öde Zimmer verlassen. Deswegen, und weil ich dummerweise auf ihn angewiesen war, griff ich ihn mit der rechten Hand und führte ihn behutsam zum Spiegel neben der Badezimmertür.

Ich sah aus wie geschlagen. Meine Haut war leichenblass und ich hatte dunkle Ringe unter meinen honigbraunen Augen. Ich war ungeschminkt, auch wenn das kaum einen Unterschied machte, weil ich sonst auch nur Wimperntusche zum Verschleiern der Wahrheit benutzte. Die roten Locken hatte ich von meinem Dad, der blöde Ire. Aber sie waren schon lange nicht mehr so rot und so lockig wie früher. Sie waren dick und flossen hinab bis zur Mitte meines Rückens. Ich hatte keine Lust sie zu kämmen, für wen denn auch? So tief war ich dann doch noch nicht gesunken, dass ich einem zweijährigen

Hosenscheißer schöne Augen machen musste. Der Infusionsständer gefiel mir besser als ich. Ich betrachtete uns im Spiegelbild. Ich hatte diesen Jungen in meiner Stufe, der etwa die gleiche Schulterbreite hatte, wie mein Infusionsständer. Er hieß Larry. Ich beschloss, das wunderbare Geschöpf zu meiner Rechten ebenfalls Larry zu taufen. Ja, der Name erschien mir passend. Ich wusste, dass ich das Zimmer eigentlich nicht verlassen durfte, aber auf dem Flur schlug ich CIA mit den Schwächen, die ihr Beruf eben mit sich brachte. Mitleid und Kinderliebe. Also

war ich frei, Larry und mich von Station 3 in einen großen Flur zu bugsieren. Zum Glück klapperte er nicht, wie viele andere alte Gestelle dieser Art, so dass ich nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf mich zog. Die Ärzte, die wichtig aussahen, oder sich dafür hielten, würdigten mich sowieso keines Blickes. Das kannte ich schon. Im Zimmer waren sie nett zu dir, aber eigentlich warst du nur eine Zahl, eine Akte unter vielen, die sie nach der Visite sofort wieder vergaßen. Konnte man ihnen aber auch nicht übel nehmen. Die Bewegung tat gut, auch wenn sie für eine aktive Kalorienverbrennung bei weitem zu lahm war. Ich schlurfte also

durch den breiten Gang des städtischen Kinderkrankenhauses, mit den Augen, die Muster des Teppichbodens verfolgend. Ich war so vertieft in die Verzweigungen, dass ich auf nichts anderes achtete. Auch nicht auf die Glastür direkt vor meiner Nase. Ich, tollpatschig wie immer, lief genau dagegen. Ouch. Ich wurde rot und hoffte, dass das niemand gesehen hatte. Doch plötzlich hörte ich hinter mir ein Kichern. Ausgelacht zu werden war für mich schon lange nichts Neues mehr. Also drehte ich mich nicht um, sondern machte einen jämmerlichen Versuch, die

schwere Tür zu öffnen. Ging natürlich nicht. Dieser ätzende Jemand hinter mir gluckste immer noch. „Du musst hier draufdrücken“. Die Stimme war tief. Und irgendwie warm. Aber auch nur irgendwie. Verlegen drehte ich mich um. Da stand ein Junge, vielleicht ein bisschen älter als ich. Ziemlich groß, schlank, aber sicher sportlich. Auf jeden Fall hatte er breitere Schultern als Larry. Seine kurzen, hellbraunen Haare ragten senkrecht von seinem Kopf empor, wie die Skyline von New York. Sein Blick war offen, freundlich. Obwohl er immer noch über mein Fauxpas mit der Tür grinste. Ich konnte seine Augenfarbe auf

die Entfernung nicht erkennen, aber sie waren groß und sahen ehrlich aus. Er sah mich fragend an und deutete auf den Türöffner neben ihm. Ich nickte. „Ja danke.“ Murmelte ich. Er sah weder besonders gut, noch besonders schlecht aus. Einfach natürlich. Er war schlicht gekleidet. Jeans, graues T-Shirt, eine geöffnete Jacke, die aussah wie von einem Football Verein. Schnell wandte ich den Blick ab und trat ein paar Schritte in seine Richtung, um nicht auch noch von der gerade aufgehenden Tür erschlagen zu werden. Ich richtete meinen Blick wieder auf den Boden. Versuchte ihn zu ignorieren. Mein Blick fiel auf seine Schuhe.

Dunkelblaue Chucks. Ich musste unwillkürlich Lächeln. Und obwohl ich ihn nicht sah, wusste ich, dass er diese Geste erwiderte. Als die Tür weit genug geöffnet war, dass ich mit Larry hindurch passte, versuchte ich möglichst schnell das Feld zu räumen. Er schien mir zu folgen. „Hey“ rief er. „Scharfes Gerät“. Verdattert drehte ich mich um und starrte ihn ungläubig an. Sein Grinsen wurde breiter. „Also eigentlich mein‘ ich deinen rostigen Begleiter da mit dem Beutel drin.“ Erklärte er amüsiert und deutete auf Larry. „Infusionsständer“, korrigierte ich ihn.

Irgendwie war sein Lachen ansteckend, ich hielt mich zurück. „Ja ziemlich heißes Teil. Und hey, ihr habt ungefähr die gleiche Statur“, er zwinkerte und fand wohl, dass er grade einen ganz besonders guten Witz gemacht hatte. Ich erstarrte. Für ein paar Sekunden hatte er dafür gesorgt, dass ich meinen Körper und meine Gedanken ans Essen für eine Weile hatte vergessen können. Und jetzt gab mir dieser Dreckskerl alles doppelt zurück. Wieso hatte ich überhaupt angefangen mit ihm zu reden? Er war kein bisschen besser als alle anderen. Die großen Türen schwangen hinter uns wieder zu.

„Idiot“, knurrte ich, bevor ich mich abwandte und mich davon machte. Tränen stiegen mir in die Augen. Wieso hatte er das bloß gesagt? „Warte doch mal! Hey, ich, ich wollte dich nicht verletzen.“ Er lief mir vor die Füße und ging in meinem Tempo rückwärts, so dass ich ihn angucken musste. Ich antwortete nicht. Sein Grinsen war fast schon provokant. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund störte es mich nicht. Oh, wow, ich mochte das Grinsen eines Arschlochs. „Okay, okay, Mädchen mit dem scharfen Infusionsständer. Vielleicht hat sie doch ein paar mehr Muskeln als du.“ Er blieb

stehen. Ich zwangsläufig auch. „Aber du“, er zeigte ausladend mit seiner großen Hand auf mich, „hast viel schönere Augen.“ Ich musste lachen. Der Typ hatte sie nicht mehr alle. Sein Lachen hatte etwas Warmes, Herzliches. Es machte mir Angst. „Es ist ein Er“, berichtigte ich diesen seltsam anmutigen Kerl und sah gespielt beleidigt zu Larry. Er sah ungläubig von mir zu dem Ding, das mich mit Flüssigkeit vollpumpte, und wieder zu mir. „Oh ja, klar, selbstverständlich. Wie konnte ich das bloß übersehen." Ironie, glaubte ich. Auch wenn diese schon immer eine meiner größten Schwächen

gewesen war. Seine Augen waren braun. Dunkelbraun, wie ein tiefer, überwachsener Wald an einem Herbstabend. Sie waren das schönste an ihm. Gleich nach seinem schiefen Lächeln. "Wie heißt du?" Sein Interesse wirkte echt. Ich war unsicher. Sollte ich diesem ehrlich fragwürdigen Jungen, der mich innerhalb einer Minute verletzt und zum Lachen gebracht hatte, meinen Namen sagen? Ich verstand nicht, wieso ihn das überhaupt interessierte, Seit Monaten hatte mir kein Typ mehr einen anderen Blick als den voller Abscheu zugeworfen. Erwartungsvoll zog er die Augenbrauen hoch. Noch ein

Lachen. "Ardee", entgegnete ich schließlich. Wir mussten ein Stück zur Seite gehen, weil grade ein ziemlich dicker Junge mit Problemhaut in einem Krankenhausbett vorbeigeschoben wurde. Ich blickte ihm nach. Er sah krank aus. Ich bestimmt auch. Seine Stimme lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn, der mittlerweile lässig an der Wand lehnte. Einen Fuß an der Raufasertapete. "Ardee." Es war als würde er mit sich selber reden. Ich genoss wie er meinen Namen aussprach und hätte mein Gehirn dafür am liebsten geschlagen. Plötzlich wurde mir klar wie ich eigentlich aussah.

Wenn ich Glück hatte ging ich als bessere Vogelscheuche durch. Und wenn schon. Wem sollte ich denn gefallen? Mister Ich-hab-einen-Lachnerv-eingeklemmt von der Geschlossenen etwa? "Woher kommt der?" Fragte er mit neugierigem Blick. Er betrachtete meine Haare, die sicher in alle Richtungen abstanden. Naja, seine ja auch. Wenigstens ein kleiner Trost. Vom langen Stehen wurde mir schwindelig. Ich schüttelte den Kopf. Keine gute Idee. "Was?" Ich hatte vergessen worüber wir geredet hatten. Als wäre es das natürlichste auf der Welt wiederholte er

seine Frage mit unübersehbarer Geduld. "Dein Name. Der ist schön. Woher kommt der?" "Oh. Das, das ist ein Dorf in Irland. Meine Eltern haben sich da kennengelernt." Meine Stimme war fest und hart. Kalt. Tiefe Abneigung. Jeder Andere wäre schon längst wieder abgehauen. Normalerweise erfüllte meine ablehnende Art ihren Zweck, alleine gelassen zu werden. Aber der hier war ganz schön penetrant. Gut, dann eben härtere Geschütze auffahren. Ich räusperte mich und sah bedeutungsvoll zu seinem Fuß an der Wand. „Den solltest du vielleicht da runter

nehmen. Die stehen hier nicht so auf willkürliche Beschmutzung von städtischem Eigentum.“ Er sah mich unverwandt an. Es wurde langsam unangenehm. Bestimmt wurde ich rot. Ich sah zu Boden. Wie immer. Wieso ging er nicht einfach? Er sollte gehen, wie alle anderen es auch immer taten. „Wieso bist du eigentlich hier? Du wirkst nicht grade krank oder so.“ Desinteresse. Nicht, dass er noch dachte ich würde mich ernsthaft dafür interessieren. Er kam sowieso von der Psychiatrischen. Anders konnte ich mir seine vollkommen unpassende Anwesenheit an diesem deprimierenden Ort nicht erklären. Wie Obama in irgendeinem

indischen Slum. „Mein Bruder hat sich den Oberschenkel angeknackst. Der liegt da drüben.“ Er deutete auf den vierten Flur, direkt neben meinem. Dabei strecke er seinen Arm ziemlich schnell, ziemlich unerwartet und ziemlich nah an meinem Gesicht vorbei. Oh nein. Schnelle Bewegungen. Augen zu. 2, 3, 5, 7, 11. „Hey, alles okay?“ Besorgt. Ich klammerte mich am Infusionsständer fest. Vage spürte ich seine Hand auf meiner Schulter, hatte aber nicht die Kraft sie runter zu stoßen. 13, 17, 19. Es wurde besser. „Ja“, sagte ich leise, die Augen

vorsichtshalber noch immer geschlossen, „schätze ich.“ Er nahm die Hand von meiner Schulter und verschränkte die langen Arme vor seiner Brust. Dabei warf seine Jacke Falten, so dass das M vorne auf der linken Seite nun mehr aussah wie die Kinderzeichnung eines halben Hauses. „Und du? Was machst du hier?“ Er ließ mich also immer noch nicht gehen. Ich würde es ihm ganz sicher nicht erzählen. Das ging ihn überhaupt nichts an. Ich wand mich, spielte mit dem Gedanken einfach wegzugehen. Aber irgendwas hielt mich ab. Also log ich. „Ich häng' hier nur so ein bisschen rum“, antwortete ich ganz beiläufig. Er

lächelte überlegen. Als hätte er mich durchschaut. Ich erwiderte seinen Blick. „Achso. Und den hier“, er deutete auf Larry, „ haben sie dir gratis mit dazu gegeben, was?“ Wir starrten uns an. Ich würde nicht nachgeben. Mir war klar, dass er Bescheid wusste, auch wenn mir der Grund seines Interesses absolut unschlüssig war. Ich zog die Augenbrauen hoch. Er tat es mir gleich. Er wusste es. Und trotzdem sprach er es nicht aus. Oder vielleicht auch grade deswegen.

2. Kapitel

Er hieß Josh. 18, war vor zwei Monaten mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder hierher gezogen. Offenbar besuchte er dieselbe High School wie ich, war aber für die ersten Wochen „aus persönlichen Gründen“ frei geschrieben worden, was erklärte, wieso ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er war eine Stufe über mir und das „M“ auf der Jacke, die er getragen hatte, war eine Erinnerung an das Footballteam seiner alten Schule, in dem er Bälle und Gegner als Pitcher über das Feld gejagt hatte. Viel mehr wusste ich nicht über ihn. Nur das Wenige, und, dass er einen

dunkelblauen, uralten Pick-Up fuhr, den er – halb Auto, halb Ersatzteillager – für einen Spottpreis ergattert und im letzten Sommer wieder zum Laufen gebracht hatte. Auch zwei Tage nach unserem skurrilen Aufeinandertreffen, hatte ich sein Problem mit dem Lachen immer noch nicht so ganz gelöst. Es gefiel mir, auch wenn ich es nicht verstand. Josh ging mir nicht aus dem Kopf. Er füllte die Leere und die Stille meiner Gedanken. Vielleicht hab ich damals schon geahnt, dass ich ihn nicht immer so ätzend finden würde, wie ich vorgab. Wahrhaben wollte ich es aber sicher

nicht. Ich fühlte mich prädestiniert einsam zu sein. Abgeschottet von der Außenwelt, eingepfercht im dichten Gestrüpp der dunklen Tage meines nutzlosen Lebens. Und sogar dieses eine letzte Privileg, das alleine sein, nahm mir das Krankenhaus nach wenigen Tagen. Gegen 4 am Freitag schoben sie mir eine voll-pubertierende 13 Jährige ins Zimmer, mit der berühmt-berüchtigten Schwäche für schlechte Musik a la Justin Bieber und die Rücksichtslosigkeit, alle Anwesenden mit dem Mist zu beglücken. Was ich bei den Visiten mitbekam, war, dass sie irgendwelche Brandblasen auf den

Beinen bekommen hatte, nachdem sie aus dem Urlaub in Florida zurückgeflogen war und die jetzt ihre Beine bedeckten, wie Robben eine Sandbank. Wir redeten nicht miteinander. CIA war glaub ich ganz zufrieden mit meinem Essen. Ich tat es einfach. Ohne viel nachzudenken. Das würde mich kaputt machen. Ich wusste, dass ich ein Problem hatte und dass ich mich dem irgendwann stellen musste. Aber grade war ich noch hier um mich aufpäppeln zu lassen, wie ein Schwein kurz vor dem Halt bei Endstation Schlachter. Solange füllte ich meinen Schädel mit Büchern, jede Menge Bücher. Hauptsächlich Science-Fiction Wahnsinn.

Ab und zu schweiften meine Gedanken auch zu Josh, auch wenn ich ihn wahrscheinlich sowieso nie wieder sehen würde. Einmal kam meine Mutter, um mir von dem „dringenden Rat“, also Befehl, meines behandelnden Arztes zu erzählen, mich psychologisch behandeln zu lassen, sobald die Mästung hier vorbei war. Ich überzeugte sie selbstsicher von der Idee, dass ich das alles alleine wieder hinbekommen würde. Auch wenn ich mir da vielleicht doch nicht so verdammt sicher war, wie ich es sie glauben ließ. Da sie sowieso viel zu tun hatte, begann sie gar nicht erst eine große Diskussion und teilte dem

Doktor meinen – und ihren - Entschluss mit, den dieser mit kritischem Blick und einem verständnislosen „wie Sie meinen“ akzeptierte. Einmal rief sogar mein Vater aus Südafrika an und erzählte mir von seinem neuen Flussprojekt. Wir wünschten uns gegenseitig viel Erfolg. So, wie sich Fremde einen schönen Tag wünschten. Freitagabend informierte mich CIA, dass ich am Sonntag entlassen werden sollte, insofern ich solange vernünftig aß. So war das erste Wort, das ich an sie richtete, ein tonloses Dankeschön. Miss Bieber rechts neben mir, die, wie ich glaubte Jenny hieß, hatte täglichen

Besuch von ihren Eltern und Geschwistern. Sie brachten ihr Zeitschriften, Süßigkeiten und den neuesten Klatsch von ihren Freundinnen und deren Mackern. Ich tat natürlich so, als wäre ich nicht neidisch und verbarg mich hinter dem Hobbit, den ich grade eifrig verzehrte, oder meinem Handy, auf dem Candy Crush hoffentlich den Anschein gab, als gäbe es in meinem Leben Freunde, mit denen ich virtuelle Satzzeichen austauschte. Mir war zum heulen zu Mute. Joshua Pittman besuchte mich am Samstag um elf. Als er an dem verregneten Morgen auf einmal mit einem Strauß orangener Mohnblumen in

der Tür meiner Zelle stand, schien ich wohl so verdattert zu gucken – und Jenny bestimmt auch - , dass er ein Lachen nicht unterdrücken konnte. Während er die Tür schloss und sich meinem Bett näherte, teilte er mir belustigt mit, dass er sich gedacht hatte, mir könnte hier vielleicht langweilig werden. „Eigentlich hab ich ziemlich viel Besuch“, log ich. Jenny gluckste. Blöde Schnepfe. Er ignorierte sie völlig, als wäre sie gar nicht da. Als er direkt neben meinem Bett stand, setzte ich mich etwas auf und winkelte die Beine an, die immer noch in derselben Pyjamahose steckten, diese

aber mittlerweile schon, sehr zu meinem Zorn, etwas mehr ausfüllten. Er reichte mir die Blumen, wobei er wohl sehr darauf bedacht war, keine ruckartigen und schnellen Bewegungen mehr in meiner Nähe zu machen. Ich nahm sie. „Die sind schön“, bedankte ich mich, ohne ihn anzusehen. Ich spürte, wie mir warmes Blut in die Wangen schoss, das mich erröten ließ. Mir hatte noch nie ein Junge Blumen geschenkt. „Wie geht es dir?“ Er lehnte gegen der Fensterbank und beobachtete mich aufmerksam dabei, wie ich die Blumen in ein Glas mit Wasser stellte. Eigentlich hätte ich das trinken sollen. Er trug ein dunkelrotes Langarmshirt,

das seine muskulösen Arme und Schultern betonte, und beige Cargohosen. An seinen Füßen steckten dieselben Chucks, er schien aber dieses Mal mehr Zeit und Mühe in seine Haare investiert zu haben, als bei unserem ersten Aufeinandertreffen. Er sah gut aus. Wahrscheinlich hatte er nachher noch was vor. Ich natürlich nicht. „Spitze“, gab ich zurück und lächelte kurz ironisch in seine Richtung. „Hast du heute noch was vor“, fragte ich und betrachtete dabei auffällig seine Kleider und Haare. Er verstand meinen Blick. „Du meinst deswegen?“ grinste er und zeigte mit einem Finger auf seine Frisur. Ich sah ihn nur an. „Naja, ich dachte mir

nur, für einen Mann gehört es sich, gut auszusehen, wenn er einem hübschen Mädchen Blumen schenkt.“ Oh Gott. Schnell wandte ich den Blick auf meine Decke. Hatte er mich grade wirklich hübsch genannt? Hübsch? Mich? Er lachte wieder und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. „Ardee, hast du Lust mit mir spazieren zu gehen?“ Er schob meinen Infusionsständer, als wäre es das normalste auf der Welt. Er sagte auf der Station Bescheid, dass wir „mal eben weg“ seien und CIA nickte wissend. Gott, war das peinlich. Wir unterhielten uns, oder besser gesagt er unterhielt mich, über Football, Autos und

den Unfall seines Bruders, der beim Streichen des Wohnzimmers von der Leiter gefallen war. Ich war unglaublich froh ihn zu sehen. Er schaffte es, mich auf ganz natürliche Weise abzulenken und zu entspannen. Außerdem gab er mir das Gefühl, ein ganz normales Mädchen zu sein. Es war ein schönes Gefühl. Unser „Spaziergang“ reichte nur bis zum Krankenhausspielplatz. Ich setzte mich auf eine Bank und Josh nahm, nachdem er Larry behutsam links von mir abgestellt hatte, neben mir Platz. Wir betrachteten ein kleines Mädchen in pinker Regenjacke, das von ihrer Mutter auf einer Schaukel angeschubst wurde.

Unbeschwert. „Wie heißt du?“, fragte er mich unvermittelt. „Das weißt du doch schon,“ ich war verwirrt. Er lächelte. „Ich meine, wie ist dein ganzer Name?“ Seine Augen hatten so ein Funkeln, das es mir quasi unmöglich machte, den Blick abzuwenden. „Ardee Rose Henderson“, antwortete ich. Ein weiteres schiefes Lächeln, ließ die mit Zeit und Schmerz errichteten Mauern um mein Herz ein kleines bisschen mehr bröckeln. „Erzähl mir was von dir, Ardee Rose Henderson.“ Ich weiß heute nicht mehr, was mich in diesem Moment bewog, Josh die

Wahrheit zu erzählen. Aber ich tat es einfach. Ich erzählte ihm von meinem Hass gegen meinen Körper, von dem Hungern, mit dem ich mich bestrafte. Von den ständigen Workouts, dem unaufhörlichen Kalorienzähler, der mittlerweile schon fester Teil meines Gehirns geworden war, von meinem Verlangen nach dem Schlank-Sein, meinem Ekel vor meinem eigenen Körper. Einfach alles. Ich hatte mich selten so befreit gefühlt, wie jetzt. Jetzt, wo ich alles rausließ. Und so begann ich, die Einsamkeit zu bekämpfen. Es regnete, als ich am Sonntagmittag das städtische Kinderkrankenhaus verließ. Es war viel los heute, Besucher

kamen, Patienten wurden entlassen oder für das Wochenende nach Hause geschickt. Mit schnellen Schritten ließ ich das grässliche alte Gebäude hinter mir. Ich genoss meine neugewonnene Freiheit und die Bewegung war wie eine Erlösung, auf die ich schon sehr lange gewartet hatte. Erst heute morgen hatte ich mit einer Ernährungsberaterin im Krankenhaus gesprochen. Zusammen hatten wir einen Ernährungsplan zusammengestellt, an den ich mich strikt zu halten hatte. Auch wenn ich während des Gespräches unaufhörlich durch Nicken und Bejahen meine Zustimmung bekundet hatte, hatte ich nicht wirklich vor, mich an den Plan zu halten. Ganz

sicher würde ich jetzt nicht aufgeben. Nicht nach all der Mühe. Ich lief in Richtung Parkplatz, auf dem ich mich mit Mum verabredet hatte. Ich war spät dran, sicher wartete sie schon irgendwo. Doch so sehr ich mich auch umsah, so viele Runden ich auch um den riesigen Parkplatz drehte, sie war nicht da. Auch dann nicht, als ich nach einer Stunde Regen völlig durchweicht am Straßenrand stand. Mir wurde klar, dass sie nicht kommen würde. Dass niemand kommen würde, um mich abzuholen. Ich blieb einfach im Regen stehen. So konnte wenigstens niemand meine Tränen sehen. Der Himmel brach und die ungeheure Schwere des Regens drückte

mich zu Boden. Ich ließ mich auf den überschwemmten Gehweg sinken. Ich wurde Teil eines Meeres, das bedingungslos fiel. Nur in eine Richtung. Der Regen war immer stärker geworden. Durch seinen Vorhang hörte ich, wie Schritte auf dem nassen Asphalt immer lauter wurden und schließlich vor mir zum stehen kamen, doch ich machte mir nicht einmal die Mühe aufzublicken. „Du willst doch nicht wirklich den ganzen Tag alleine hier herumsitzen.“ Josh. Er grinste mich an und hielt mir seine Hand hin. Ich war so froh ihn zu sehen, dass ich für einen Moment meine sonst so stabile Distanz zu den Menschen vergaß und seine Hand ergriff.

Es fühlte sich toll an, doch als ich vor ihm stand, entzog ich sie ihm schnell wieder. Wir liefen durch den Regen zu seinem Auto. Er hielt mir die Tür auf und ich kletterte vor ihm in die Kabine des Fahrerhauses.

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Talisa

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Vali1309 Mein Respekt für diesen Text. Normalerweise bin ich nicht der Fan von andeutenden Liebesgeschichten, aber deine Geschichte fesselt mich am Stuhl. Echt spitzen Buch. Freue mich schon auf die Fortsetzung (ich hoffe sie kommt schon bald).
Vor langer Zeit - Antworten
Talisa Dankeschön :*
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Arleescha Das Leser-Problem mit langen Texten kenne ich ;) aber hey! Dein Text ist sowas von Lesenswert! Ich bin eigendlich kein großer Fan von Texten mit moderner Sprache, aber dein Text liest sich super und ist echt gut geschrieben :) werde gleich mal weiterlesen ;)
LG
ACS
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Talisa Das freut mich sehr Dankeschön :)
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DoktorSeltsam Pretty good stuff! Und dass jemand die elementaren Regeln der Grammatik beherrscht, findet man hier auch nicht so oft, wie man glauben mag. Ich habe noch nicht den ganzen Text gelesen. (Kleiner Tipp: Ist immer ein Problem, wenn Texte zu lang sind, dann fühlen sich viele Leute abgeschreckt.) Aber ich verspreche, dass ich das noch tun werde. Auf jeden Fall kannst Du schreiben, und das ist schon mal eine ganze Menge! Keep on keepin' on!

Dok
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Talisa Vielen Dank!
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